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FORTBILDUNG
Digitale Behandlungsmöglichkeiten bei Angststörungen und Depressionen
Internetbasierte Ansätze bieten in vielerlei Hinsicht interessante und vielversprechende Interventionsmöglichkeiten und wurden in den letzten Jahren intensiv erforscht. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit digitalen Interventionen bei Angststörungen und Depressionen und gibt einen Überblick über den aktuellen Stand in Forschung und Praxis.
Foto:©Luca Christen
Foto:©Luca Christen
Antoine Urech Tobias Krieger Thomas Berger
von Antoine Urech, Tobias Krieger und Thomas Berger
E ine kürzlich erschienene Studie im Kanton Bern zeigt auf, dass zirka 90% der Menschen mit Symptomen einer Depression oder Angststörung nie Kontakt mit einer Fachperson hatten (1). Zudem besteht in der Schweizer Bevölkerung ein grosser ungedeckter Bedarf (ca. 0,7 Mio. unbehandelte Patienten) an psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungen (2). Aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung in beinahe allen gesellschaftlichen Lebensbereichen wird die Psychotherapie zunehmend durch vielfältige digitale Möglichkeiten ergänzt und erweitert. In den letzten Jahren wurden sogenannte digitale Interventionen vermehrt als potenzielle Behandlungsart wahrgenommen. Sie haben den Vorteil, dass sie den Zugang zu evidenzbasierten psychologischen Behandlungen vereinfachen. Infolge der vielversprechenden Wirksamkeitsnachweise bei verschiedenen psychischen Störungen wurde die Entwicklung solcher digitalen Ansätze im Bereich der Psychotherapie weiter vorangetrieben.
Definition und Unterteilung von digitalen Behandlungsmöglichkeiten In den letzten Jahren hat sich der Oberbegriff internetbasierte Interventionen für alle digitalen psychosozialen Angebote etabliert, die das Ziel verfolgen, psychiatrischen Symptomen vorzubeugen oder diese zu lindern. Internetbasierte Interventionen sind vielfältig und reichen von Selbsthilfeinterventionen über die Integration digitaler Inhalte in die Face-to-Face-Psychotherapie bis zur Videotherapie. Hinsichtlich ihrer Evidenz sind insbesondere webbasierte Selbsthilfeprogramme sehr gut erforscht. Hierbei
unterscheidet man typischerweise zwischen Selbsthilfeprogrammen ohne therapeutische Unterstützung (unguided self-help), die selbstständig und autonom von den Betroffenen bearbeitet werden, und solchen mit unterstützenden Onlinekontakten mit Therapeuten (guided self-help) (3). In angeleiteten Selbsthilfeansätzen werden Betroffene während der Arbeit mit einem Selbsthilfeprogramm mit kurzen, meist wöchentlichen Nachrichten von Fachpersonen bei der Bearbeitung unterstützt. Die Nachrichten dienen primär dazu, die Teilnehmenden zu motivieren, die Selbsthilfeprogramme (weiter) zu nutzen und die darin beschriebenen Übungen durchzuführen. Inzwischen können die meisten evidenzbasierten Programme über verschiedene Endgeräte wie PC, Smartphone und als App benutzt werden. Mehrere systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen zeigen, dass angeleitete Selbsthilfeansätze bei unterschiedlichen psychischen Störungen wirksamer sind als ungeleitete (4). Die Wirksamkeitsunterschiede zwischen ungeleiteten und angeleiteten Selbsthilfeprogrammen können zu einem Teil dadurch erklärt werden, dass ungeleitete Programme weniger genutzt und häufiger abgebrochen werden als angeleitete Programme (5). Bei anderen Entwicklungen wie beispielsweise Videotherapie, Chat- oder E-Mail-Therapien liegt der Vorteil darin, dass der Austausch mit Patientenen von zu Hause aus stattfinden kann und geografische Hürden einfacher überwunden werden können. Die Therapie via Videotelefonie bietet den Vorteil, dass, ähnlich wie in der Face-to-Face-Therapie, verbale wie nonverbale Informationen in die Interaktion einfliessen. Bei Chat-Therapien findet meistens eine synchrone Kommunikation statt, wohingegen bei einer E-Mail-Therapie zeitversetzt (asynchron) kommuniziert wird.
