Transkript
FORTBILDUNG
Neurokutane Syndrome (Phakomatosen)
Foto: zVg
Foto: zVg
Foto: zVg
Thomas Hundsberger
Neurokutane Syndrome (früher: Phakomatosen) sind eine heterogene Gruppe von Erkrankungen, die auf unterschiedlichen Gendefekten beruhen. Alle Vererbungsmodi kommen vor, zudem besteht teils eine recht hohe Neumutationsrate. Ein multidisziplinäres Behandlungsteam ist eine wichtige Voraussetzung für ein gutes Management dieser komplexen Krankheitsbilder. Neben den klinischen Disziplinen, Sozialberatung und anderen therapeutischen Disziplinen ist die Humangenetik und ein koordinierter Transitionsprozess wichtig für eine umfassende Betreuung.
Michaela Baldauf Oliver Maier Katrin Scheinemann Christian Rothermundt
von Thomas Hundsberger1,2, Michaela Baldauf1, Oliver Maier3, Katrin Scheinemann4 und Christian Rothermundt2
Einleitung Die Phakomatosen sind eine heterogene Gruppe von angeborenen Erkrankungen ektodermalen Ursprungs und betreffen vorwiegend die Haut, das Auge und das Nervensystem. Initial wurden die Neurofibromatose Typ I (NF-1), die tuberöse Sklerose (TSC) und die von HippelLindau-Erkrankung (VHL) als Phakomatosen (griech.: phakos = der Fleck, die Linse) bezeichnet (1). Mit Hinzunahme des Sturge-Weber-Syndroms (enzephalofaziale Angiomatose) war dieser Begriff schon weniger scharf, sodass die bisherigen als Phakomatose bezeichneten Erkrankungen heute unter dem Begriff der neurokutanen Syndrome eingeordnet werden. Über 60 Erkrankungen sind den neurokutanen Syndromen zugeordnet, deren genetischer Vererbungsmodus autosomal-dominant, autosomal-rezessiv oder X-chromosomal sein kann. Durch Vererbung von einem oder beider Elternteile können die neurokutanen Syndrome familiären Ursprungs sein, entstehen aber nicht selten sporadisch durch Neumutationen (Tabelle 1). Die genetischen Veränderungen führen zu Entwicklungsstörungen der Neuralleiste oder Fehlfunktionen von Tumorsuppressorgenen (TSG) (1). Sofern ein Allel eines TSG ausfällt, steigt die Wahrscheinlichkeit für das Entstehen von benignen oder malignen Tumoren in betroffenen Geweben, sodass ein Teil der neurokutanen Syndrome wie beispielsweise NF-1, NF-2, TSC und VHL gleichzeitig auch genetische Tumorprädilektionssyn-
1 Klinik für Neurologie, Kantonsspital St. Gallen 2 Klinik für medizinische Onkologie und Hämatologie,
Kantonsspital St. Gallen 3 KER Zentrum, Stiftung Ostschweizer Kinderspital 4 Zentrum für Onkologie und Hämatologie, Stiftung
Ostschweizer Kinderspital
drome sind, die einer speziellen onkologischen Vor -und Nachsorge bedürfen (2). Eine besondere Stellung nehmen sporadische genetische Mosaikerkrankungen ein, bei denen die postzygotische Inaktivierung eines TSG nur einen Teil aller Körperzellen oder Organe betrifft (3). Phänotypisch finden sich segmentale oder regionale Formen der Erkrankung (z. B. bei NF-1), deren genetische Diagnostik besonders herausfordernd ist, da nicht alle Gewebe betroffen sind (z. B. Blut) und die genetische Veränderung nur in «geringer Konzentration» vorliegt, sodass es spezieller molekularbiologischer Strategien bedarf, um diese Veränderungen nachzuweisen (4). Ferner kann nur schwer abgeschätzt werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Träger eines genetischen Mosaiks die Erkrankung auf seine Nachkommen übertragen kann. In dieser Situation empfiehlt sich die enge Absprache mit einem genetischen Institut, um den Nutzen und die Ausbeute der genetischen Diagnostik im Vorfeld abschätzen zu können und diese Besonderheit in das genetische Beratungsgespräch einfliessen zu lassen. Durch die Fortschritte der molekular ausgerichteten Pharmakotherapie zur Inaktivierung von pathologischen Genprodukten und Signaltransduktionskaskaden wurden medikamentöse Therapien für einige neurokutane Syndromen entwickelt und zur Anwendung zugelassen. Diese Übersicht beschränkt sich auf die Darstellung der NF-1, NF-2, VHL und TSC (Tabelle 1). Da es sich bei den neurokutanen Syndromen um Systemerkrankungen mit Multiorganbeteiligung handelt, profitieren die behandelten Patienten in vielerlei Hinsicht von einer Systemtherapie bei vertretbaren Nebenwirkungen (5). Neben dem medizinischen Fortschritt treten diese Behandlungsmöglichkeiten einem therapeutischen Versorgungsnihilismus entgegen und verbessern die medizinischen Versorgungsstrukturen für die Betroffenen und deren Familien im Allgemeinen.
