Transkript
Alle Frauen im gebärfähigen Alter sollten Folsäure supplementieren
USPSTF bekräftigt Empfehlungen aus dem Jahr 2009
FORTBILDUNG
Im Jahr 2009 hat die US Preventive Services Task Force (USPSTF) auf der Basis einer positiven Effektivitätsanalyse der Folsäuresupplementierung bei Frauen im gebärfähigen Alter zur Prävention von Neuralrohrdefekten bei Neugeborenen eine entsprechende Empfehlung herausgegeben. Die USPSTF bezieht in ihre Effektivitätsanalysen die Evidenz sowohl des Nutzens als auch des Schadens sowie eine Abwägung von deren Verhältnis zueinander ein und wiederholt sie in regelmässigen Abständen, um zwischenzeitliche neue Erkenntnisse zu erfassen und die ausgesprochenen Empfehlungen zu untermauern oder zu revidieren. Ein solches von der USPSTF Ende 2016 veröffentlichtes Update (1) hat die Empfehlungen zur Folsäuresupplementierung aus dem Jahr 2009 nun vollumfänglich bestätigt. Bei der neuerlichen Analyse der Datenlage und der Nutzen-RisikoAbwägung ergaben sich keinerlei Erkenntnisse, die zu einer veränderten Empfehlung hätten Anlass geben können.
JAMA
Neuralrohrdefekte stellen die häufigsten angeborenen Fehlbildungen des Gehirns und des Rückenmarks dar. Sie entstehen früh im Verlauf der Schwangerschaft aufgrund eines unvollständigen Verschlusses des embryonalen Neuralrohrs, welcher zu einer Reihe von Behinderungen oder sogar zum Tod führt. Die mit einer geschätzten kombinierten durchschnittlichen Prävalenz von 6,5 Fällen pro 10 000 Lebendgeburten häufigsten Neuralrohrdefekte sind Anenzephalie (unterentwickeltes Gehirn und inkompletter Schädel) und
MERKSÄTZE
O In einem Update ihres 2009 erschienenen Recommendation Statement bekräftigt die USPSTF nochmals ihre bereits seinerzeit ausgesprochene Empfehlung zur Folsäuresupplementierung für alle Frauen im gebärfähigen Alter.
O Alle Frauen, die schwanger werden könnten oder dies bereits planen, sollten demnach täglich ein Supplement mit 0,4 bis 0,8 mg Folsäure einnehmen.
Spina bifida (unvollständiger Verschluss des Rückenmarks, offener Rücken). Die tägliche Nahrungssupplementierung mit Folsäure in der perikonzeptionellen Phase kann Neuralrohrdefekten vorbeugen. Folsäure, die synthetische Form von Folat, des wasserlöslichen Vitamins B9, wird gewöhnlich als Bestandteil von Multivitamin- und pränatalen Vitaminpräparaten oder als Einzelsupplement angeboten. Es wird auch in angereicherten Getreideprodukten verwendet. Natürlich kommt Folat in dunkelgrünem, blättrigem Gemüse sowie in Hülsenfrüchten und Orangen vor. Dennoch erhalten die meisten Frauen allein über die Ernährung nicht die empfohlene Menge an Folat. Gemäss Daten des NHANES (National Health and Nutrition Examination Survey) aus den Jahren 2003 bis 2006 nehmen drei Viertel aller nicht schwangeren Frauen im Alter zwischen 15 und 44 Jahren nicht die zur Vorbeugung gegen Neuralrohrdefekte empfohlene tägliche Menge an Folat zu sich. Frauen mit persönlicher oder familiärer Anamnese einer von einem Neuralrohrdefekt betroffenen Schwangerschaft tragen ein erhöhtes Risiko für das Auftreten eines solchen Ereignisses. Nichtsdestotrotz tritt die Mehrheit der Neuralrohrdefekte auf, ohne dass es in der Vergangenheit bei der jeweiligen Schwangeren selbst oder in ihrer Familie bereits zu entsprechenden Komplikationen gekommen ist.
