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ALTES UND NEUES ZUR FOLSÄURE
Folsäure – ein Überblick zum Kenntnisstand
ULRICH MOSER, MONIKA EICHHOLZER
Folsäure/Folat, das zur Gruppe der B-Vitamine gehört, übernimmt lebenswichtige Funktionen im menschlichen Organismus: Es ist für sämtliche Wachstums- und Entwicklungsprozesse unentbehrlich. Über seine Eigenschaften und Aufgaben und die daraus resultierenden Zufuhrempfehlungen informiert der vorliegende Beitrag.
Die Folsäure wurde 1941 als vorletztes der 13 Vitamine entdeckt; im «Vitamin-Vademecum» von Roche 1942 fehlt sie zum Beispiel noch, zusammen mit Vitamin B12 und Biotin. Schon in den Dreissigerjahren beobachtete Lucy Wills, dass ein Extrakt von Leber oder Hefe Anämien während der Schwangerschaft günstig beeinflusste. Esmond Snell realisierte, dass es sich um einen essenziellen Wachstumsfaktor handeln musste. 1941 konnte man den Faktor aus vier Tonnen Spinatblättern isolieren, deshalb der Name (folium = Blatt). 1943 gelang die Synthese durch Bob Stokstad bei Lederle in Pearl River, New York, und durch R. B. Angier und Mitarbeiter (1945) (1). So konnte gezeigt werden, dass sich die Folsäure aus einem Pteridin-Ring, Paraaminobenzoesäure und Glutamat zusammensetzt (Abbildung 1). Bald wurde auch klar, dass sich das natürlich vorkommende Folat in der Struktur vom synthetischen unterscheidet: • An der Stelle des Glutamats befinden sich zwei bis neun Glutamatmoleküle (Polyglutamat). • Das Molekül befindet sich in der reduzierten Form, entweder als Di- oder als Tetra-Hydro-Folat.
• Es hat ein Ein-Kohlenstoff-Molekül (C1Einheit) gebunden, und zwar entweder Methyl (-CH3), Formyl (-CHO), Methylen (= CH2) oder Methenyl (-CH4).
Der Name Folsäure wird deshalb lediglich für die synthetische, voll oxidierte Form verwendet. Mit Folat bezeichnet man die ganze Gruppe von Molekülen, die dieselbe Vitaminaktivität besitzen, also alle natürlichen Formen sowie Folsäure. Die Folsäure ist die chemisch stabilste Form des Vitamins mit der höchsten Oxidationsstufe und wird als Reinsubstanz fast quantitativ (> 90%) resorbiert. Beim natürlichen Folat muss zuerst die Polyglutamatkette zu Monoglutamat hydrolysiert werden; es wurde geschätzt, dass die Resorption daher lediglich zu 50 Prozent erfolgt. Neuere Studien ergaben allerdings 30 bis 98 Prozent (2). In der
Folsäure (synthetisch)
OH N
NH
R O
H2N
N
N
Pteridin
p-Aminobenzoat Glutamat
Abbildung 1: Strukturformel
Leber wird das Polyglutamat dann wieder hergestellt. Folate in Lösung sind empfindlich gegenüber Licht, Sauerstoff und Hitze und zerfallen in verschiedene Abbauprodukte. Es ist deshalb mit erheblichen Lagerungs- und Zubereitungsverlusten zu rechnen. Im menschlichen Organismus kommt Tetrahydrofolat (THF) als 5-Methyl-THF, 5,10-Methylen-THF, 5,10-Methenyl-THF und 5-Formyl-THF vor. Im Serum ist vor allem 5-Methyl-THF-Monoglutamat und intrazellulär Polyglutamyl-THF mit und ohne C1-Einheiten anzutreffen. 1962 unternahm Viktor Herbert in New York einen Selbstversuch, indem er sich eine folatfreie Kost verabreichte. Er stellte fest, dass nach etwa 4 Monaten Anzeichen einer megaloblastischen Anämie auftraten (3).