14
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
2/2024
Foto: zVg
Foto: zVg
FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Epidemiologische und biologische Daten ausgewählter neurokutaner Syndrome
Syndrom Vererbungs-
modus
NF-1
autosomal-dominant
NF-2
autosomal-dominant
VHL autosomal-dominant
TSC autosomal-dominant
Gen/
Neumutations- Inzidenz Prävalenz
Genprodukt rate
Neurofibromin
50%
1:2000
1–5/10 000
Merlin
50% 1:50 000 1–9/100 000
VHL 20% 1:36 000 1–9/100 000
TSC1 (Hamartin) 70%
1:8000
1–5/10 000
TSC2 (Tuberin)
Abkürzungen: NF-1: Neurofibromatose Typ 1; NF-2: Neurofibromatose Typ 2; VHL: von Hippel-Lindau Erkrankung; TSC: Tuberöse Sklerose Komplex Quelle: www.orpha.net
Neurofibromatose Typ 1 (NF-1) Die NF-1 ist ein Klassiker unter den neurokutanen Syndromen und jeder Medizinstudent wird bereits in den Vorlesungen mit spektakulären Bildern von mit Neurofibromen übersäten Betroffenen konfrontiert. In der Tat ist die NF-1 die häufigste monogenetisch bedingte Erkrankung in der Neurologie (Tabelle 1). Neurofibromin, das Genprodukt von NF-1, ist als Inhibitor in der RASSignaltransduktionskaskade ein Tumorsuppressor. Die autosomal-dominant vererbte, heterozygote Keimbahnmutation des NF-1-Gens prädisponiert für die Ausbildung von benignen und malignen Tumoren, indem durch eine weitere, somatische Mutation im zweiten Allel im Sinn der Knudsonschen «second-hit»-Theorie die Funktion der Tumorsuppression verloren geht (6). Diese Tumore treten bei den Tumorprädilektionssyndromen ganz allgemein sehr viel früher auf als sporadische Tumorerkrankungen, weshalb ein junges Lebensalter mit einer charakteristischen Läsion ein wichtiger Indikator für ein genetisches Syndrom ist. Nach eigenen Erfahrungen und nach Rücksprache mit einer lokalen Selbsthilfegruppe stehen weniger die neurologischen Beschwerden im Vordergrund, sondern eher nur die äusseren Veränderungen. Meist erfolgt «nur» eine sporadische hausärztliche oder dermatochirurgische Versorgung störender Neurofibrome und keine systematische Vorsorge. Als genetisches Tumorprädilektionssyndrom bedarf es aber einer speziellen (neuro-)onkologischen Betreuung, da die Inzidenz von Mammakarzinomen, gastrointestinalen Stromatumoren (GIST) und malignen peripheren Nervenscheidentumoren (MPNST) erhöht ist (6, 7). Auch hirneigene Tumore im Sinn von niedrig- und hochgradigen Gliomen findet man bereits im frühen Kindesalter. Insgesamt beträgt die Lebenszeitinzidenz maligner Tumore bei NF-1 Betroffenen 60% (8). Auch die erhöhte Inzidenz von Nierenarterienstenosen, die eine sekundäre Bluthochdruckerkrankung auslösen können, sollte regelmässig kontrolliert werden, zumal bereits bei Kindern mit NF-1 eine zerebrovaskuläre Pathologie vorhanden sein kann, die durch eine chronische Hypertonie akzentuiert wird (9). Erschwerend kommen neben den kosmetischen Beeinträchtigungen durch die kutanen Neurofibrome, kraniofaziale oder skelettale Dysmorphien hinzu sowie kognitive Störungen, die zu einem Rückzug und den Verlust sozialer Kompetenzen gerade von Adoleszenten führen.
