Transkript
GYNEA – Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie
Anorexie bei Mädchen und Auswirkungen in der Jugendzeit
Psychotherapeutische und jugendgynäkologische Aspekte
Als Frauenärztinnen und -ärzte sind wir bei jungen Mädchen immer wieder mit Essstörungen konfrontiert. Wir sind nicht selten die ersten oder gar einzigen Ansprechpartner, insbesondere wenn Amenorrhö als Symptom im Vordergrund steht. Wichtig sind Früherkennung zur Verhinderung einer Chronifizierung sowie eine langfristige Begleitung. Die Autorinnen geben aus zwei Fachdisziplinen Behandlungsempfehlungen, darunter zur Hormontherapie.
Ruth Draths, Bettina Isenschmid
In diesem Artikel möchten wir – aus Sicht der Jugendgynäkologie und der Psychotherapie – versuchen, das Verständnis für diese oft schwierigen und vulnerablen Patientinnen zu wecken sowie mögliche Behandlungsansätze zu skizzieren. Neben der Früherkennung möchten wir ermutigen, den chronisch kranken Anorektikerinnen auch langjährig beizustehen, sie bei Rückfällen zu begleiten und zu versuchen, die schwersten Pathologien zu verhindern.
Merkpunkte
n Anorexie hat die höchste Mortalität aller psychischen Erkrankungen und schwere somatische Folgeschäden.
n Die Früherkennung und rasche Hilfestellung sind von grosser Bedeutung.
n Eine Hormonersatztherapie kann bei chronischen Verläufen und guter Kooperation im interdisziplinären Team sinnvoll sein.
n Die Hormontherapie erfolgt mit reinem bioidentischem Estradiol, am besten transdermal, bis zum Tannerstadium B4 und Endometriumaufbau, erst dann zyklisch mit Gestagen.
n Eine Pille ist keine Hormonersatztherapie und soll bei Anorexie nicht zur Zyklusregulation gegeben werden.
Zum Beispiel: Linda (Fallvignette)
Linda begann mit 13 Jahren – bei damals 48 kg Körpergewicht – bewusst ihr Gewicht zu reduzieren. Rückblickend meint sie, es sei zu Beginn eine «gesunde Diät» gewesen. Dann habe sie realisiert, wie erfolgreich sie das Gewicht senken konnte und verlor innerhalb kurzer Zeit 13 kg. Bei einem Tiefstgewicht von 35 kg wurde sie ins Kinderspital eingewiesen und – nach leichter Gewichtszunahme und somatischen Stabilisierung – in die Kinder- und Jugendpsychiatrische Therapiestation verlegt. Innerhalb von 6 Monaten konnte sie das Gewicht wieder auf 43 kg steigern, nach der Entlassung nach Hause verlor sie jedoch erneut an Gewicht. Seither (seit 3 Jahren) stagniert sie bei diesen knapp 40 kg (bei 160 cm Grösse, BMI 15,5). Seit Erkrankungsbeginn vor 3 Jahren ist sie amenorrhoisch. Eine hormonelle Therapie hat bisher nicht stattgefunden, auch keine jugendgynäkologische Beratung. Linda ist eine gute Schülerin, besucht das Gymnasium und joggt regelmässig – alleine. Die Eltern sind seit 3 Jahren getrennt. Sie hat keinen Freund und kein Interesse an Verhütung. Mit der Mutter gebe es oft Streit wegen des Essens, sie isst dann lieber alleine. Sie trifft sich kaum mit Freunden, denn sie habe dafür, wie sie meint, keine Zeit. Die Jugendliche hat seit längerem die psychologische Therapie abgebrochen, ist auch nicht mehr beim Hausarzt angebunden. Linda findet: «Mein Körper ist jetzt gut so mit 40 kg, ich esse ganz normal. Ich möchte aber auch, dass die Mens wieder kommt, damit alles normal ist.»
