Transkript
FORTBILDUNG
Digitale psychologische Unterstützung für Geflüchtete
Foto:©Luca Christen
Rilana Stöckli Thomas Berger Eva Heim
Geflüchtete sind von schwierigen Lebensbedingungen betroffen, welche die Entwicklung von psychischen Störungen begünstigen. Der lange Asylprozess, die erschwerten Wohn- und Arbeitsbedingungen, der Verlust naher Angehöriger und die Erfahrung von Rassismus und Diskriminierung sind oft verbunden mit Symptomen wie Stress, Schlafstörungen, depressive Verstimmungen, Angststörungen und posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS). Gleichzeitig ist der Zugang zu professioneller Unterstützung oft erschwert aufgrund sprachlicher Hürden, kulturell unterschiedlicher Annahmen zu Krankheit und Gesundheit sowie aufgrund der häufig starken Stigmatisierung von psychischen Störungen in der Herkunftskultur. Für Geflüchtete können digitale Angebote eine Möglichkeit sein, wichtige Informationen in ihrer Sprache zu erhalten. Ausserdem können solche digitalen Angebote als niederschwellige Interventionen zur Behandlung oder Vorbeugung psychischer Störungen genutzt werden. In diesem Beitrag werden die bisherigen Erfolge sowie das künftige Potenzial der Nutzung von digitalen Medien für die psychologische und psychosoziale Unterstützung dargestellt.
von Rilana Stöckli1, Thomas Berger1, Eva Heim2
Bedürfnisse von geflüchteten Menschen und Herausforderungen in der Behandlung psychischer Störungen Ende 2021 waren mehr als 89 Millionen Menschen auf der Flucht (1). Innerhalb der EU wurden im Jahr 2021 mehr als eine halbe Million neue Asylgesuche gestellt. Seit 2013 suchen in der EU am häufigsten Menschen aus Syrien Asyl, gefolgt von Menschen aus Afghanistan und aus dem Irak (2). Seit dem kriegerischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 sind weitere 8,8 Millionen Menschen aus diesem Gebiet auf der Flucht (3). Geflüchtete sind nebst möglichen traumatischen Erfahrungen in ihrem Heimatland auch während und nach der Flucht vielen Herausforderungen ausgesetzt. In der Forschung werden diese Herausforderungen als prä-, peri- und postmigratorische Stressoren bezeichnet (4–6). Prämigratorische Stressoren beziehen sich zum Beispiel auf Erfahrungen mit Krieg und Folter im Heimatland, perimigratorische Stressoren sind lebensgefährliche Situationen oder die Trennung von nahen Angehörigen während der Flucht, und postmigratorische Stressoren beinhalten unter anderem den Asylprozess, die Job- oder die Wohnungssuche, Erfahrung von Rassismus oder Einsamkeit. Aufgrund der Häufung von Stressoren ist ein hoher Anteil von Geflüchteten von psychischer Belastung und psychischen Störungen betroffen. Die Prävalenz von PTBS, depressiven sowie Angststörungen beträgt rund 30 bis 40% (7, 8). Postmigratorische Stressoren sind wichtige Risikofaktoren für die Entwicklung psychischer Störungen. In einer Studie in der Schweiz waren
1 Universität Bern 2 Université de Lausanne
Integrationsschwierigkeiten, wie beispielsweise Arbeitsmarktbeteiligung und Sprachkenntnisse, mit PTBS und Depression assoziiert, und zwar über die Anzahl der traumatischen Ereignisse hinaus, denen eine Person ausgesetzt war (9). Postmigratorische Stressoren werden daher in der Literatur häufig als «strukturelle Faktoren im Aufnahmeland» bezeichnet, die die Entwicklung psychischer Störungen begünstigen können. Trotz der hohen Prävalenz psychischer Störungen erhalten Geflüchtete häufig keine oder nur ungenügende professionelle Unterstützung. In einer Studie in der Schweiz wurden mehrere Hürden gefunden, die den Zugang zu adäquater Versorgung erschweren (10). Ein ungenügendes Angebot an Therapieplätzen (z. B. mit professioneller Übersetzung) verursacht lange Wartelisten oder Abweisungen. Ausserdem bestehen häufig falsche Annahmen oder ungenügendes Wissen über psychische Störungen, verbunden mit einer Angst vor Stigmatisierung. Zudem wurde berichtet, dass Geflüchtete andere medizinische Probleme gegenüber Symptomen psychischer Belastung als wichtiger erachten. Medizinische