Abbildung: Nervensonografie eines Neurofibroms des N. radialis. Weisser Pfeil: normaler Nervenfaszikel; weiss umrandeter Pfeil: Neurofibrom (Bild: Klinik für Neurologie, KSSG)
Die Diagnose der Erkrankung kann klinisch gestellt werden (Kasten 1) (8). Nur selten ist eine genetische Diagnostik notwendig, insbesondere bei familiärer Erkrankung. Bei vermeintlichen Neumutationen (immerhin 50%) mit später und meist leichterer Erkrankungsmanifestation und regionalen Varianten sollte eine postzygotische Mosaikerkrankung in Betracht gezogen werden, die genetisch schwerer zu fassen und mit einem unklaren Risiko der Vererbung assoziiert ist. Eine hochauflösende dynamische Nervensonografie kann durch die Darstellung von Neurofibromen dazu Hinweise liefern, ob es sich um eine regionale Variante (genetisches Mosaik) oder um eine hereditäre Erkrankung handelt (Abbildung). Die typischen klinischen Erscheinungen treten altersabhängig auf (Tabelle 2). Im Hauptfokus steht die dermatochirurgische Versorgung von kutanen und subkutanen Neurofibromen, wenn hier Komplikationen entstehen oder diese kosmetisch stören. Intranervale Neurofibrome lösen Schmerzen aus oder kompromittieren die Nerven durch Druck, sodass es zu Sensibilitätsstörungen und/oder Lähmungen in dem betroffenen Versorgungsgebiet kommen kann. Im Gegensatz zu den
2/2024
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
15
FORTBILDUNG
Kasten 1:
Diagnosekriterien der adulten NF-1
● ≥ 6 Café-au-Lait-Flecken (> 1,5 cm) ● Optikusgliom ● erstgradig Verwandter mit NF-1 ● ≥ 2 kutane Neurofibrome und/oder 1 plexiformes Neurofibrom ● axilläres/inguinales Freckling ● > 2 Lish-Knoten der Iris (Hamartome) ● faziale Knochendysplasie/Ausdünnung des Kortex eines langen Röhrenknochens
Tabelle 2:
Zeitliche Sequenz des Auftretens der NF-1 Stigmata
Lebensalter
NF-1 Manifestationen
pränatal
plexiforme Neurofibrome
Säuglingsalter Café-au-Lait-Flecken
Optikusgliome
Kindheit
Hamartome der Iris (Lisch-Knötchen)
Optikusgliome
Adoleszenz
kutane Neurofibrome
Schwannomen lassen sich Neurofibrome nur unter Schädigung des betroffenen Nervs operativ entfernen, sodass diesbezüglich Zurückhaltung geboten ist. Besonders zu berücksichtigen sind die plexiformen Neurofibrome (pNF), die meist in der Tiefe liegen, mit Skelettdeformitäten und einer auffälligen Hautpigmentierung assoziiert sind. Sie treten bei 40% der NF-1 Betroffenen auf (10). Häufig sind für pNF chirurgische Teilentfernungen notwendig, da sie durch ihre raumfordernde Komponente teils zu erheblicher Beeinträchtigung führen (Kompression innerer Organe, Einschränkung der Bewegung). Nur die pNF können in 6 bis 16% der Fälle über eine Präkanzerose, die neu als atypisches Neurofibrom (Teildeletion von Chromosom 9 inklusive der Tumorsuppressorgene CDKN2A/2B) charakterisiert wird, zu MPNST entarten und bedürfen dann einer onkologischen (Sarkom-) Behandlung mit allerdings schlechter Prognose (10). Das klinische Leitsymptom sind neuropathische Schmerzen, paraklinisch werden die MPNST mittels der Kombination aus MRT und FDG-PET mit ausreichender Akkuranz diagnostiziert (11). Als systemische Behandlungsindikation von inoperablen und symptomatischen pNF steht für Kinder und Jugendliche ab dem 3. Lebensjahr der MEK-1/2-Inhibitor (mitogen-activated protein kinase) Selumetinib (Koselugo®) zur Verfügung. In der Phase-II-Studie SPRINT zeigte sich in dieser Indikation nach sechs Monaten bei 68% der Kinder eine partielle Remission (definiert als Volumenreduktion um 20%), die bei 56% mindestens ein Jahr anhielt. Verbunden damit reduzierten sich Schmerzen und muskuloskelettale Dysmorphien (12). Das Medikament ist für Erwachsene noch nicht zugelassen, Studien hierzu rekrutieren aber in verschiedenen Ländern.