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So vielfältig internetbasierte Interventionen sind, so vielseitig können sie eingesetzt werden. Internetbasierte Interventionen finden ihren Einsatz sowohl in der Prävention als auch in der Gesundheitsförderung, ebenso wie in der psychotherapeutischen Behandlung und Nachsorge bzw. Rezidivprophylaxe. Die Abbildung (6) stellt eine Verortung der beschriebenen internetbasierten Interventionen entlang der folgenden 2 Dimensionen dar: l A) Grad der Automatisierung (vertikale Achse) bzw.
in welchem Mass die internetbasierte Intervention von einer Fachperson betreut wird. l B) Grad der Vermittlung (horizontale Achse) bzw. ob das Therapieelement auf Distanz oder vor Ort vermittelt wird.
Internetbasierte Interventionen bei Angststörungen Angststörungen gelten als eine der grössten globalen Gesundheitsbelastungen (7). Schätzungen zufolge erhalten weniger als 20% der Erkrankten einen Zugang zu evidenzbasierten Behandlungen (8). In den letzten Jahren haben sich bei verschiedenen Angststörungen vor
Persönlich erbracht
E-Mail-, Chat-, Videotherapie
Auf Distanz
Angeleitete Selbsthilfe A
(intensive Begleitung)
Angeleitete Selbsthilfe B
(wenig intensive Begleitung)
Ungeleitete Selbsthilfeprogramme
Blended Therapy A
(Kommunikation Face-to-Face und via E-Mail/Chat/Video
Blended Therapy B
(Face-to-Face-Therapie und E-Mail-Kontakt und
Selbsthilfeprogramm)
Blended Therapy C
(Face-to-Face-Therapie und Selbsthilfeprogramm)
Automatisiert
Konventionelle Psychotherapie
Vor Ort
Abbildung: Verortung verschiedener Internetinterventionen in Bezug auf 2 Dimensionen (modifiziert nach [6]).
Tabelle 1:
Inhalte einer internetbasierten Intervention zur Behandlung gemischter Angststörungen (41)
Modulinhalte Beschreibung 1 ● Motivationsarbeit (z. B. Erarbeiten von Gründen, die für die Arbeit an den Ängsten sprechen; Definieren von individuellen Zielen) ● Einführung eines Online-Angsttagebuchs ● Einführung in die angewandte Entspannung 2 ● Psychoedukation: Informationen zu Angst und Angststörungen ● Erklärung von wichtigen aufrechterhaltenden Faktoren von Angststörungen und Vermittlung wichtiger Komponenten des kognitiv-behavioralen Behandlungsansatzes (z. B. negative Gedanken, Vermeidungsverhalten, Aufmerksamkeitsprozesse, Sicherheitsverhalten) ● Informationen zum Behandlungsrational ● Entwicklung eines eigenen individuellen Erklärungsmodells der Angst ● Übungen zur angewandten Entspannung 3 ● Kognitive Restrukturierung: Identifizieren und Hinterfragen dysfunktionaler negativer Gedanken und Annahmen ● Einführung eines Online-Gedankentagebuchs ● Übung zur angewandten Entspannung 4 ● Informationen und Übungen zur Reduktion der selbst fokussierten Aufmerksamkeit ● Achtsamkeitsübungen ● Angewandte Entspannung 5 ● Exposition und Verhaltensexperimente: Planung und Durchführung von In-vivo-Expositionen ● Einführung eines Online-Expositionstagebuchs ● Sorgenkonfrontation, Einführung eines Grübelstuhls ● Angewandte Entspannung 6 ● Zusammenfassung und Repetition ● Weiterführung von In-vivo-Exposition und Verhaltensexperimente 7 ● Informationen zur Rolle von Stress und gesundheitsförderlichem Verhalten bei Angststörungen ● Problemlösetraining 8 ● Zusammenfassung ● Informationen zur Rückfallprävention
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Tabelle 2:
Nutzen und Risiken internetbasierter Interventionen (42)
Nutzen Beschreibung
Integration in den Alltag
Den Grossteil der Zeit verbringen ambulante Patienten in ihrem
der Patienten
Alltag. Internetbasierte Interventionen unterstützen mit gezielten
Übungen und Hilfestellungen den Transfer in den Alltag und können
somit wesentlich zum Behandlungserfolg beitragen.