und psychologische Fachpersonen werden mit sehr vielfältigen Herausforderungen konfrontiert, wenn sie mit Geflüchteten in Kontakt kommen. Neben rein sprachlichen Barrieren bestehen oft kulturelle Verständnisschwierigkeiten. Krankheits- und Gesundheitskonzepte von anderen Kulturen stimmen häufig nicht mit «westlichen» Krankheitskonzepten überein und werden daher häufig missverstanden (11). Ebenso stehen bei Menschen mit extremer Gewalterfahrung häufig somatische Beschwerden im Vordergrund, für die keine direkten medizinischen Ursachen gefunden werden (12), was zu Frustration auf beiden Seiten führen kann. Insgesamt erfordert die extreme Ausnahmesituation, in der sich Geflüchtete oft befinden,
14
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
5/2022
Foto:©Luca Christen
Foto: zVg
FORTBILDUNG
vom Fachpersonal ein hohes Mass an Flexibilität und Offenheit.
Digitale Angebote für Geflüchtete Verschiedene Hochschulen und Organisationen haben in den letzten Jahren begonnen, digitale psychologische Interventionen für Geflüchtete zu nutzen. Die Nutzung von Smartphones ist bei Geflüchteten stark verbreitet (13). Das Smartphone ist für Menschen auf der Flucht eine Art Lebensversicherung: Sie können damit kommunizieren, Geld transferieren, lange Wartezeiten überbrücken und Erinnerungen von zu Hause transportieren. Damit hat eine Mobile Applikation gute Chancen, von Geflüchteten genutzt zu werden. Die spezifischen Eigenschaften von digitalen Interventionen (14) bieten gerade für marginalisierte Gruppen wie Geflüchtete viele Vorteile, so zum Beispiel eine zeitund ortsunabhängige Nutzung, ein hohes Mass an Anonymität und Privatsphäre und geringe Kosten im Vergleich zu einer Face-to-Face-Psychotherapie. Digitale Selbsthilfeprogramme können mit relativ geringem Aufwand in verschiedene Sprachen übersetzt und kulturell angepasst werden. Die Wirksamkeit mobiler Apps für Geflüchtete wird derzeit von verschiedenen Forschungsgruppen untersucht (15–17). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat eine solche digitale Intervention namens Step-by-Step zur Behandlung depressiver Symptome entwickelt (18). Die mobile App beinhaltet 5 Module zur Verhaltensaktivierung, zur Verbesserung von Stressmanagement, zum Aufbau von sozialer Unterstützung sowie zur Rückfallprophylaxe. Die Inhalte werden text-, audio- und bildbasiert in einer App vermittelt. In einer grossen, randomisiert kontrollierten Studie im Libanon mit über 1000 Teilnehmenden (syrische Geflüchtete und libanesische Bevölkerung) wurden gute Effekte hinsichtlich der Symptome von Depression, Angst, PTBS sowie bezüglich des psychischen Wohlbefindens gefunden (16, 19). Allerdings zeigten sich hohe Drop-out-Raten. Stepby-Step wird zurzeit in einer grossen EU-finanzierten Studie bei Geflüchteten in Deutschland, Schweden und Ägypten getestet (20). Studien weisen darauf hin, dass Selbsthilfeinterventionen durch eine kulturelle Anpassung eine bessere Wirkung zeigen (21). Wie und was genau angepasst werden soll, ist weitgehend unklar. Die gegenwärtige Forschung arbeitet daran, mit einer wissenschaftlichen Rahmenstruktur die kulturelle Adaptation einheitlicher und replizierbarer zu dokumentieren (22). Gleichzeitig sollten digitale Interventionen so weit von kulturspezifischen Inhalten «befreit» sein, dass kein unverhältnismässiger Aufwand entsteht, um dieselbe Intervention für andere Gruppen zu verwenden (23). Dieser Ansatz wird in der Literatur als «kultursensitiv» bezeichnet (24). In der Forschung wird insbesondere den postmigratorischen, strukturellen Faktoren bis anhin wenig Beachtung geschenkt. In der Praxis zeigt sich, dass bei der psychosozialen Unterstützung von Geflüchteten nicht nur ihre kulturelle Herkunft und ihre Fluchterfahrung von Bedeutung sind, sondern vor allem ihre aktuelle Lebenslage, die sie sehr häufig mit konkreten Problemen in Bereichen wie Wohnen, Ausbildung, Arbeit oder Asylwesen konfrontiert. Im Folgenden wird eine erste mobile App mit diesem Fokus vorgestellt.