Neurofibromatose Typ 2 (NF-2 assoziierte Schwannomatose) Zur Gruppe der Neurofibromatosen werden traditionell die NF-1, NF-2 und die Schwannomatose gezählt, wenngleich die klinischen Erscheinungsbilder, die Inzidenz und Prävalenz sowie die genetischen Grundlagen komplett verschieden sind (Tabelle 1) (13). Eine neue Klassifikation fasst die NF-2 und die Schwannomatosen zusammen, da klinisch ein Kontinuum der Erkrankungen besteht (13). So werden die Schwannomatosen nach ihrer genetischen Grundlage benannt (z. B. NF-2-assoziierte Schwannomatose). Pathognomonisch für die NF-2 ist das Auftreten bilateraler Vestibularisschwannome (VS). Ferner entwickeln sich kraniale und spinale Meningeome, intraspinale Ependymome und Schwannome der Nervenwurzeln und peripheren Nerven. Die klinischen Diagnosekriterien sind sensitiv genug (Kasten 2), um eine Diagnose zu stellen. Eine genetische Diagnostik wird bei Mosaikerkrankungen (immerhin > 60% der de novo Betroffenen [13]) oder im Rahmen einer genetischen Beratung bei Kinderwunsch angefordert. Klinisch im Vordergrund stehen das Wachstum der VS mit Kompression des Hirnstamms und der Hirnnerven des Kleinhirnbrückenwinkels. Dabei besteht keine Assoziation zwischen Grösse des VS und der funktionellen (Hör-)Beeinträchtigung. Chirurgische (Teil-)Resektionen, beispielsweise zur Reduktion einer raumfordernden Komponente) bergen die Gefahr einer postoperativen Hörschädigung und einer N. facialis-Parese, was zu funktionellen Einschränkungen und einer kosmetischen Stigmatisierung führt. Verschiedene Bestrahlungstechniken können nur bei kleineren VS eingesetzt werden. Somit ist das wesentliche chirurgische Ziel der Erhalt der Hörfähigkeit. Radikaler kann vorgegangen werden, wenn bereits eine Anakusis vorliegt. Bei NF-2-Betroffenen ist die Wahrscheinlichkeit einer eintretenden Taubheit im Verlauf des Lebens sehr hoch. Das zeitliche Fenster zum Erlernen von Kommunikationstechniken wie Zeichensprache (Gesprächspartner beherrschen diese Technik meist nicht) oder besser Lippenablesen sollte unbedingt genutzt werden. Die prominente Kontrastmittelaufnahme und die darauf beruhende Neoangiogenese der VS führte zum Einsatz von Inhibitoren des vaskulären endothelialen Wachstumsfaktors (VEGF) mit Bevacizumab. In einer Pilotstudie konnte mit dieser Substanz das Gehör verbessert und eine langanhaltende Volumenabnahme erreicht werden (14). Somit ist die off-label-Anwendung von Bevacizumab geeignet, ein zeitliches Fenster zu öffnen, während dem Kommunikationsstrategien erlernt und Operationen herausgezögert oder über Jahre vermieden werden können (15, 16).
Von Hippel-Lindau-Erkrankung (VHL) Die VHL-Erkrankung ist durch die Kombination von retinalen Angiomen und die typischerweise infratentoriellen Hämangioblastome durch den Opthalmologen von Hippel und den Pathologen Lindau erstmals 1903 beschreiben worden. Die autosomal-dominant vererbte Erkrankung beruht auf einer Keimbahnmutation des VHL-Gens. Dessen Genprodukt inhibiert über mehrere Komplexe die Aktivität von HIF-1 (hypoxia-inducible factor) (Kasten 3). Fällt die Hemmung weg, wird der Zelle
16
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
2/2024
FORTBILDUNG
das Signal «Hypoxie» suggeriert, und es kommt zu einer Proliferation von Gefässen und der Ausbildung von Tumoren insbesondere in gefässreichen Organen (z. B. der Niere) und ausgeprägten Zysten in viszeralen Organen (Pankreas, Niere, Hoden, Ligamentum latum). Je nachdem, welche Organe hauptsächlich betroffen sind, werden zwei Phänotypen (Typ 1 und 2) unterschieden. Die Typen 2 A–C sind durch die sehr seltenen Phäochromozytome charakterisiert, die beim Typ 1 nicht auftreten. Weitere seltene maligne und semimaligne Tumore sind pankreatische neuroendokrine Tumoren (pNET) und endolymphatische Sack-Tumoren (ELST). Die Penetration der