Ärztliche Fragestellungen Hier stellt sich die Frage: Wie können wir Linda helfen? Was bedeutet die langjährige Amenorrhö, wie stehen die Risiken? Und: Gibt es für sie eine Chance, die Essstörung zu überwinden? Als beratende Ärztinnen und Ärzte muss uns bewusst sein, dass die meisten Betroffenen die Erkrankung negieren oder bagatellisieren und sich als gesund beschreiben oder auch wahrnehmen. Hingegen besteht bei Linda gemäss Definition immer noch eine schwere Anorexie (1) mit schlechter Prognose für die längerfristige Gesundheit und für ihre Lebenserwartung (Tabelle 1).
Die Früherkennung
Häufig gehen der eigentlichen Essstörung Warnzeichen voraus: Neben der Zyklusstörung zum Beispiel Sorgen über ein angebliches Übergewicht bei Normalgewichtigen, gastrointestinale Störungen ohne eindeutige medizinische Ursachen (z. B. unspezifische Bauchbeschwerden, Obstipation, Verstopfung, Unverträglichkeiten oder Blähungen, welche mit Nahrungskarenz behandelt werden). Teilweise handelt es sich auch um Kinder und Jugendliche mit Wachstumsverzögerung oder Leistungssportlerinnen mit Leistungsabfall. Dabei hat die Dynamik der Essstörung häufig bereits begonnen und präsentiert sich mit verschiedenen Symptomen (4). So kann es etwa schon zur Ausbildung eines Untergewichts mit Mangelernährung und konsekutivem Ausfall der Menstruationsblutung oder anderen körperlichen Störungen gekommen sein. Typischerweise besteht eine Angst vor Gewichtszunahme und Kontrollverlust – es können Essattacken mit nachfolgendem Kompensationsverhalten, vor allem Erbrechen oder zur Einnahme von Abführmitteln aufgetreten sein. In jedem Fall wird der Selbstwert fast ausschliesslich über Figur und Gewicht definiert; funktional kann die Patientin ihre Angst vor Entwertung so kontrollieren. Deshalb wird sie sich wohl primär gegen eine Gewichtszunahme und auch gegen psychotherapeutische Massnahmen wehren. Dies würde in ihren Augen einer Niederlage entsprechen, und dies würde gleich-
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gesetzt mit Kontrollverlust und Versagen (Abbildung 1). Auch bei betroffenen Sportlerinnen (im Breiten- und Leistungssport) finden sich ähnliche Kognitionen, nur wird dort anstelle oder zusätzlich zum Fasten und Erbrechen die körperliche Aktivität als kompensatorische Strategie missbraucht. Es besteht ein Erledigungszwang, bei Auslassen eines Trainings entsteht intensive Angst vor Kontrollverlust und Gewichtszunahme, sodass auch bei Verletzungen oder zunehmender Entkräftung ein immer höheres Mass an körperlicher Aktivität benötigt und toleriert wird. Andere Interessen wie auch das Sozialleben werden zunehmend vernachlässigt. Dies kann mittel- bis langfristig zu einem totalen körperlichen Zusammenbruch führen – unter Umständen mit Lebensgefahr. Für uns betreuende Fachleute bedeutet dies, Auffälligkeiten bei Ess- und Bewegungsverhalten sowie bei der körperlichen Selbstbewertung sorgfältig zu beobachten, unbedachte Äusserungen zu Gewicht und Figur zu unterlassen und sich stattdessen langsam und sorgfältig an das Thema heranzutasten. Vorschnelles Interpretieren oder aggressives Ausfragen erzeugt eher Widerstand. ➜ Dabei sollen keine rigiden Ernäh-
rungsregimes vorgegeben werden, individualisierte Betreuung und Pläne sind viel besser geeignet. Der Missbrauch von Laxantien oder anderen Substanzen und induziertes Erbrechen sollen so rasch wie möglich gestoppt werden.