Effektive Prävention von Neuralrohrdefekten
durch Folsäuresupplemente
Als Basis für ihre überarbeiteten Empfehlungen hat die USPSTF die Daten aus in den USA und in Ungarn durchgeführten Studien (1 randomisierte, kontrollierte Studie, 2 Kohortenstudien, 8 Fallkontrollstudien) und 2 weiteren Publikationen zur Effektivität der Folsäuresupplementierung mit insgesamt mindestens 41 802 Teilnehmerinnen analysiert. Die Ergebnisse wurden allerdings aufgrund der Heterogenität der einzelnen Untersuchungen und der im Laufe der Zeit veränderten Situation hinsichtlich mit Folsäure angereicherter Lebensmittel nicht gepoolt. Die Task- force konnte überzeugende Hinweise dafür sammeln, dass eine Folsäuresupplementierung in der perikonzeptionellen Phase von substanziellem Nutzen für die Senkung des Risikos von Neuralrohrdefekten beim Fötus ist. Zur Frage, ob dieser Nutzen abhängig ist von der Dosis, von der individuellen schwangerschaftsbezogenen Terminierung, der Dauer der Supplementierung oder von der ethnischen Zugehörigkeit der Frauen, liessen sich allerdings nur unzureichende Erkenntnisse aus den analysierten Daten gewinnen.
ARS MEDICI 5 I 2017
243
FORTBILDUNG
Dagegen erbrachte die USPSTF-Datenanalyse hinreichende Evidenz, dass die in üblicher Dosierung erfolgte Folsäuresupplementierung nicht mit gravierenden Nachteilen für Mutter oder Kind verbunden ist. So konnte etwa in mehreren der untersuchten Einzelstudien keine statistisch signifikante Assoziation der Folsäureeinnahme mit dem Risiko für Zwillingsschwangerschaften nachgewiesen werden. Hinsichtlich anderer potenzieller Nebenwirkungen wie etwa Gewichtszunahme, Obstipation oder Diarrhö der Mütter oder vermehrtem Auftreten von Asthma, Pfeifatmung oder Allergien bei den Kindern zeigten sich inkonsistente Resultate. Keinerlei Hinweise ergaben sich dagegen für andere vermutete Nebenwirkungen wie etwa Maskierung eines Vitamin-B12-Mangels mit subsequenten neurologischen Komplikationen, karzinogene Effekte, asthmatische oder allergische Reaktionen sowie Medikamenteninteraktionen.
Täglich mindestens 0,4 mg Folsäure
Gemäss den Autoren der USPSTF-Richtlinie ist seit den breit gestreuten Empfehlungen zur Folsäuresupplementierung und den von der US Food and Drug Administration (FDA) im Jahr 1997 verabschiedeten Regelungen zur Lebensmittelanreicherung ein Rückgang der Prävalenz von Neuralrohrdefekten (von 10,7 Fällen je 10 000 Lebendgeburten in den Jahren 1995/96 auf 7 von 10 000 Lebendgeburten im Zeitraum von 1999 bis 2011) zu verzeichnen. Nach jüngsten Schätzungen verhindert die Folsäuresupplementierung jährlich bei etwa 1300 Schwangerschaften das Auftreten von Neuralrohrdefekten. Trotz der durch die entsprechenden Empfehlungen und die gesetzliche Regelung der Lebensmittelanreicherung gesunkenen Prävalenzraten ist es nach wie vor für die meisten Frauen schwierig, sich allein über die Nahrung mit der erforderlichen Mindestmenge von täglich 0,4 mg Folsäure zu versorgen. Die USPSTF kommt mit hoher Gewissheit zum Schluss, dass der Nettonutzen einer täglichen Folsäuresupplementierung zur Vorbeugung gegen Neuralrohrdefekte beim Fetus für Frauen, die schwanger werden wollen oder könnten, beträchtlich ist. Ihnen wird daher eine tägliche Folsäurezufuhr von 0,4 bis 0,8 mg empfohlen (Klasse-A-Empfehlung). Die über Nahrungsergänzungsmittel oder über entsprechend angereicherte Nahrungsmittel maximal zuzuführende Menge an Folsäure beträgt gemäss dem National Academy of Sciences Food and Nutrition Board bei Frauen ab 19 Jahren 1 mg täglich und für junge Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren 0,8 mg täglich. Aufgrund der hohen Zahl ungeplanter Schwangerschaften (z.B. in den USA ca. 50% aller Graviditäten) sollten Ärzte allen Frauen im gebärfähigen Alter zur täglichen Einnahme von Folsäure raten. Die kritische Zeitspanne für die Supplementierung beginnt mindestens 1 Monat vor Empfängnis und erstreckt sich über die ersten 2 bis 3 Schwangerschaftsmonate. Nicht anzuwenden ist die USPSTF-Empfehlung zur Folsäuresupplementierung dagegen für Frauen, bei denen bereits in einer früheren Schwangerschaft ein Neuralrohrdefekt aufgetreten war oder die aus anderen Gründen, etwa wegen Einnahme bestimmter Antikonvulsiva (z.B. Valproinsäure oder Carbamazepin) oder einer entsprechenden Familienanamnese (betroffene Verwandte 1. oder 2. Grades), ein sehr hohes
Risiko für eine solche fetale Missbildung tragen; diesen Frauen muss unter Umständen zur Einnahme von höheren Folsäuredosen geraten werden. Weitere Risikofaktoren für Neuralrohrdefekte bei Feten stellen Diabetes oder Adipositas der Mütter sowie auch Mutationen in Genen dar, die für Enzyme kodieren, welche mit dem Folatstoffwechsel in Beziehung stehen.
Welche Rolle
spielen folsäureangereicherte Lebensmittel?
Trotz dieser auf den ersten Blick überzeugenden Datenlage und der sich daraus ergebenden nachvollziehbaren neuerlichen Empfehlung zur perikonzeptionellen Folsäuresupplementierung ist nach Ansicht des Autors des die USPSTFPublikation im «JAMA» begleitenden Editorials (2) dabei eine der aktuell wohl wichtigsten Kernfragen nicht beantwortet worden, nämlich die, welche Rolle die Nahrungsmittelanreicherung mit Folsäure in diesem Zusammenhang spielt. Vielen der USPSTF-Komitee-Mitglieder sei, so James L. Mills in seinem Kommentar, bewusst gewesen, dass die Empfehlung einer täglichen Supplementierung kaum sämtliche folatassoziierten Neuralrohrdefekte verhindern wird, und zwar aus verschiedenen Gründen: Frauen, welche keine Schwangerschaft planen, werden die Empfehlung womöglich nicht einhalten. Der Erwerb der entsprechenden Tabletten wäre kostspielig, und deren tägliche Einnahme über einen Zeitraum von 30 Jahren verursacht Unannehmlichkeiten. Trotz öffentlicher Informationskampagnen kommen nur etwa 40 Prozent der risikobehafteten Frauen der Empfehlung zur täglichen Supplementierung nach. Und tatsächlich waren die Ergebnisse in Ländern, die mehrheitlich nach wie vor auf Nahrungssupplemente statt auf Lebensmittelanreicherung stützen, wie etwa in der Europäischen Union (EU), eher enttäuschend. Hier hatte sich im Zeitraum zwischen 1991 und 2011 kein signifikanter Rückgang der Neuralrohrdefektraten gezeigt. Anders in den USA, wo die Regierung 1996 die verbindliche Folsäureanreicherung von Lebensmitteln beschlossen hatte, wonach ab dem Jahr 1998 sämtliche Getreide 140 µg Folsäure pro 100 g Körner enthalten mussten. Erst infolge dieser Strategie, die in rund 80 weiteren Ländern übernommen wurde, konnten die Raten an Missbildungen deutlich gesenkt werden. Der