Erkrankung beträgt bis zum 60. Lebensjahr 90%. Die Lebenserwartung dieses Tumorprädilektionssyndroms kann durch eine strukturierte Vorsorge in einem interdisziplinären Zentrum erheblich verlängert werden, zudem lässt sich die Morbidität signifikant senken (5). VHL-Betroffene sind durch Amaurosis (retinale Angiome) und neurologischer Behinderung (spinale und Kleinhirn-Hämangioblastome) in ihrer Lebensqualität erheblich gefährdet (17). Da das ZNS, die Augen und die Nieren regelhaft durch multiple Läsionen betroffen sind, muss eine sorgfältige Risikostratifizierung durch eine Kombination von klinischen und paraklinischen Untersuchungen, wie MRT, Sonografie, ophthalmologische und HNO-ärztliche Funktionsuntersuchungen sowie endokrinologische und renale Laborparameter, durchgeführt werden. Ferner bedarf es einer interdisziplinären Besprechung (Tumorboard, Phakomatoseboard), um therapeutische Entscheidungen zu treffen. Ansonsten drohen einerseits aufgrund von ungerechtfertigt grossen Nierenteilresektionen Dialysepflichtigkeit, andererseits durch verspätete Interventionen an der Netzhaut (Laserkoagulation der retinalen Angiome) oder starkes Wachstum von zerebellären oder spinalen Hämangioblastomen schwere neurologische Behinderungen. Belzutifan, ein neuer HIF-2-alpha-Inhibitor, zeigte ein langanhaltendes objektives Ansprechen verschiedener Tumoren von VHL-Betroffenen: 49% bei Nierenzellkarzinomen, 77% bei Pankreasläsionen, 30% bei ZNS-Hämangioblastomen und 100% bei retinalen Angiomen (18). Somit stellt diese systemische Therapieoption bei VHL als Multisystemerkrankung eine weitere Therapieoption dar, um Morbidität und Mortalität zu verhindern und invasive Eingriffe zu vermeiden oder zu verzögern. Mit einer Zulassung in der Schweiz wird im zweiten Quartal 2024 gerechnet.
Tuberöse Sklerose (TSC) Die TSC beruht auf genetischen Veränderungen im TSC1-(Hamartin-) oder TSC2-(Tuberin-)Gen. Beide Proteingenprodukte sind als Heterodimere in der mTOR-Signaltransduktionskaskade (mTor, mammalian target of rapamycin) aktiv und wirken hemmend im Sinn eines Tumorsuppressorgens (19). Fällt die Funktion beider Allele eines dieser Gene durch die Kombination einer Keimbahn- und einer somatischen Mutation aus, kommt es durch chronische Aktivierung der Signaltransduktionskaskade zur Ausbildung von benignen und malignen Tumoren (2). Als Multisystemerkrankung sind vor allem das ZNS (Tubera und subependymale Riesenzellastrozytome, SEGA), die Nieren (Angiomyolipome, AML), die Lunge insbesondere bei Frauen (Lymphangioleiomyomatose, LAM) und die Haut (faziale Angiofib-
Kasten 2:
Diagnosekriterien der NF-2-(assoziierten Schwannomatose)
● bilateral vestibuläre Schwannome ● identische Mutation im NF-2 Gen in 2 anatomisch unterschiedlichen NF-2-as-
soziierten Tumoren (Schwannom, Meningeom, Ependymom) oder 2 Haupt- oder 1 Haupt- und 2 Nebenkriterien
Hauptkriterien ● einseitiges Vestibularisschwannom ● ein erstgradiger Verwandter mit NF-2 assoziierter Schwannomatose ● 2 oder mehr Meningeome ● NF-2 Mutation in einem nicht betroffenen Gewebe (z. B. Blut)
Nebenkriterien ● 2 nicht-vestibuläre Schwannome ● Kombination: solitäres Ependymom, Meningeom oder nicht-vestibuläres
Schwannom ● bilateraler kortikaler Katarakt ● Kombination: juveniler subkapsulärer oder kortikaler Katarakt, retinales
Hamartom, epiretinale Membran (< 40 years), Meningeom
Kasten 3:
Diagnosekriterien VHL-Erkrankung
● positive Familienanamnese für VHL und ● ≥ 1 VHL-assoziierter Tumor (retinales Angiom, Hämangioblastom des Gehirns
oder des Rückenmarks, Phäochromozytom, Nierenzellkarzinom oder endokriner Tumor des Pankreas) oder ● zwei oder mehr charakteristische VHL-Tumoren bei Patienten ohne bekannte VHL-Familienanamnese