Vorgehen in der Praxis
Auf keinen Fall soll einfach abgewartet und nichts unternommen werden. Die vermutlich Betroffene muss respektvoll und unter vier Augen angesprochen werden, eigene Beobachtungen und Vermutungen sollen mitgeteilt werden. Es gilt, der Betroffenen die aktuellen Befunde und die mögliche zukünftige Entwicklung mit Risiken und Prognose einfühlsam mitzuteilen, gleichzeitig sollten jedoch Wege zur Gesundung aufgezeigt und Begleitung und Hilfe zugesichert werden. Die psychologische Betreuung steht im Vordergrund und soll unbedingt einsetzen, auch wenn die Betroffene ihre
Tabelle 1:
Bedeutung der Anorexie in der Jugendzeit
(In Anlehnung an Quellen 2, 3)
n Anorexie hat die höchste Mortalität aller psychischen Erkrankungen. n Die Letalität beträgt 5-6%, nach 20 Jahren: 15%, davon ein Drittel durch Suizid. n Die Anorexie wird sehr oft chronisch: Nach 20 Jahren sind nur 50% geheilt, die 35% Chronischkranken
zeigen meist einen schlechten Verlauf. n Je früher die Diagnose gestellt wird und die Therapie beginnt, desto besser ist die Prognose.
Kreislauf der Essstörung
Perspektive der Betroffenen Selbstwert fast ausschliesslich definiert über Figur und Gewicht
Gezügeltes Essverhalten/ Fasten
Langfristig: Niedergeschlagenheit, Wertlosigkeit/Schwäche
Körperliche/psychische Veränderungen Eingeengtes Interesse Angst vor Gewichtszunahme selbstabwertende Gedanken
Restriktive Anorexie
Stolz auf Gewichtsreduktion und Selbstkontrolle
Bulimie b. Anorexie
Essattacke ➞ Beruhigung, Spannungsreduktion
Kurzfristig: Hochgefühl, «Rausch»
● Scham über Kontrollverlust
● Angst vor Gewichtszunahme
«Purging»-Verhalten (Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln etc.) Abbildung 1: Kreislauf der Essstörung (4)
Essstörung noch nicht zugeben und Hilfe noch nicht vollumfänglich annehmen kann. Versuchen Sie, die Betroffenen nicht nur auf ihre Essstörung zu reduzieren, sondern vor allem auch die noch gesunden Anteile anzusprechen und zu stärken, sodass eine Kooperation im Interesse der Genesung entstehen kann. Hier ist das Wissen um die Funktionalität der Krankheit eine unverzichtbare Grundlage: Mit Hilfe des magersüchtigen Verhaltens schaffen sich die Betroffenen einen Schutzraum gegen die Angst vor Ungewissheit, Abhängigkeit und Identitätsverlust. Diesen Ängsten sind wir grundsätzlich alle ausgesetzt, letztlich ist aber die Konfrontation mit diesen die Triebfeder für jede Entwicklung. Solange jedoch die Magersucht diese Konfrontation vermeidet, ist jede weitere Entwicklung blockiert. Die Erkrankten stagnieren – unter Umständen bis in den Tod. Wenn wir jedoch auch als Fachleute unsere eigenen Ängste kennen und aushalten können und diese Seite in unse-
ren Patientinnen ansprechen können, so kommt es zu einem echten emotionalen Verstehen; das fruchtlose Ringen um Macht entfällt zugunsten einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung (5).