Die neue App Sui Das Schweizerische Rote Kreuz hat zusammen mit der Universität Bern die Entwicklung einer digitalen Intervention initiiert. Daraus entstanden ist die neue App Sui, die seit September 2022 in einer randomisiert kontrollierten Studie evaluiert wird. In ihrer ersten Version wurde die App für arabischsprachige Geflüchtete entwickelt, die in der Schweiz leben. Dank der bedürfnisorientierten und zielgruppennahen Entwicklung soll eine breite Gruppe arabischsprachiger Geflüchteter angesprochen werden.
Partizipativer Prozess Eine intensive Einbindung der Zielgruppe ist in der Entwicklung aufgrund mangelnder Ressourcen oft nur begrenzt möglich. Diese Einbindung ist jedoch notwendig, um das Angebot möglichst nutzer- und bedürfnisorientiert zu gestalten und damit im besten Fall die Drop-outRaten zu verringern. Die Zielgruppe arbeitet in wiederholten Feedbackloops und Überarbeitungsschritten in einem agilen Prozess mit und wird so in jeden Entwicklungsschritt eingebunden. Mit einem solchen partizipativen Vorgehen wurden die Inhalte der App Sui mit Fachpersonen aus dem Migrationsbereich und mit Geflüchteten erarbeitet. Dazu wurden eine Literaturrecherche, qualitative Interviews und Diskussionen in zahlreichen Fokusgruppen durchgeführt. Nach der Bedürfnisabklärung folgte die Entwicklung des Inhaltskonzepts für Sui. Hierfür wurde ein Advisory Board gegründet, das aus 8 syrischen Geflüchteten besteht. Zusammen mit ihnen wurden die Inhalte besprochen und anschliessend mit Fachpersonen und Fachstellen ausgearbeitet. Nachdem eine spezialisierte Sprachgruppe, bestehend aus 6 Personen aus verschiedenen arabischsprachigen Herkunftsländern, die ausformulierten Inhalte übersetzt hatte, überprüfte das Advisory Board die Texte auf Verständlichkeit und Relevanz. Im Anschluss wurden Illustrationen und Designs entwickelt, die das Advisory Board ebenfalls evaluierte. Die Rückmeldungen wurden aufgenommen, diskutiert und die Inhalte und Illustrationen entsprechend angepasst.