rome, hypomelanotische Flecken und unguale Fibrome, Shargreen Plaques usw. (Kasten 4) betroffen. Die typischen Organmanifestationen führen zur klinischen Diagnose (Kasten 4) (20). Das Spektrum der Erkrankung ist enorm breit und es besteht eine Genotyp-Phänotyp-Korrelation, bei der TSC1-Mutationen zu einem klinisch weniger schweren Phänotyp führen (19). Neurologischerseits wird der Grad der Behinderung durch eine strukturelle Epilepsie und teils schwere neurokognitive Defizite durch Entwicklungsstörungen des Gehirns determiniert (TAND, TSC-associated neuropsychiatric disorders). Epilepsie tritt bei TSC sehr häufig auf mit Diagnosestellung meist in den ersten zwei Lebensjahren. Die TSCBetroffenen entwickeln infantile Spasmen (medianes Alter < 1 Jahr) und fokale epileptische Anfälle. Die infantilen Spasmen sprechen bei TSC sehr gut auf Vigabatrin an (2/3 Anfallsfreiheit) (19), während die fokalen Anfälle nur in knapp 60% der Fälle durch Standard-Antikonvulsiva kontrolliert werden können und häufig therapierefraktär sind (21). Bei Kindern nach dem zweiten Lebensjahr mit therapierefraktären Anfällen steht der
2/2024
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
17
FORTBILDUNG
Kasten 4:
Diagnosekriterien der TSC-Erkrankung
Gesicherte Diagnose ● Nachweis einer pathogenen TSC1- oder TSC2-Mutation ● 2 Hauptkriterien oder ein Hauptkriterium und ≥ 2 Nebenkriterien
Mögliche Diagnose ● entweder 1 Hauptkriterium oder ≥ 2 Nebenkriterien
Major-Kriterien ● hypomelanotische Flecken (≥ 3, mindestens 5 mm Durchmesser) ● faziale Angiofibrome oder faserige Kopfhaut (≥ 3 Angiofibrome) ● subunguale/unguale Fibrome (≥ 2) ● Shagreen-Fleck ● multiple retinale Hamartome ● kortikale Dysplasien/Tuber ● subependymale Knoten ● subependymales Riesenzellastrozytomen ● kardiales Rhabdomyom ● Lymphangioleiomyomatose ● Angiomyolipome
Minor-Kriterien ● «Konfetti» Hautläsionen ● hypomelanotische Flecken der Extremitätenhaut ● Schmelzdefekte der Zähne (> 3) ● intraorale Fibrome (≥ 2) ● retinaler achromischer Fleck ● multiple Nierenzysten ● nicht-renale Hamartome
mTOR-Inhibitor Everolimus (Votubia®) zur Verfügung, dessen antikonvulsive Wirksamkeit in randomisierten Studien belegt wurde (22). TSC-Betroffene sind einerseits durch die fazialen Angiofibrome kosmetisch stigmatisiert und können ein chronisches Nierenversagen durch strukturelle Zerstörung durch zystische AML und Nierenzellkarzinome entwickeln. Rupturen der AML rufen schwere Blutverluste in kurzer Zeit hervor, sodass Notfalleingriffe mittels Nierenresektion oder endovaskulärer Embolisierungen provoziert werden und das funktionelle Nierenparenchym erheblich reduziert wird. Die meist bei Frauen auftre-
Merkpunkte:
● Neurokutane Syndrome sind vielgestaltig und haben einen unterschiedlichen genetischen Ursprung. Alle Vererbungsmodi können vorkommen, Neumutationen sind häufig.
● Bei Defekten in Tumorsuppressorgenen liegt ein genetisches Tumorprädilektionssyndrom vor. Eine multiprofessionelle Betreuung ist hier wesentlich.
● Die Transition von der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin ist ein vulnerabler Prozess, der proaktiv und langfristig geplant werden sollte (Transitionsboard).
● Für einige neurokutane Syndrome existieren potente medikamentöse Behandlungsoptionen.
tende LAM kann durch deren raumfordernde Komponente zu einer funktionellen Beeinträchtigung der Lungenfunktion führen und Spontanpneumothoraces provozieren. Neben einer symptomatischen Therapie, psychosozialer Betreuung und genetischer Beratung hat der mTOR-Inhibitor Everolimus (Votubia®) eine erhebliche Verbesserung in der medizinischen Versorgung fürTSC-Betroffene erbracht. Die lokale Anwendung ist als Creme zur Reduktion der stigmatisierenden fazialen Angiofibrome möglich, der systemische Therapieansatz mit Everolimus führt zusätzlich zu einer Verbesserung der Epilepsie (23), der Grössenreduktion von SEGA (24), renalen AML (25) und pulmonaler LAM (26).