Einbezug der Familie Bei minderjährigen Patientinnen ist oft der Einbezug der Eltern erforderlich, dieser sollte jedoch nie hinter dem Rücken der Betroffenen, sondern immer mit ihrer Zustimmung erfolgen. Die Familie ist oft genauso in einer Spirale von Besorgnis, Angst, Wut und Trauer gefangen wie die Patientin selbst. Die Krankheit kann einem familiären System die ganze Energie aussaugen, sodass die Bedürfnisse des Elternpaares wie auch der anderen Kinder zu kurz kommen. Hier braucht die Familie gegebenenfalls Ermutigung und Unterstützung für eine bessere Selbstfürsorge. Wie bei Linda sehen wir häufig Jugendliche, deren Essstörung im Rahmen einer Trennung der Eltern begonnen hat, was
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Tabelle 2:
Lancet-Kriterien: Beurteilung des vitalen Risikos
(Auszug und übersetzt nach [7])
Vitales Risiko BMI kg/m2 Gewichtsverlust (kg pro Woche) Petechiale Blutungen Systolischer Blutdruck Puls/Minuten Körpertemperatur Fähigkeit, aus der Hockerstellung aufzustehen ohne Hilfe der Arme
mittel < 15 > 0,5 kg/Woche – < 90 < 50 < 35°C möglich hoch < 13 < 1 kg/Woche vorhanden < 80 < 40 < 34,5°C unmöglich AB Abbildung 2.: Transabdominalsonografie kleines Becken: Pubertätsstillstand bei Tanner B4 2A: längs: Kleiner Uterus, Tanner B3 entsprechend, fehlender Endometriumaufbau. 2B: quer: Uterus quer, strichförmiges Endometrium, lateral beide Ovarien sichtbar, links ausgemessen, klein, ohne follikuläre Aktivität. oft zusätzlich zu Schuldgefühlen und Schuldzuweisungen in der gescheiterten Ehe beiträgt und die Beziehungen belastet. Hier könnte im Rahmen einer Familientherapie geholfen werden, wozu die Familie ermutigt werden sollte. Es ist dabei wichtig, sich als Arzt/Ärztin nicht für eine Konfliktpartei instrumentalisieren zu lassen. Therapie und Behandlungsmodelle aus psychiatrischer Sicht Die modernen Behandlungsmodelle von Essstörungen sehen ein integratives Arbeiten vor: eine möglichst enge Zusammenarbeit mit Fachleuten aus der Somatik, der Psychiatrie und Psychotherapie, der Ernährungsberatung und der Körpertherapie. In kritischen Fällen muss eine stationäre Behandlung geplant werden. Die Integration der Gynäkologie, speziell der Jugendgynäkologie, ist dabei wegen der fachspezifischen Kompetenz im Rahmen des integrativen Behandlungskonzepts wichtig. Dabei soll ausdrücklich auch der interprofessionelle Austausch mit gegenseitiger Unterstützung angesichts des hochkomplexen Krankheitsbildes ausreichend Platz finden. ➜ Bei länger stagnierendem Gewicht oder weiterem Absinken, zunehmender Verschlechterung des Allgemeinzustandes und der psychosozialen Gesundheit muss die Überweisung aus der hausärztlichen oder spezialärztlichen Ambulanz an ein Kompetenzzentrum erfolgen (6). Zur Beurteilung des somatischen Risikos und für eine stationäre Aufnahme dienen die sogenannten Lancet-Kriterien (7) (Tabelle 2). Somatische Folgeschäden Die Gefährlichkeit der Anorexie besteht neben der psychischen Erkrankung und häufiger Ko-Morbidität (Depression in 31–89%) in den somatischen Folgeschäden (1, 8). Diese umfassen in der Akutsituation Herzrhythmusstörungen und Hypotonie, Mangeldurchblutung der Extremitäten, bei ausgeprägter Schwere auch Beteiligung innerer Organe, insbesondere Nierenschädigung und Elektrolytstörungen. Bei längerer Dauer kommt es häufig zu Veränderungen der Hautfär- bung, Lanugobehaarung und Kälteintoleranz. Meist ist die Peristaltik gestört