Fokus auf strukturelle Faktoren und psychische Gesundheit Die Ergebnisse der formativen Forschung zeigen, dass für die Geflüchteten vor allem strukturelle und administrative Alltagsschwierigkeiten im Vordergrund stehen. Geflüchtete brauchen Unterstützung bei der Wohnungs- und Stellensuche, beim Verstehen des komplexen Asylprozesses und des Gesundheitssystems. Dieses Resultat steht im Einklang mit ähnlichen Studien aus Ländern mit hohem Einkommen (5, 25–27). In den Interviews und Fokusgruppen waren Aussagen zu postmigratorischen, strukturellen Faktoren sehr häufig, wie zum Beispiel «Wenn ich ein eigenes Zimmer in einer Wohnung habe, dann kann ich besser schlafen» oder «Wenn ich meine Familie in die Schweiz holen kann, dann habe ich weniger Stress». Fachpersonen bestätigen, dass Geflüchtete in erster Linie mit solchen strukturellen Faktoren beschäftigt sind, welche die Symptome psychischer Störungen begünstigen. Häufig müssen in der Psychotherapie deshalb zuerst der Aufenthaltsstatus, der Familiennachzug, die Wohnung oder
5/2022
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
15
FORTBILDUNG
Kasten 1:
Nützliche Websites zur Unterstützung von Geflüchteten im Sprechzimmer
Es gibt bereits einige Bemühungen zur digitalen psychosozialen Unterstützung für Geflüchtete, die für Praktiker ergänzend zu ihrer Behandlung nützlich sein könnten. Hier einige Beispiele: ● Migesplus: Gesundheitsinformationen in verschiedenen Sprachen:
www.migesplus.ch ● Helpful: Informationen für Menschen aus der Ukraine:
www.helpful.redcross.ch ● Doing What Matters in Times of Stress: Ein illustrierter Selbsthilfeguide zur
Stressbewältigung in verschiedenen Sprachen: www.who.int/publications/i/item/9789240003927 ● Asylum-Info: Eine App vom Staatssekretariat für Migration mit kurzen Informationen zu verschiedenen asylbezogenen Themen in verschiedenen Sprachen: asylum-info.ch ● Hallo-Bern/Aargau/Graubünden/Baselland: Verschiedene kantonale Informationswebsites zu Integrationsthemen: www.hallo-bern.ch www.hallo-aargau.ch www.hallo.gr.ch www.hallo-baselland.ch
Übersicht über alle nützlichen Links im QR-Code.
Kasten 2:
Inhalte der App Sui
Sui stellt Schweiz-spezifische Informationen in möglichst einfacher Sprache zu folgenden Themen zur Verfügung: ● Asylprozess ● Aufenthaltsstatus ● Familiennachzug ● Finanzen ● Gesundheitssystem ● Wohnen in der Schweiz ● Arbeit und Ausbildung ● Soziale Integration Ausserdem beinhaltet die App Informationen zur psychischen Gesundheit hinsichtlich Symptomen bei psychischer Belastung: ● Stress ● Schlaf ● Chronische Schmerzen sowie Anleitungen zu einfachen psychologischen Interventionen: ● Problemlösestrategien ● Ressourcenaktivierung ● Audioübungen aus dem traumasensitiven Yoga (29)
Zusätzlich wird an der Universität Zürich ein Modul zur Behandlung der anhaltenden Trauerstörung bei syrischen Geflüchteten entwickelt. Der Verlust naher Angehöriger und die Tatsache, dass Angehörige vieler Geflüchteter verschwunden sind, tragen zusätzlich zu einer hohen Belastung bei. Das Zusatzmodul zu diesem Thema wird separat getestet und zu einem späteren Zeitpunkt in die App eingefügt.