5,10-Methylen-Tetrahydrofolat (natürlich)
OH N
H2N
N
N
NH
R O
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Biologische Funktion
Folate ermöglichen die C1-Übertragung (ausser CO2) bei verschiedenen metabolischen Vorgängen; damit spielen sie eine Schlüsselrolle beim Aufbau und der Erneuerung des Organismus (4). Die wichtigsten Donatoren für die Methylgruppe sind (siehe Abbildung 2): • DNS-Synthese: 5,10-Methylen-THF lie-
fert die Methylgruppe für die Bildung von Thymidylat aus Uridylat. • Regenerierung von Methionin: 5-Methyl-THF liefert die Methylgruppe für die Methylierung von Homocystein zu Methionin. • Aus Methionin entsteht das S-Adenosylmethionin (SAM), das die Methylgruppe für folgende Reaktionen liefert: – Phosphatidylethanolamin zu Lecithin – Ethanolamin zu Cholin – Noradrenalin zu Adrenalin – Guanidinoessigsäure zu Kreatin – Carnosin zu Anserin – Katecholamine zu O-Methyderivaten – Nicotinamid, Pyridin und andere
Amine zu N-Methylderivaten – Methylierung des DNS (Epigenetik) (5). Die Methylierung von Homocystein zu Methionin erfordert ausserdem noch Vitamin B12. Die SAM-abhängigen Methylierungen geniessen regulatorisch Vorrang vor der DNS-Synthese. Bei einem Bedarf an SAM wird die 5,10-Methylen-THF-Reduktase aktiviert, die Methylgruppe wird bevorzugt auf die linke Seite transportiert. Da die Umwandlung von 5,10-MethylenTHF zu 5-Methyl-THF irreversibel ist, kann Letztere bei einem Vitamin-B12-Mangel nicht mehr gebraucht werden und bleibt so in der Methylgruppenfalle liegen. Obwohl also Vitamin B12 mit der Blutbildung nichts zu tun hat, kommt es bei einem Mangel über das Fehlen von 5,10-Methylen-THF zu einer Anämie. Störungen in der Synthese von Purinbasen und DNS führen zu einer Anämie (rechte Seite Abbildung 2), ein Mangel an SAM zu einer Neuropathie (linke Seite Abbildung 2). Folsäure wird zuerst zu THF reduziert und kann auch bei einem VitaminB12-Mangel Methylgruppen für die Purinund Thymidinsynthese bereitstellen. 5-Methyl-THF hingegen kann nicht zu 5,10-Methylen-THF oxidiert werden,
Methylierung
Neuropathie
THF
H
Anemie
HN
Methyl Transferase
N Dihydrofolat Reductase
ATP Methionin
S-Adenosylmethionin (SAM)
S-Adenosylhomocystein
B12
NH
Serin
Methionin Synthetase
NADP NADPH
Serin Hydroxymethyl Transferase
B6
DHF
N
H N
NH
dTMP
DNS
Homocystein
B6 Cystathionin
B6 Cystein
Falle
Glycin
Thymidylat
H 3C
H N
H2 C
H N
Synthetase
dUMP
N
NAD NADH N
N 5,N 10 -Methenyl THF DH
NADP
H
NADPH H C N
NH
N 5- Methyl
SAM
NH
N 5,N 10 - Methylen
N
Purine
THF THF
N 5 ,N 10 - Methylen THF
Reductase
NH
N 5,N 10 -Methenyl THF
Abbildung 2: Folatstoffwechsel. Nicht eingetragen sind die Formyl- und Formimino-Derivate von Folat, um die Übersichtlichkeit zu wahren.