Zeitliche und örtliche Flexibilität Auf die internetbasierten Interventionen kann zu jeder Zeit und an
jedem Ort, sofern ein Internetzugang möglich ist, zugegriffen werden.
Dieser Faktor ermöglicht auch Patienten aus eher ländlichen Regionen
oder unterversorgten Gebieten den Zugang.
Niederschwelliger Zugang
Eine Psychotherapie zu beginnen, ist meistens mit persönlichen
Hürden verbunden. Für manche Menschen ist es daher leichter, eine
App herunterzuladen, um so einen ersten Weg zur Psychotherapie
zu erhalten.
Anonymität
Die Anonymität, die internetbasierte Interventionen bieten, erleichtert
vielen Patienten, sich auch zu schwierigen Themen zu öffnen.
Steigerung der Selbstwirksamkeit Viele internetbasierte Interventionen basieren auf dem Ansatz der
Selbsthilfe, fördern die Eigenverantwortung und betonen ihr aktives
Wirken im Veränderungsprozess. Das kann die Selbstwirksamkeit
der Patienten erhöhen und weitere Ressourcen aktivieren.
Risiken Beschreibung
Reduzierte Selbstwirksamkeits-
Ein ausbleibender oder nur geringer Therapieerfolg mit internet-
erwartung bei Nonrespondern
basierten Interventionen könnte die Patienten entmutigen und ihre
Selbstwirksamkeitserwartung reduzieren.
Generalisierung des Misserfolgs
Wenn durch internetbasierte Interventionen kein Erfolg erzielt
wurde, könnte dies fälschlicherweise auch auf die konventionelle
Psychotherapie generalisiert werden.
Hohe Anforderungen an
Die selbstständige Bearbeitung von Inhalten könnte einige Patienten
Selbststeuerung
überfordern. Zudem sind internetbasierte Interventionen bei kognitiv
beeinträchtigten oder impulsiven Patienten nicht zu empfehlen.
Akute Krisen
In akuten psychischen Krisen ist eine alleinige internetbasierte Therapie
nicht indiziert.
allem geleitete internetbasierte Interventionen mit einem kognitiv-behavioralen Ansatz als wirksam erwiesen (9). In Tabelle 1 wird der Inhalt eines evidenzbasierten Selbsthilfeprogramms für Menschen mit verschiedenen Angststörungen dargestellt. Bei Angststörungen besonders gut erforscht sind angeleitete Selbsthilfeprogramme, bei der sozialen Angststörung wurde sehr konsistent eine gute Wirksamkeit nachgewiesen (10). Diese positiven Ergebnisse können erstaunen. Wird in einer Onlinetherapie, die zu Hause durchgeführt wird, das Vermeidungsverhalten nicht noch verstärkt? Zur Beantwortung dieser Frage ist es wichtig zu verstehen, wie internetbasierte Selbsthilfeinterventionen funktionieren. Die Selbsthilfeinterventionen ermutigen die Nutzenden, auf der Grundlage von Störungswissen spezifische Übungen durchzuführen und sich im realen Leben zu exponieren, um neue Erfahrungen zu sammeln. Studien, in denen geleitete internetbasierte Interventionen bei der sozialen Angststörung direkt mit einer Face-to-Face-Therapie verglichen wurden, zeigen, dass in beiden Formaten grosse und ähnlich starke Symptomverbesserungen erzielt werden können (11). Zudem zeigen Langzeitstu-
dien, dass die Behandlungserfolge bis zu 5 Jahre nach Beendigung der internetbasierten Intervention stabil bleiben (12) und diese auch kosteneffizienter im Vergleich zu traditionellen Face-to-Face-Therapien sind (13). Andere Formate, wie beispielsweise Video- oder Chat-Therapien, zeigen in den bisherigen, allerdings noch wenigen Studien ebenfalls gute Wirksamkeitsnachweise (14, 15).