die Arbeitssuche thematisiert und mithilfe interdisziplinärer Zusammenarbeit angegangen werden, bevor an psychischen Störungen gearbeitet werden kann. Gleichzeitig wurde deutlich, dass sich Alltagsschwierigkeiten und Symptome psychischer Störungen in einem Teufelskreis gegenseitig begünstigen. Für Praktiker, die nicht im Migrationsbereich tätig sind, kann das eine grosse Herausforderung bedeuten. Es gibt verschiedene Websites, die bereits Unterstützung bieten können (Kasten 1). Aufgrund dieser Erkenntnisse liegt der Hauptfokus der neuen App auf den postmigratorischen Schwierigkeiten. Sui hat zum Ziel, Geflüchtete in ihrem Alltag zu unterstützen und dabei besonders auf die kontextuellen Besonderheiten zu fokussieren, die Asylsuchende und aufgenommene Personen verschiedener Herkunft gemeinsam haben. Mit anderen Worten: Sui zielt vor allem auf die postmigratorischen, strukturellen Faktoren ab, welche die Entwicklung und die Aufrechterhaltung von psychischen Störungen begünstigen können. Die Linderung von Symptomen psychischer Störungen ist dabei ein eher verstecktes Ziel, das durch den indirekten Weg erreicht werden soll. Des Weiteren kann aufgrund aktueller Forschung davon ausgegangen werden, dass einfache Interventionen zum Stressmanagement, zur Verbesserung des Schlafs oder zum Aufbau positiver Aktivitäten den Allgemeinzustand der Betroffenen verbessern, wodurch es für sie wiederum einfacher wird, sich den Alltagsschwierigkeiten zu stellen. Eine einfache Selbsthilfeintervention (nicht digital) zur Verbesserung der psychischen Gesundheit von Geflüchteten in mehreren Ländern in Europa hat zum Beispiel dazu beigetragen, dass weniger Geflüchtete eine Depression oder Angststörung entwickeln (28). Das bedeutet, dass das gleichzeitige Angehen struktureller Faktoren und häufiger Symptome psychischer Belastung sehr vielversprechend sein kann. Damit die Verlinkung zwischen strukturellen Faktoren und psychischen Symptomen gelingt, wurden die Inhalte der App in Zusammenarbeit mit Fachstellen für die psychosoziale Unterstützung von Geflüchteten erarbeitet. In der gleichen App finden die Nutzenden in ihrer Muttersprache zum einen nützliche Informationen zu verschiedenen Lebensbereichen, zum anderen Selbsthilfetools für den Umgang mit häufigen psychischen Symptomen (Kasten 2). Diese Selbsthilfetools sind einfach zu nutzen und werden angeboten, falls Bedarf oder Interesse beim App-User besteht.
Storyline und Design In der App werden die User von einem kleinen Vogel namens Sui begleitet, der die Geschichten von 12 fiktiven Figuren erzählt. Diese 12 Figuren leben zusammen in einem Wohnblock in der Schweiz und werden mit verschiedenen bürokratischen Schwierigkeiten und Hindernissen und ihren persönlichen psychischen Symptomen konfrontiert. Amir beispielsweise kommt aus Syrien und leidet an chronischen Rückenschmerzen. Er möchte seine Familie aus dem Libanon in die Schweiz holen und einen Deutschkurs besuchen. Umut und Nuriye sind schon vor 25 Jahren von der Türkei in die Schweiz gezogen und haben schon viele Schweizer Besonderheiten kennengelernt. Sie können ihren Nachbarn viele Tipps geben. Anutas aus Sri Lanka besucht
16
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
5/2022
FORTBILDUNG
seit wenigen Wochen eine Psychotherapie, weil er an depressiven Symptomen leidet. Unter den 12 Figuren ist aber auch Nadia, eine Schweizerin, die frisch aus ihrem Elternhaus gezogen ist und ähnliche strukturelle Schwierigkeiten erlebt wie ihre Nachbarn. Die ausgewählten Geschichten stammen aus Erfahrungen des Advisory Boards sowie von Fachpersonen aus dem Migrationsbereich. Sie sollen den Usern aufzeigen, dass die Schwierigkeiten und Symptome, denen sie möglicherweise begegnen, völlig normal sind und sie viel Geduld, Informationen und Unterstützung brauchen und sie diese auch in Anspruch nehmen sollen.
Fazit Digitale Interventionen sind bei Geflüchteten vielversprechend, da eine kulturelle Anpassung gut umsetzbar ist, Smartphones weitverbreitet sind und der Zugang zu verschiedenen Unterstützungsangeboten durch die hohe Skalierbarkeit erleichtert wird. Verschiedene Forschungsprojekte und Entwicklungen sind im Gang, weshalb damit zu rechnen ist, dass Apps wie die dargestellte Sui auch für Fachpersonen in Zukunft als Ergänzung zur Behandlung zur Verfügung stehen werden. In der Forschungsliteratur wie auch bei Befragungen von Fachpersonen und Geflüchteten in der Schweiz wird immer wieder deutlich, dass postmigratorische, strukturelle Faktoren zu den wichtigsten Risiko- und aufrechterhaltenden Faktoren psychischer Störungen gehören. In der «Sprechzimmer»-Behandlung von Geflüchteten sowie bei digitalen Angeboten müssen diese Faktoren deshalb zwingend miteinbezogen werden. l
Korrespondenzadresse: Rilana Stöckli, MSc. Psychologin
Institut für Psychologie Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie
Fabrikstrase 8, 3012 Bern E-Mail: rilana.stoeckli@unibe.ch
Interessenkonflikte: Die Autorinnen deklarieren keine Interessenkonflikte.