mit Obstipation und Blähungen. Der langdauernde Östrogenmangel führt zum Stillstand der weiblichen Entwicklung wie Pubertätsstillstand, Minderwuchs, Hypomastie, genitaler Atrophie, fehlender Reife des Uterus und primärer oder sekundärer Amenorrhö. Langfristig drohen Osteopenie bzw. Osteoporose, aber auch andere Folgeschäden entsprechend einer frühen vorzeitigen Menopause respektive Ovarialversagen. Prädiktoren für eine reduzierte Knochendichte sind ein frühes Alter bei Beginn der Anorexie, das anhaltend tiefe Körpergewicht, eine lange Erkrankungsdauer und ebenso die lange Dauer der Amenorrhö (9). Hierbei besteht ein Zusammenhang zwischen Wachstumshormon, Hyperkortisolismus und Hypogonadismus und auch mit der Reduktion des Testosterons sowie mit Veränderung der appetitregulierenden Hormone Leptin, Ghrelin und Peptid YY. Anders als bei gesunden Erwachsenen kommt es zu weniger Knochenaufbau sowie weniger Knochenabbau, dabei nimmt die Knochenmasse ab und die kortikalen und trabekulären Strukturen verändern sich, wodurch sich die Stabilität vermindert und das Frakturrisiko erhöht. Gynäkologische Aspekte der Erkrankung und Therapie Die Essstörung mit ihren psychischen Auswirkungen und dem Gewichtsverlust führt zur Down-Regulation der Ovaraktivität auf hypothalamischer und hypophysärer Ebene und zu einem Stillstand der Pubertätsentwicklung. Bei langanhaltender Anorexie kommt es auch zur Rückentwicklung der inneren Geschlechtsorgane auf eine infantile Grösse und Form (Abbildung 2 ). Endokrinologisch zeigt sich dieser Zustand als hypogonadotroper Hypogonadismus, im supprimierten Stadium mit tiefen Gonadotropin- und tiefen Östrogenwerten. Mit der transabdominalen Sonografie kann bei Mädchen mit Anorexie die fehlende Hormonwirkung auf den Uterus und die Inaktivität der Ovarien direkt im Bild gezeigt werden (Abbildung 2). Bei eindeutiger Anamnese und Klinik ist daher eine Hormonanalyse nicht zwingend notwendig. 32 GYNÄKOLOGIE 4+5/2024 GYNEA – Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie Für viele Mädchen mit Anorexie sind die Sorge um die spätere Fruchtbarkeit und der Wunsch nach Wiedereinsetzen der Menstruation oft das wichtigste oder gar einzige Motiv, um wieder an Gewicht zuzunehmen und die Krankheit zu überwinden. Dieser Wunsch soll unbedingt unterstützt und die Amenorrhö keineswegs mit der Verschreibung der Pille übertüncht werden – im Gegenteil (die Indikation für eine kombinierte Kontrazeption ist auch bei Anorektikerinnen der Wunsch nach Verhütung). Hingegen ist bei langdauernder Amenorrhö die Substitutionstherapie mit bioidentischem Estradiol zu erwägen; je nach Alter und Gesamtsituation sollte sie in Absprache mit dem Behandlungsteam (ggf. der pädiatrischen Endokrinologie bei jungen Mädchen) erfolgen. Hormontherapie mit bioidentischem Estradiol Bei schwerem Untergewicht und persistierender Amenorrhö über 6 bzw. über 12 Monate (je nach Leitlinie) wird heutzutage eine Hormonersatztherapie mit bioidentischem Estradiol, falls möglich transdermal, empfohlen. Dies ist insbesondere bei jungen Mädchen mit Pubertätsstillstand bzw. bei früh einsetzender sekundärer Amenorrhö für die Gesamtentwicklung, aber auch die Brustentwicklung, von Bedeutung. Hier soll primär mit reinem Estradiol, in tiefer Dosierung begonnen werden, um die unterbrochene pubertäre Entwicklung zu unterstützen und das Wachstum von Brust und Uterus zu stimulieren. Die Dosierung kann entsprechend