Internetbasierte Interventionen bei Depressionen Ähnlich wie bei den Angststörungen orientieren sich die meisten internetbasierten Interventionen bei depressiven Störungen am kognitiv-behavioralen Ansatz. Die Evidenz internetbasierter Interventionen bei Depression ist auch hier vielversprechend. In verschiedenen Metaanalysen wurden für die Behandlung von Depressionen mittlere bis grosse Effekte für angeleitete internetbasierte Selbsthilfeinterventionen gefunden, sowohl im Vergleich mit Wartekontroll- als auch mit anderen Kontrollgruppen (16). Die in Studien gefundenen Effekte sind in ihrer Grösse vergleichbar mit den Effekten einer Face-to-Face-Behandlung bei Depressionen (17).
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Ebenso bei stark ausgeprägten depressiven Symptomen zeigten geleitete internetbasierte Interventionen deutliche Effekte hinsichtlich der Symptombelastung (18, 19). Zudem scheint der Zusatznutzen einer therapeutischen Begleitung während der Nutzung von internetbasierten Interventionen bei moderater bis schwerer Depression substanzieller zu sein (20). Wie bereits erwähnt, werden ungeleitete Selbsthilfeprogramme im Durchschnitt weniger genutzt, und sie sind weniger wirksam als Programme, die eine therapeutische Begleitung beinhalten. Mit ihren im Schnitt kleinen Effekten können sie aber im Public-Health- und Präventionsbereich durchaus nützlich sein, weil mit ihnen kostengünstig sehr viele Menschen erreicht werden können (21). Andere Formate, wie beispielsweise die Videotherapie, zeigten bisher ebenfalls gute Wirksamkeitsbefunde für Depressionen (22), jedoch fehlt es bislang an qualitativ guten kontrollierten Studien (23). Gleiches gilt für Chatund E-Mail-Therapien, jedoch ist hier die Datenlage nach wie vor spärlich. Es ist zu bedenken, dass der Arbeitsaufwand bei der Betreuung von Chat- und E-Mail-Therapien nicht unbedingt geringer ist als bei einer herkömmlichen Psychotherapie (24). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass internetbasierte Interventionen bei Depressionen positive Ergebnisse zeigen, insbesondere wenn die Angebote einen Kontakt mit Therapeuten beinhalten. Wie in der Face-to-Face-Psychotherapie profitieren aber nicht alle Patienten im gleichen Masse von internetbasierten Interventionen, und manche benötigen weitere Therapiemassnahmen (25).
Nutzen und Risiken internetbasierter Interventionen Internetbasierte Interventionen bringen viele Vorteile, aber auch Nachteile mit sich, weshalb die Indikationsentscheidung aufgrund einer genauen Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen sollte. In Tabelle 2 werden der potenzielle Nutzen und mögliche Risiken internetbasierter Interventionen gegenübergestellt.