Referenzen: 1. United Nations High Commisioner for Refugees, UNHCR. Figures at
a glance. Published June 16, 2022. https://www.unhcr.org/figuresat-a-glance.html. Letzter Abruf: 13.7.22. 2. Eurostat. Annual asylum statistics. March 18, 2022. https://ec.europa. eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Annual_asylum_ statistics#Number_of_asylum_applicants:_increase_in_2021. Letzter Abruf: 13.7.22. 3. United Nations High Commisioner for Refugees, UNHCR. Operational Data Portal. Ukraine Refugee Situation. https://data. unhcr.org/en/situations/ukraine. Letzter Abruf: 13.7.22. 4. Aragona M et al.: Traumatic events, post-migration living difficulties and post-traumatic symptoms in first generation immigrants: a primary care study. 2013;49(2):169-175. doi:10.4415/ANN_13_02_08. 5. Kiselev N et al.: Problems faced by Syrian refugees and asylum seekers in Switzerland. Swiss Med Wkly. Published online October 26, 2020. doi:10.4414/smw.2020.20381. 6. Maier T et al.: Trauma – Flucht – Asyl. Hogrefe; 2019. doi:10.1024/85829-000. 7. Blackmore R et al.: The prevalence of mental illness in refugees and asylum seekers: A systematic review and meta-analysis. Spiegel P, ed. PLoS Med. 2020;17(9):e1003337. doi:10.1371/journal. pmed.1003337. 8. Turrini G et al.: Common mental disorders in asylum seekers and refugees: umbrella review of prevalence and intervention studies. Int J Ment Health Syst. 2017;11(1):51. doi:10.1186/s13033-017-0156-0. 9. Schick M et al.: Challenging future, challenging past: the relationship of social integration and psychological impairment in traumatized refugees. Eur J Psychotraumatol. 2016;7(1):28057. doi:10.3402/ejpt. v7.28057. 10. Kiselev N et al.: Structural and socio-cultural barriers to accessing mental healthcare among Syrian refugees and asylum seekers in Switzerland. Eur J Psychotraumatol. 2020;11(1):1717825. doi:10.108 0/20008198.2020.1717825.
Merkpunkte:
● Trotz der hohen Prävalenz psychischer Störungen erhalten Geflüchtete häufig keine oder nur ungenügende professionelle Unterstützung.
● Für Geflüchtete können digitale Angebote eine niedrigschwellige Möglichkeit sein, um wichtige Informationen und Selbsthilfetools in ihrer Sprache zu erhalten.
● Die Wirksamkeit mobiler Apps für Geflüchtete wird derzeit von verschiedenen Forschungsgruppen intensiv beforscht, erste Ergebnisse sind vielversprechend.
● Postmigratorische Stressoren bzw. strukturelle Faktoren im Aufnahmeland sind wichtige Risikofaktoren für die Entwicklung psychischer Störungen bei Geflüchteten.
● Studien weisen darauf hin, dass Selbsthilfeinterventionen durch eine kulturelle Anpassung eine bessere Wirkung zeigen.
● Die App Sui wurde vom Schweizerischen Roten Kreuz und von der Universität Bern in einem partizipativen Prozess mit Fachpersonen aus dem Migrationsbereich und Geflüchteten in der Schweiz entwickelt. Sie fokussiert auf strukturelle Faktoren in der Schweiz.
11. Kirmayer LJ et al.: Culture and psychopathology. Curr Opin Psychol. 2016;8:143-148. doi:10.1016/j.copsyc.2015.10.020.