Versorgung
Alle neurokutanen Syndrome sind Systemerkrankun-
gen, die nicht nur ein Organ betreffen, deren Symptome
vielgestaltig sind und ein grosses Spektrum der Krank-
heitsmanifestation aufweisen. Deshalb ist eine optimale
Versorgung dieser Betroffenen meist nur in einem multi-
disziplinären Team gewährleistet. Häufig übernimmt
diejenige medizinische Disziplin die Behandlungsfüh-
rung, deren Organ vorwiegend betroffen ist (z. B. die
Neurologie bei ZNS-Hämangioblastomen/VHL, plexi-
forme Neurofibrome/NF-1). Allerdings kann dies beim
Auftreten von Folgeerkrankungen, die dann im Vorder-
grund stehen, wechseln (z. B. die Onkologie bei Nierenzell-
karzinom/VHL, maligner peripherer Nervenscheiden-
tumor/NF-1). Ein wichtiger Schritt für betroffene Kinder
ist die Transition in die Erwachsenenmedizin (27). Die
umfassende, integrierte und multiprofessionelle medi-
zinische Betreuung kann im Erwachsenenalter aus ver-
schiedenen Gründen meist nicht aufrechterhalten
werden (fehlende Finanzierung, Zeit- und Strukturman-
gel, traditionelle Strukturen usw.). Zudem tritt die Rolle
der Eltern in den Hintergrund (rechtlich, Patientenauto-
nomie), was gelegentlich Konfliktpotenzial birgt, insbe-
sondere, da andere Lebensthemen wie Berufswahl,
selbstständige Lebensführung, Partnerschaften, Kinder-
wunsch, Genussmittelkonsum und andere Automomie-
angelegenheiten an Bedeutung gewinnen. Finger-
spitzengefühl ist erforderlich, wenn die kognitiven Fä-
higkeiten eingeschränkt sind und eine rechtliche Ver-
tretung bestellt werden muss. Es empfiehlt sich in dieser
Situation, mit dem Kinderspital (Pädiatrie/Kinderonko-
logie) einen Transitionsprozess einzuleiten, der am
Kantonspital St. Gallen neben einer Adoleszenten-
sprechstunde, beginnend mit dem 16. Lebensjahr, und
einem interdisziplinären Transitionsboard einen geord-
neten Übergang unter Einbeziehung aller Beteiligter
gewährleistet (5).
l
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Thomas Hundsberger
Klinik für Neurologie Kantonsspital St. Gallen
Rorschacherstrasse 95 9007 St. Gallen
+41 71 494 3095 thomas.hundsberger@kssg.ch
18
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
2/2024
FORTBILDUNG
Referenzen: 1. Figueiredo ACPCT et al.: Neurocutaneous Disorders for the
Practicing Neurologist: a focused Review. Curr Neurol Neurosci Rep. 2016;16(2):19. doi:10.1007/s11910-015-0612-7. 2. Hino O et al.: The two?hit hypothesis, tumor suppressor genes, and the tuberous sclerosis complex. Cancer Sci. 2017;108(1):5-11. doi:10.1111/cas.13116. 3. Plotkin S et al.: Neurofibromatosis and schwannomatosis. Semin Neurol. 2018;38(01):073-085. doi:10.1055/s-0038-1627471 4. Baruah RK et al.: Segmental schwannomatosis of the spine: report of a rare case and brief review of literature. Ortop Traumatol Rehabil. 2016;18(1):73-78. doi:10.5604/15093492.1198872. 5. Koster KL et al.: Von-Hippel-Lindau-Erkrankung. Swiss Medical Forum ? Schweizerisches Medizin-Forum. Published online November 30, 2022. doi:10.4414/smf.2022.09159. 6. Higham CS et al.: The characteristics of 76 atypical neurofibromas as precursors to neurofibromatosis 1 associated malignant peripheral nerve sheath tumors. Neuro Oncol. 2018;20(6):818-825. doi:10.1093/ neuonc/noy013. 7. Portale G et al.: Reminder for the clinician: abdominal manifestations of type 1 neurofibromatosis are not so uncommon. BMJ Case Rep. 2022;15(8):e250951. doi:10.1136/bcr-2022-250951. 8. Ly KI et al.: The diagnosis and management of neurofibromatosis type 1. Medical Clinics of North America. 2019;103(6):1035-1054. doi:10.1016/j.mcna.2019.07.004. 