der Verträglichkeit und Akzeptanz langsam über 6 bis 12 Monate gesteigert werden. Ein Gestagenzusatz sollte nicht zu früh erfolgen, erst bei aufgebautem Endometrium und ausreichender Brustentwicklung (Tanner B4). Setzt die Menstruationsblutung spontan unter der reinen Estradiolgabe ein, ist dies oft ein wichtiges Erlebnis für die Patientin und unterstützt den Heilungsverlauf. In der therapeutischen Begleitung kann die TA-Sonografie als Biofeedback genutzt werden: Bei gelungener Gewichtszunahme kann die Wiedererlangung der Hormonaktivität an der Follikelaktivität der Ovarien und der Reifung des Uterus gezeigt werden, was die Motivation und Tabelle 3: Neuroendokrine Faktoren mit Einfluss auf den Knochenstoffwechsel n Reduktion der Freisetzung von Gonadotropin-Releasing-Hormon (GnRH) und der Gonadotropine n Reduzierte Östrogen- und Androgenproduktion n Erhöhung der Plasmakortisolspiegel n Reduktion des freien T3 n Reduzierte hepatische Synthese von Wachstumsfaktoren (u. a. IGF1), reduzierte Leptinspiegel und erhöhte Katecholaminspiegel n metabolische Azidose durch vermehrte Lipolyse, Autophagie n vermindertes Ghrelin und Oxytocin den Heilungsprozess unterstützt. Anhand der Reifung des Uterus und dem Aufbau des Endometriums lässt sich die bevorstehende Menstruation erkennen. Bei Einsetzen der Blutung, bei aufgebautem Endometrium oder spätestens nach einem Jahr reiner Estradiolgabe in normaler Dosierung sollte die zyklische Gabe eines Gestagens installiert werden. Da die Estradiolgabe, im Gegensatz zu einem Kontrazeptivum, nicht supprimierend wirkt, also nicht verhütend, kann die Ovarfunktion wieder einsetzen, was sich im Ultraschall am Follikelwachstum zeigt. So kann mit der Patientin gemeinsam der Zeitpunkt gewählt werden, um die Hormontherapie wieder abzusetzen, auch wenn der Zyklus danach noch nicht regelmässig erfolgen wird. Aspekt Knochendichte Ein weiterer wichtiger Grund für die Hormonsubstitution ist das Wissen um den rasch einsetzenden Knochendichteverlust und das hohe Risiko für spätere Osteopenie bzw. Osteoporose bereits wenige Monate nach Erkrankungsbeginn und sekundärer Amenorrhö. Bei chronischem Verlauf der Anorexie ist mit einem durchschnittlichen Rückgang der Knochendichte von 1 bis 4% jährlich zu rechnen (10), was umso gravierender ist als in der Jugendzeit eine möglichst hohe peak bone mass erreicht werden muss. Bei Frauen mit Anorexie zeigen sich ein bis zu vierfach erhöhtes Frakturrisiko und in 20% osteoporotische Werte in der DEXA-Messung (11). Auch bei späterer Gewichtsnormalisierung bliebt die peak bone mass häufig noch zu gering (1), da nach Wiedererlangung des Normalgewichts die Knochendichte jährlich nur um 0,7% zunimmt. Bei Anorexie-Patientinnen zeigt sich meist eine signifikant ver- minderte Knochendichte im Bereich der Wirbelsäule, der Hüfte, am Hüftkopf sowie auch in der Ganzkörperknochendichte. Dabei wird der Knochenstoffwechsel von einer ganzen Reihe neuroendokriner Faktoren beeinflusst (10–15) (Tabelle 3). Die wichtigste Massnahme zur Prävention bzw. Behandlung des Knochendichteverlustes ist die Gewichtszunahme und der physiologische Wiedereintritt der Menstruation. Medikamentös sind die transdermale Estradiolsubstitution und bei Erwachsenen Bisphosphonate zu erwägen (13), weitere Optionen werden im Rahmen von Studien untersucht. Im Unterschied zur transdermalen Gabe von Estradiol, die zu einer Zunahme der Knochendichte führt (17), wirkt sich eine perorale Gabe von Ethinylestradiol in der kombinierten Kontrazeption eher ungünstig auf die Knochendichte aus und sollte vermieden werden (16–18). Die Therapieempfehlungen stützen sich auch auf die Untersuchungsdaten bei anderen Östrogenmangelzuständen und Amenorrhö wie bei POF, dem vorzeitigem Ovarialversagen, vorzeitiger Menopause und dem Turner-Syndrom (17–19). Motivation zur Hormontherapie Voraussetzung für eine Hormontherapie ist die Krankheitseinsicht und der Wunsch nach weiblicher Entwicklung und nach Gesundung sowie ein stabiles (wenn auch tiefes) Körpergewicht. Bei einer akuten Gefährdungssituation oder einem massiven Rückfall sollte keine Hormontherapie begonnen werden. Von grosser Bedeutung ist, dass die Jugendliche versteht, dass die Hormongabe die Anorexie nicht heilen kann und kein Ersatz für die psychologische Therapie darstellt. Es braucht eine stabile Arzt-Patien- GYNÄKOLOGIE 4+5/2024 33 GYNEA – Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie ten-Beziehung und eine Compliance, damit die korrekte Therapie und die regelmässigen Kontrollen zuverlässig erfolgen können. Der Verlauf bei Linda Wie im Fallbeispiel von Linda verläuft die Anorexie leider häufig chronisch; trotz stationärer und ambulanter Therapien und nicht selten brechen Betroffene die Therapien nach einer gewissen Zeit ab. So bleibt dann oft die Gynäkologin die einzige ärztliche Ansprechperson. Hier ist es wichtig, immer wieder zur Therapie zu ermutigen, aber auch die möglichen Folgeschäden anzusprechen und trotz der langen Dauer der Anorexie eine Verbesserung anzustreben. Eine Ernährungsberatung, die Vitamin D-Gabe und Information über Kalzium-Zufuhr sind weitere wichtige Bestandteile. In der Erstkonsultation zeigte sich der langanhaltende Östrogenmangel, die fehlende Östrogenisierung des Genitales, sonografisch die komplette Suppression der Ovarien und ein kleiner Uterus ohne Endometriumaufbau. Der Zusammenhang mit dem tiefen Gewicht und der mangelnden Energiezufuhr wurde mit Linda besprochen. Eine Gewichtszunahme von 2 kg wurde als Ziel überlegt und der Verlauf nach drei Monaten vereinbart. Eine Wiederaufnahme der psychologischen Therapie wurde empfohlen und die Möglichkeit einer Hormontherapie angesprochen. Nach drei Monaten war eine geringe Gewichtszu- nahme gelungen und Linda hat die am- bulante Therapie wieder aufgenommen. Sie wünschte sich eine hormonelle Un- terstützung. Unter der niedrig dosierten transdermalen Östrogentherapie kam es zum Wachstum des Uterus sowie der Mammae, was Linda freute. Über 6 Mo- nate wurde die Therapie langsam gestei- gert, nach 9 Monaten kam es spontan zur Menstruation bei normal entwickeltem Uterus und Endometriumaufbau. Die Gewichtszunahme stagnierte bei 42 kg. Linda blieb für zwei Jahre unter zykli- scher Hormonsubstitution und wech- selte dann, als sie einen Freund hatte, zur kombinierten hormonellen Kontrazep- tion mit Estradiol. n Dr. med. Ruth Draths FMH Gynäkologie und Geburtshilfe Präsidentin GYNEA Frauenpraxis Buchenhof Praxis für Mädchen und Frauen 6210 Sursee E-Mail: ruth.draths@frauenpraxis-buchenhof.ch Dr. med. Bettina Isenschmid, MME Psychiatrie FMH und Psychosomatik SAPPM Chefärztin ZESA – Zentrum für Essstörungen und Adipositas Spital Region Oberaargau 4900 Langenthal E-Mail: b.isenschmid@sro.ch Interessenkonflikte bei diesem Artikel: keine. Quellen: 1. 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