12. Van der Kolk B: The Body Keeps The Score. Mind, Brain and Body in the Transformation of Trauma. 1st ed. Penguin Books; 2014.
13. Maitland C et al.: A Social Informatics Analysis of Refugee Mobile Phone Use: A Case Study of Za’atari Syrian Refugee Camp. TPRC 43: The 43rd Research Conference on Communication, Information and Internet Policy Paper SSRN Electronic Journal. Published online 2015:10. doi:10.2139/ssrn.2588300.
14. Schröder J et al.: Internet interventions for depression: new developments. Dialogues Clin Neurosci. 2016;18(2):203-212. doi:10.31887/DCNS.2016.18.2/jschroeder
15. Spanhel K et al.: Engaging refugees with a culturally adapted digital intervention to improve sleep: a randomized controlled pilot trial. Front Psychiatry. 2022;13:832196. doi:10.3389/fpsyt.2022.832196
16. Cuijpers P et al.: Effects of a WHO-guided digital health intervention for depression in Syrian refugees in Lebanon: A randomized controlled trial. PLoS Med. 2022;19(6):e1004025. doi:10.1371/journal. pmed.1004025.
17. Zielasek J et al.: Adapting and implementing apps for mental healthcare. Curr Psychiatry Rep. 2022. doi:10.1007/s11920-02201350-3.
18. Carswell K et al.: Step-by-Step: a new WHO digital mental health intervention for depression. mHealth. 2018;4:34-34. doi:10.21037/ mhealth.2018.08.01.
19. Cuijpers P et al.: Guided digital health intervention for depression in Lebanon: randomised trial. Evid Based Mental Health. 2022:ebmental-2021-300416. doi:10.1136/ebmental-2021-300416.
20. Burchert S et al.: User-centered app adaptation of a low-intensity e-mental health intervention for syrian refugees. Front Psychiatry. 2019;9:663. doi:10.3389/fpsyt.2018.00663.
21. Harper Shehadeh MH et al.: Cultural adaptation of minimally guided interventions for common mental disorders: a systematic review and meta-analysis. JMIR Mental Health. 2016; 3(3):e44. doi:10.2196/ mental.5776.
22. Heim E et al.: Reporting cultural adaptation in psychological trials – the RECAPT criteria. Clin Psychol Eur. 2021;3(Special Issue):e6351. doi:10.32872/cpe.6351.
23. Balci S et al.: Culturally adapting internet- and mobile-based health promotion interventions might not be worth the effort: a systematic review and meta-analysis. npj Digit Med. 2022;5(1):34. doi:10.1038/ s41746-022-00569-x.
24. Mewes R et al.: Description of a culture-sensitive, low-threshold psychoeducation intervention for asylum seekers (Tea Garden). Clin Psychol Eur. 2021;3(Special Issue):e4577. doi:10.32872/cpe.4577
25. Drescher A et al.: Problems after flight: understanding and comparing Syrians’ perspectives in the Middle East and Europe. BMC Public Health. 2021;21(1):717. doi:10.1186/s12889-021-10498-1.
26. Kiselev N.: Barriers to access to outpatient mental health care for refugees and asylum seekers in Switzerland: the therapist’s view. BMC Psychiatry. 2020;20(1):378. doi: 10.1186/s12888-020-02783-x.
27. van der Boor CF et al.: Systematic review of factors associated with quality of life of asylum seekers and refugees in high-income countries. Confl Health. 2020;14:48. doi: 10.1186/s13031-02000292-y.
28. Purgato M et al.: Effectiveness of self-help plus in preventing mental disorders in refugees and asylum seekers in western Europe: a multinational randomized controlled trial. Psychother Psychosom. 2021;90(6):403-414. doi:10.1159/000517504.
29. Härle D: Institut für Traumatherapie. Traumasensitives Yoga TSY®. https://www.trauma-institut.eu/tsy-weiterbildung. Letzter Abruf: 13.7.22.
5/2022
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
17