Transkript
E D I T O R I A L Digitale Therapieangebote als Ergänzung
der konventionellen Behandlung
L ukas B. sitzt im Bus auf dem Weg zur Uni und schaut auf sein Mobiltelefon. Der 23-jährige Student liest noch einmal, was er am Vorabend auf seinem Laptop in ein internetbasiertes Selbsthilfeprogramm zur Behandlung sozialer Ängste eingetragen hat. «Ich werde mich morgen im Seminar mindestens 2-mal melden», hat er sich vorgenommen. Und: «Sätze nicht vorher im Kopf ausformulieren, einfach darauflos reden und den Blickkontakt mit den anderen Studierenden und der Dozentin halten.» In den letzten Wochen hat er mithilfe des Programms gelernt, worauf er in sozialen Situationen achten soll. Und er hat geübt, beispielsweise freies Reden vor einem auf dem Bildschirm dargebotenen Publikum. Zu Hause ist ihm das gut gelungen, aber jetzt, als es ernst wird, ist er doch sehr nervös. Er liest noch einmal die aufmunternden Worte, die ihm seine Onlinetherapeutin in die Selbsthilfeumgebung geschrieben hat.
Seit gut 20 Jahren werden digitale Therapieangebote intensiv beforscht, und ihre Anwendung hat aufgrund der Coronapandemie noch einmal deutlich Auftrieb bekommen. Das Spektrum wirksamer Interventionen reicht von interaktiven Selbsthilfeprogrammen über Blended-Therapien, in welchen Sprechzimmersitzungen mit Onlineangeboten kombiniert werden, bis zu Videotherapie- und Chat-Sitzungen. Die vorliegende Ausgabe der «Psychiatrie + Neurologie» greift diese Entwicklung mit verschiedenen Beiträgen zum Thema auf.
Während Urech und Kollegen einen Überblick über digitale Interventionen und den Stand der Evaluationsforschung bei der Behandlung von Angststörungen und Depressionen geben, befassen sich Best und Kolleginnen mit dem aktuellen Stand und mit Hindernissen der Implementierung digitaler Interventionen in psychiatrische Kliniken in der Schweiz. Trotz 2 Jahrzehnten intensiver Forschung und vielen positiven Wirksamkeitsnachweisen sind digitale Angebote bis anhin noch kaum in die psychiatrisch-psychotherapeutische Routinepraxis implementiert. Das liegt nicht nur an der noch nicht geregelten Finanzierung entsprechender Angebote in der Schweiz, sondern auch an der mangelnden Akzeptanz der neuen Therapieformate durch Fachpersonen. Die Skepsis von Fachpersonen gegenüber internetvermittelten Inter-
ventionen zeigt sich aktuell ebenso in Deutschland. Seit Inkrafttreten des Digitalen Versorgungsgesetzes im Dezember 2019 können bestimmte Selbsthilfeprogramme auf Rezept verschrieben werden (siehe Urech et al., S. 4). Wie erste Erhebungen zeigen, machen bis jetzt die wenigsten Ärztinnen und Psychotherapeutinnen von dieser durch gesetzliche Krankenkassen finanzierten Möglichkeit Gebrauch. Onlinetherapien müssen sich die Akzeptanz und ihren Stellenwert innerhalb der Psychotherapielandschaft also erst noch erarbeiten.
Foto: zVg
Thomas Berger
Digitale Interventionen gefährden etablierte Formen psychotherapeutischen Arbeitens nicht und stellen keine Konkurrenz dar, sondern können das traditionelle Setting sinnvoll bereichern und unterversorgte Menschen erreichen, zu denen auch Geflüchtete gehören. In ihrem Beitrag geben Stöckli und Kolleginnen einen Überblick über digitale Unterstützungsangebote für Geflüchtete, diskutieren das Potenzial entsprechender Anwendungen und stellen die App SUI vor, die das Schweizerische Rote Kreuz und die Universität Bern in enger Zusammenarbeit mit arabischsprachigen Geflüchteten entwickelt haben und aktuell evaluieren.
Onlineprogramme und Apps können nicht nur für therapeutische Interventionen, sondern auch für Screening- und diagnostische Zwecke eingesetzt werden. In ihrem Beitrag stellen Johannessen und Kollegen die Web-App COSIMO vor, mit der in wenigen Minuten Beeinträchtigungen der sozialen Kognition erkannt werden können. Obwohl Defizite in der sozialen Kognition bei zahlreichen neurologischen und psychischen Störungen auftreten, wird die Diagnostik entsprechender Beeinträchtigungen häufig vernachlässigt, was unter anderem daran liegt, dass es an einfach anwendbaren und ökonomischen Testverfahren mit ausreichend ökonomischer Validität fehlt. Hier eröffnen technische Anwendungen wie die COSIMO-App neue Möglichkeiten.
Lukas B. nahm sehr engagiert am Selbsthilfeprogramm gegen soziale Ängste teil und arbeitete sich Schritt für Schritt durch die Interventionsmodule. Im Verlauf der Therapie schaffte er es, regelmässig an die Uni zu gehen und Kontakt zu Kommilitonen herzustellen. Schon nach dem ersten psychoedukativen Modul begann er, sich den angstbesetzten Situationen vermehrt auszusetzen. Später berichtete er seiner Onlinetherapeutin, dass es besonders hilfreich für ihn gewesen sei, die Selbstaufmerksamkeit bei Vorträgen und im Kontakt mit seinen Kommilitonen zu reduzieren. Dadurch habe er ein deutliches Nachlassen der Anspannung in diesen Situationen erlebt. Die selbstständige Arbeit mit dem Programm sei genau das Richtige für ihn. Eine Psychotherapie hätte er aufgrund der sozialen Ängste nicht aufgesucht. Der Onlinekontakt zur Psychologin sei aber auch sehr wichtig. Ohne diese Unterstützung würde er sich nicht für die Übungen im Alltag motivieren können.
Eine interessante Lektüre wünscht Ihnen
l
Prof. Dr. Thomas Berger Universität Bern
Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie Fabrikstrasse 8, 3012 Bern
E-Mail: thomas.berger@unibe.ch
5/2022
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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