klare Vorteil der Nahrungsmittelanreicherung ist, dass alle Frauen, die Getreide verzehren, zumindest in einem gewissen Ausmass Folsäure erhalten; der Nachteil allerdings besteht darin, dass anders als bei der Supplementierung die gesamte Bevölkerung gegenüber dieser Substanz und ihren potenziellen Nebenwirkungen exponiert ist – ein Problem, das in der EU zu langwierigen Diskussionen geführt hat. Zwar liessen sich derlei Risiken anhand der bis anhin publizierten Daten nahezu ausnahmslos nicht bestätigen, dennoch sei es vernüftig, weiterhin nach der niedrigsten zur Prävention von Neuralrohrdefekten notwendigen Folsäuredosis zu suchen, so der Editorialist. Und genau diesbezüglich habe die Anreicherung Fingerzeige geben können: Es wird geschätzt, dass in den USA über die Lebensmittelanreicherung durchschnittlich pro Kopf etwa 163 µg Folsäure an die Zielpopulation gelangen. Zwei in der US-Population der «Anreicherungsära» durchgeführte Studien hätten untersucht, inwieweit eine Folsäuresupplementierung mit einem zusätzlichen
244
ARS MEDICI 5 I 2017
FORTBILDUNG
Schutz vor Neuralrohrdefekten assoziiert ist. Interessanterweise habe sich dabei jeweils gezeigt, dass Frauen, die später Kinder mit Neuralrohrdefekten zur Welt brachten, zuvor nicht minder wahrscheinlich Folsäure supplementiert hatten als Mütter gesunder Kinder. Dies deutet darauf hin, dass bereits eine Nahrungsmittelanreicherung im gegenwärtigen moderaten Umfang in der Lage ist, die meisten, wenn nicht sämtliche folatassoziierten Neuralrohrdefekte zu verhindern. Demzufolge könnten die von der USPSTF empfohlenen 400 bis 800 µg täglich mehr als genug sein. Falls bereits die gegenwärtig den Lebensmitteln zugesetzte Menge für eine adäquate Prävention ausreiche, könnte dies womöglich auch die Bedenken hinsichtlich einer überschüssigen Exposition der Nichtzielpopulation in Ländern zerstreuen, in denen Lebensmittel mit Folsäure angereichert werden. Doch auch wenn die Anreicherung bereits ausreichende Mengen Folsäure liefert, sollte nach Ansicht des Editorialisten die USPSTF-Empfehlung einer Supplementierung nicht in Abrede gestellt werden, denn zum einen ist noch zu wenig darüber bekannt, wie genau Folsäure vor Neuralrohrdefekten
schützt, beispielsweise, ob während der heiklen kurzen
embryonalen Entwicklungsphase, in der sich das Neuralrohr
schliesst, auf im Gewebe gespeichertes Folat zurückgegriffen
wird oder ob es eher auf dessen Verfügbarkeit im Serum
ankommt. Zum anderen gewährleistet die regelmässige
Verwendung von Supplementen eher eine Versorgung mit
adäquaten Mengen, als es allein über die Ernährung mit ihren
individuellen Schwankungen und Vorlieben, insbesondere
während einer derart kurzen, aber entscheidenden kritischen
Zeitspanne, möglich wäre.
O
Ralf Behrens
Quellen: 1. US Preventive Services Task Force, Bibbins-Domingo K et al.: Folic acid supplemen-
tation for the prevention of neural tube defects: US Preventive Services Task Force recommendation statement. JAMA 2017; 317(2): 183–189. 2. Mills JL: Strategies for preventing folate-related neural tube defects: supplements, fortified foods, or both? JAMA 2017; 317(2): 144–145.
Interessenlage: Die Autoren der Originalpublikationen deklarieren keinerlei Interessenkonflikte.
ARS MEDICI 5 I 2017
245