9. Barreto-Duarte B et al.: Association between neurofibromatosis type 1 and cerebrovascular diseases in children: A systematic review. PLoS One. 2021;16(1):e0241096. doi:10.1371/journal.pone.0241096 10. Eoli M et al.: Neurological malignancies in neurofibromatosis type 1. Curr Opin Oncol. 2019;31(6):554-561. doi:10.1097/ CCO.0000000000000576. 11. Geitenbeek RTJ et al.: Diagnostic value of 18F-FDG PET-CT in detecting malignant peripheral nerve sheath tumors among adult and pediatric neurofibromatosis type 1 patients. J Neurooncol. 2022;156(3):559-567. doi:10.1007/s11060-021-03936-y. 12. Gross AM et al.: Selumetinib in children with inoperable plexiform neurofibromas. New England Journal of Medicine. 2020;382(15):1430-1442. doi:10.1056/NEJMoa1912735. 13. Plotkin SR et al.: Updated diagnostic criteria and nomenclature for neurofibromatosis type 2 and schwannomatosis: An international consensus recommendation. Genetics in Medicine. 2022;24(9):19671977. doi:10.1016/j.gim.2022.05.007. 14. Plotkin SR et al.: Hearing improvement after bevacizumab in patients with neurofibromatosis type 2. New England Journal of Medicine. 2009;361(4):358-367. doi:10.1056/NEJMoa0902579. 15. Farschtschi S et al.: Bevacizumab treatment for symptomatic spinal ependymomas in neurofibromatosis type 2. Acta Neurol Scand. 2016;133(6):475-480. doi:10.1111/ane.12490. 16. Slusarz KM et al.: Long-term toxicity of bevacizumab therapy in neurofibromatosis 2 patients. Cancer Chemother Pharmacol. 2014;73(6):1197-1204. doi:10.1007/s00280-014-2456-2. 17. Schmid S et al.: Management of von Hippel-Lindau disease: an interdisciplinary review. Oncol Res Treat. 2014;37(12):761-771. doi:10.1159/000369362. 18. Jonasch E et al.: Belzutifan for renal cell carcinoma in von Hippel– Lindau disease. New England Journal of Medicine. 2021;385(22):2036-2046. doi:10.1056/NEJMoa2103425. 19. Hsieh DT et al.: Tuberous sclerosis complex. Neurol Clin Pract. 2016;6(4):339-347. doi:10.1212/CPJ.0000000000000260. 20. Northrup H et al.: Updated international tuberous sclerosis complex diagnostic criteria and surveillance and management recommendations. Pediatr Neurol. 2021;123:50-66. doi:10.1016/j. pediatrneurol.2021.07.011. 21. Nabbout R et al.: Epilepsy in tuberous sclerosis complex: Findings from the TOSCA-Study. Epilepsia Open. 2019;4(1):73-84. doi:10.1002/ epi4.12286. 22. French JA et al.: Adjunctive everolimus therapy for treatmentresistant focal-onset seizures associated with tuberous sclerosis (EXIST-3): a phase 3, randomised, double-blind, placebo-controlled study. The Lancet. 2016;388(10056):2153-2163. doi:10.1016/S01406736(16)31419-2. 23. Franz DN et al.: Long-term use of everolimus in patients with tuberous sclerosis complex: final results from the EXIST-1 Study. Tan MH, ed. PLoS One. 2016;11(6):e0158476. doi:10.1371/journal. pone.0158476. 24. Trelinska J et al.: Maintenance therapy with everolimus for subependymal giant cell astrocytoma in patients with tuberous sclerosis (the EMINENTS study). Pediatr Blood Cancer. 2017;64(6):17. doi:10.1002/pbc.26347. 25. Kwiatkowski DJ et al.: Response to everolimus is seen in TSCassociated SEGAs and angiomyolipomas independent of mutation type and site in TSC1 and TSC2. European Journal of Human Genetics. 2015;23(12):1665-1672. doi:10.1038/ejhg.2015.47. 26. Bissler JJ et al.: Everolimus for renal angiomyolipoma in patients with tuberous sclerosis complex or sporadic lymphangioleiomyomatosis: extension of a randomized controlled trial. Nephrol Dial Transplant. 2016;31(1):111-119. doi:10.1093/ndt/gfv249. 27. Brown LW et al.: The neurologist’s role in supporting transition to adult health care: A consensus statement. Neurology. 2016;87(8):835-840. doi:10.1212/WNL.0000000000002965.
2/2024
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
19