Wie geht es nun weiter? Implementierung in die Versorgung In den letzten Jahren waren internetbasierte Interventionen vor allem im Forschungssetting verfügbar. Die Implementierung der evidenzbasierten digitalen Interventionen in die Routinepraxis wurde lang vernachlässigt. Eine europäische Erhebung konnte in diesem Zusammenhang aufzeigen, dass die Mehrheit der befragten Interessenvertreter rein internetbasierte Interventionen bei moderat bis schweren Depressionen nicht empfehlen würde. Zudem bestehen weiterhin Bedenken bezüglich der klinischen Wirksamkeit internetbasierter Interventionen ohne direkten therapeutischen Kontakt (26). Daraus kann abgeleitet werden, dass für eine erfolgreiche Implementierung weitere Öffentlichkeitsarbeit, zum Beispiel in Bezug auf die Wirksamkeit der Interventionen, zentral zu sein scheint. Des Weiteren müssen internetbasierte Interventionen überhaupt erst in der Routinepraxis verfügbar und einsetzbar sein. In einem weiteren Schritt müssen Fachpersonen im Umgang mit internetbasierten Interventionen sachgerecht geschult sowie internetbasierte Interventionen den klinischen Arbeitsbedingungen angepasst werden
(27). In Ländern, wie beispielsweise Australien, wurden internetbasierte Interventionen bereits in die Routineversorgung implementiert. Die Rede ist hier von sogenannten virtuellen Kliniken wie der MindSpot-Klinik (28). Die australische MindSpot-Klinik hat zum Ziel, erwachsene Personen mit klinisch relevanten psychischen Symptomen anzusprechen, sie über ihre aktuellen Symptome und Behandlungsmöglichkeiten zu informieren sowie ihnen internetbasierte Behandlungen anzubieten oder sie an herkömmliche Fachstellen weiterzuleiten. Die Gruppe, die von einem solchen Angebot am meisten angesprochen wird, besteht aus Patienten mit einer Depression und/oder Angststörung (29). Eine erst kürzlich publizierte Beobachtungsstudie zeigte, dass das Konzept der virtuellen Klinik primär zur Diagnostik und Informationsbeschaffung über psychische Störungsbilder und deren Behandlungsmöglichkeiten genutzt wurde. Die Studie zeigte auch auf, dass die angebotenen, angeleiteten internetbasierten Programme effektiv in der Behandlung von Angststörungen und Depressionen waren (30). In Deutschland sieht das Digitale Versorgungsgesetz (DVG) inzwischen vor, dass kostenpflichtige Selbsthilfeprogramme zulasten der Krankenkasse verordnet werden können. Voraussetzung dafür ist, dass das Programm in das Verzeichnis Digitaler Gesundheitsanwendungen aufgenommen ist (DiGA-Verzeichnis). Im DiGA-Verzeichnis wird unterschieden zwischen vorläufig und dauerhaft aufgenommenen Interventionen. Während für dauerhaft aufgenommene Programme sogenannte positive Versorgungseffekte nachgewiesen werden müssen, haben vorläufig aufgenommene Interventionen ihre Wirksamkeit und Sicherheit noch nicht gezeigt. Alle im DiGA-Verzeichnis aufgeführten Programme sind bei allen gesetzlichen und einigen privaten Krankenkassen vollständig erstattungsfähig und können von Fachpersonen verschrieben werden (31). Es bedarf nun weiterer Forschung, um die Akzeptanz, die Wirksamkeit und die Implementierbarkeit der DiGA unter Routinebedingungen zu untersuchen (32).
Blended Care Ein neuerer vielversprechender Ansatz stellt Blended Care dar. Hier werden internetbasierte Interventionen mit Face-to-Face-Sitzungen kombiniert, teilweise mit dem Ziel, einige Face-to-Face-Sitzungen durch Onlineinterventionen zu ersetzen (33). Dabei können Onlineinterventionen vor oder nach konventionellen Therapiesitzungen eingesetzt werden, zum Beispiel zur Wartezeitüberbrückung oder als Nachsorge- und Rückfallpräventionsmassnahme (34). Erste Studien zu Kombinationstherapien zeigen eine Überlegenheit von Blended Care im Vergleich zu konventioneller Psychotherapie in der ambulanten Routinepraxis (35). Ausserdem kann der zusätzliche Einsatz einer internetbasierten Intervention mit der gleichzeitigen Reduktion der Anzahl Face-to-Face-Sitzungen ohne Wirkungsverlust einhergehen (36). Blended Care eröffnet neue Möglichkeiten zur Steigerung der Wirksamkeit der Psychotherapie, und Fachpersonen sehen weniger Risiken und Einschränkungen als bei rein internetbasierten Interventionen (37).
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Merkpunkte:
● Internetbasierte Interventionen sind wirksam bei der Behandlung von Angststörungen und Depressionen.
● Internetbasierte Interventionen haben sowohl Vor- als auch Nachteile, die kritisch reflektiert werden müssen.
● Blended Care stellt ein neues Behandlungsformat dar, in welchem internetbasierte Elemente ergänzend oder vertiefend eingesetzt werden.
● Bei der Nutzung von internetbasierten Ansätzen müssen Qualitätskriterien sowie Aufklärungs-, Sorgfaltspflicht und Haftung in der Indikationsstellung berücksichtigt werden.