denn bei einem Vitamin-B12-Mangel fehlen die Methylgruppen für die Purin- und Thymidinsynthese. Von der 5,10-Methylen-THF-Reduktase (MTHFR), die die Reduktion von 5,10-Methylen-THF zu 5-Methyl-THF katalysiert, existieren mehrere genetisch bedingte Varianten. Bei der häufigsten ist in der Stellung 677 ein Cystein durch ein Thymidin ersetzt. In der Schweiz sind zirka 16 Prozent der Bevölkerung Träger dieser Mutante. Die Betroffenen weisen ein moderat erhöhtes Homocystein und ein damit verbundenes erhöhtes Risiko für homocysteinassoziierte Krankheiten auf (6). Ihr Folsäurebedarf ist deshalb grösser als bei der restlichen Bevölkerung. SAM liefert die Methylgruppe zur Bildung von Cholin; somit ist Folat auch im Nervenstoffwechsel eingebunden. Störungen bei der Entwicklung des Nervensystems können Neuralrohrdefekte zur Folge haben. Die sich rasch teilenden Zellen des Rückenmarks oder in Tumoren sind auf eine ausreichende Zufuhr an Methylgruppen angewiesen; deshalb bietet sich der Folatmetabolismus als Ziel einer Tumortherapie an. Schon kurz nach der Entdeckung von Folat wurde deshalb nach Antifolaten für therapeutische Zwecke gesucht. So hemmt Methotrexat beispielsweise die Dihydrofolatreduktase, an die es 1000-mal stärker bindet als DHF
selbst. Damit wird die Regeneration von THF aus DHF verhindert, wodurch die Synthese von Purinbasen und Thymidin gehemmt wird. Auch andere Enzyme im Folatstoffwechsel wie die Thymidilatsynthetase werden als Ziel für Zytostatika eingesetzt.
Bedarf und Versorgung mit Folaten
Empfehlungen zur Folatversorgung legen Erwachsenen eine tägliche Zufuhr von 200 bis 400 μg Folatäquivalenten nahe (siehe Tabelle). Diese Empfehlungen sind vor allem darauf ausgerichtet, Mangelkrankheiten zu verhüten; es fliesst hier aber auch die Absicht ein, den Homocysteinwert im Blut abzusenken (< 12 μmol/l). Für die Schweiz und die Länder der Europäischen Union gilt lebensmittelrechtlich die empfohlene Tagesdosis für Erwachsene von 200 μg Folsäure/Folacin pro Tag. Die D-A-CH-Referenzwerte der Ernährungsgesellschaften von Deutschland, Österreich und der Schweiz empfehlen eine Zufuhr von 400 μg Folatäquivalenten. Da während der Frühschwangerschaft ein erhöhter Bedarf an Folsäure besteht, wird zur Verhütung von Neuralrohrdefekten für Frauen im gebährfähigen Alter, die schwanger werden möchten oder könnten, eine zusätzliche Zufuhr von 400 μg synthetischer Folsäure empfohlen (6). Die für Erwachsene empfohlene Einnahme von 400 μg Folatäquivalenten pro Tag ist
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Tabelle: Beispiele von Empfehlungen zur Folataufnahme (µg/Tag) Erwachsener weltweit (2, 7)
USA/
FAO/WHO
Kanada
Grossbritannien
D-A-CH
Männer 400 Frauen 400
400 400
200 200
400 400
Frankreich
330 300
Australien/ Neuseeland
Dänemark, Finnland, Schweden, Norwegen, Island
Niederlande Irland
400 300 300 300
400
300–400
300
300
allein über Nahrungsfolate, die natürlicherweise in der Nahrung vorkommen, schwierig zu erreichen. In der Schweiz ist, soweit bekannt, die Folsäurezufuhr eher zu tief. Entsprechend ergab der Fünfte Schweizerische Ernährungsbericht (2005) einen angenäherten täglichen Verzehr pro Kopf der Bevölkerung von 260 μg Nahrungsfolat in den Jahren 1985/1987 und von 280 μg für 2001/2002. Auch Studien an einzelnen Bevölkerungsgruppen weisen auf eine ungenügende Zufuhr hin: So erreichten nur 30 Prozent der Schulkinder im Waadtland die empfohlene Dosis von 200 μg, in den Kantonen Tessin, Uri, Aargau und Zürich waren es nur 26 Prozent, die > 70 Prozent der gewünschten Menge zu sich nahmen. Bei 25- bis 35-jährigen ledigen Frauen in der Stadt Zürich wurde 1992 eine Folsäureaufnahme von 122 μg/ Tag (median) registriert. Es ist jedoch zu vermerken, dass die Zielvorgabe von 400 μg auch mit einer landesüblichen Mischkost nicht erreicht wird. Mit einer ausgewogenen Ernährung dürfte man auf 250 bis 350 μg Nahrungsfolat kommen. 400 μg erfordern einen sehr hohen Gemüse- und Früchtekonsum oder den häufigen Verzehr von Leber und/oder Weizenkeimen – oder von mit Folsäure angereicherten Lebensmitteln (6).
Der Europäische Ernährungs- und Gesundheitsbericht (8) zeigt ähnliche Resultate. So liegt die Folatzufuhr in 10 von 11 aufgeführten europäischen Ländern (Ausnahme italienische Männer) bei über 15 Prozent der Bevölkerung unter dem in den Nordischen Empfehlungen aufgeführten geschätzten durchschnittlichen Bedarf von 200 μg. Bei den spanischen, deutschen und finnischen Männern, bei Portugiesen beiden Geschlechts und bei den englischen Frauen liegen 21 bis 30 Prozent unter den Empfehlungen. Bei erwachsenen Frauen aus Schweden, Griechenland und den Niederlanden, und bei älteren Frauen aus Finnland und England sind es über 41 Prozent. Allerdings konnten die Einnahme von Supplementen und der Konsum von mit Folsäure angereicherten Lebensmitteln nicht ausreichend berücksichtigt werden. Zurzeit werden die D-A-CH-Referenzwerte neu überarbeitet, und es wird diskutiert, ob die Nahrungsaufnahme von Folaten sich auch wirklich in den Serumwerten widerspiegelt. Es gibt zum Beispiel Hinweise, dass die Resorption im Darm besser ist als bisher angenommen. Erste Vergleiche zwischen Aufnahme und Blutspiegeln weisen auf eine bessere Versorgung hin als aufgrund der Einnahme vermutet (persönliche Mitteilung). Damit könnte eine Senkung der Folatdosis in Betracht gezogen werden.
Korrespondenzadresse:
Dr. Ulrich Moser
Holbeinstrasse 85, 4051 Basel
E-Mail: ulrichkmoser@bluewin.ch
Literatur: 1. Hoffbrand AV, Weir DG. The History of Folic Acid. Br J Haematology 2001; 113: 579–589. 2. Bailey LB. Folate in Health and Disease. CRC Press, second edition, 2010. 3. Herbert V. Experimental nutritional folate deficiency in man. Tr. A. Am. Physitions 1962; 75: 307. 4. Bässler KH, Golly I, Looew D, Pietrzik K. Vitamin-Lexikon. 3. Auflage 2002; Urban & Fischer Verlag, München und Jena. 5. Stefanska B, Karlic H, Varga F, FabianowskaMajewska K, Haslberger AG. Epigenetic mechanisms in anti-cancer actions of bioactive food componentsthe implications in cancer prevention. Br J Pharmacol. 2012 Apr 27. doi: 10.1111/j.1476-5381.2012.02002.x. 6. Eichholzer M, Camenzind-Frey E, Amberg J, Baerlocher K, Moser U, Rosé B, Tönz O. Folsäure ist unentbehrlich für die normale Entwicklung des Kindes. Bern: Bundesamt für Gesundheit (BAG), 2008. 7. Agence nationale de sécurité sanitaire de l’alimentation, de l’environnement, et du travail. www.anses.fr/Documents/ANC-Ft.TableauVitB9.pdf 8. Viñas BR, Barba LR, Ngo J, Gurinovic M, Novakovic R, Cavelaars A, de Groot LC, van't Veer P, Matthys C, Majem LS. Projected prevalence of inadequate nutrient intakes in Europe. Ann Nutr Metab. 2011; 59 (2–4): 84–95. Epub 2011. 9. Nordic Council of Ministers: Nordic Nutrition Recommendations 2004: Integrating Nutrition and Physical Activity, ed 4. Copenhagen, Norden, 2004.
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