● Mit dem DiGA-Verzeichnis wurde in Deutschland erstmals ein Anforderungsprofil für digitale Gesundheitsanwendungen definiert, das konkret regelt, wie internetbasierte Interventionen in die Routineversorgung erstattungsfähig implementiert werden können.
Datenschutz, Aufklärungs- und Sorgfaltspflicht sowie Haftung Aufgrund der rasanten Entwicklung des Marktes internetbasierter Interventionen ist aus ethischer Sicht zu bedenken, dass vielfach keine klaren Datenschutzrichtlinien bestehen (38). Weiter verfügen nicht alle Patienten über ausreichende technologische Kenntnisse oder verspüren den Wunsch, digital an ihren Problemen zu arbeiten, und bevorzugen eine herkömmliche Therapie. Wichtig zu berücksichtigen ist, dass die Sorgfaltspflicht auch im Onlinesetting gilt. Das heisst, eine fachgerechte anamnestische Erhebung, Diagnostik und Indikationsstellung setzt zwingend einen direkten persönlichen Kontakt voraus. Die Aufklärung der Patienten über Zweck und Dauer des Einsatzes, die Überwachung des Behandlungsverlaufs sowie die Erstellung eines Notfallplans bei akuter Krise gehören ebenfalls dazu. Bezüglich der Haftung sind Gesundheitsfachkräfte im selben Rahmen haftbar wie bei jeder anderen Behandlung. Deshalb muss zwingend eine vorgängige Einschätzung der potenziellen Risiken bei der Nutzung internetbasierter Interventionen erfolgen. In Bezug auf die Qualität von internetbasierten Interventionen stehen in der Schweiz seit einiger Zeit Qualitätskriterien seitens der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) und der Foederatio Medicorum Psychiatricorum et Psychotherapeuticorum (FMPP) zur Verfügung, die klare Bedingungen an die Interventionen stellen, wie beispielsweise einen Wirksamkeitsnachweis in mindestens einer randomisierten Studie, evidenzbasierte Inhalte oder Transparenz bezüglich des Datenschutzes, der Qualifikation der Entwickler, der Kosten, der Inhalte der Intervention und der Indikationsbereiche (39).
Ausblick Vieles deutet darauf hin, dass wir uns erst am Anfang einer weitreichenden Entwicklung von digitalen Behandlungsmöglichkeiten befinden. Beispielsweise bestehen grosse Erwartungen an die Themen maschinelles Lernen oder datengestützte (Behandlungs-)Entscheidungssysteme. Die klassische Psychotherapie aus dem 20. Jahrhundert wird grundlegende Veränderungen erfahren, sofern sich diese innovativen Behandlungsansätze in der Praxis bewähren. Internetbasierte Interventionen werden die Face-to-Face-Psychotherapie nicht
ersetzen, sondern bereichern und den Zugang zu evi-
denzbasierten Behandlungen vereinfachen. Trotzdem
wird durch das Herunterladen einer App nicht gewähr-
leistet, dass die Symptome einer psychischen Störung
gelindert werden. Wie in der herkömmlichen Psycho-
therapie muss der Mensch auch online angehalten wer-
den, die Inhalte einer internetbasierten Intervention zu
nutzen und in den Alltag zu transferieren. Infolgedessen
muss zukünftig besser verstanden werden, unter wel-
chen Bedingungen, wie und bei wem internetbasierte
Interventionen funktionieren. Internetbasierte Interven-
tionen sind unter stark kontrollierten Bedingungen
wirksam, jedoch bleibt die Übertragung in die Routine-
versorgung weiterhin eine grosse Herausforderung. Wie
sich die Implementierung digitaler Ansätze in der
Schweiz weiterentwickelt, wird die Zukunft zeigen. Mit
dem DiGA-Verzeichnis sind in Deutschland die ersten
Weichen in Richtung Implementierung von internetba-
sierten Interventionen in deutschsprachigen Ländern
gestellt (40).
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Prof. Dr. Thomas Berger Universität Bern
Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie Fabrikstrasse 8 3012 Bern
E-Mail: thomas.berger@unibe.ch
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