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Onkologische Erkrankungen
Langzeitentwicklung von assistiertem und konventionellem Suizid in der Schweiz
In der Schweiz haben im Jahr 2022 nahezu 4 Prozent der Menschen, die an einer Krebserkrankung verstorben sind, den Weg des assistierten Suizids gewählt. Für die Zukunft ist damit zu rechnen, dass die Anzahl der Suizidhilfefälle weiter ansteigt. In dieser Arbeit zeichnen wir die Langzeitentwicklung krebsbedingter assistierter Suizide als auch krebsbedingter konventioneller Suizide seit der Jahrtausendwende nach.
UWE GÜTH1,2, KARIM ABAWI3, ROLF WEITKUNAT3, RALF J. JOX4, ANDRES R. SCHNEEBERGER5
Einleitung
Das Thema «Sterbehilfe» (der Begriff umfasst sowohl den assistierten Suizid als auch Tötung auf Verlangen) wird in nahezu allen westlichen Ländern seit Jahren intensiv und kontrovers diskutiert (1–6). In den letzten Jahren hat sich dabei eine Sichtweise durchgesetzt, dass ein Patient, mit schwerer Krankheit konfrontiert, über seinen Tod autonom entscheiden und am Ende dieses Entscheidungsprozesses auch Sterbehilfe in Anspruch nehmen darf (7–10). Im Rahmen dieser Entwicklung haben die Schweiz, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Österreich, Spanien, Kolumbien, Kanada, einzelne US-Staaten (Kalifornien, Colorado, Hawaii, Maine, Montana, New Jersey, New Mexico, Oregon, Washington, Vermont, Washington und
1 Universität Basel, Medizinische Fakultät; Basel, Schweiz 2 Brust-Zentrum Zürich; Zürich, Schweiz 3 Schweizerisches Bundesamt für Statistik, Sektion Gesundheit der Bevölkerung; Neuchâtel, Schweiz 4 Institut des humanités en médecine, Centre Hospitalier Universi taire Vaudois (CHUV) und Universität 5 University of California, Department for Psychiatry; San Diego,USA
ABSTRACT
Oncological diseases – Long-term development of assisted and conventional suicide in Switzerland
Cancer accounts for the leading share of underlying diseases of assisted dying cases worldwide. In Switzerland, around 40% of all cases of assisted suicide concern persons with cancer, which has remained constant over time. Since 1999, there has been significant growth of the annual number of cancer-related assisted suicides, doubling approximately every five years. Most recently, almost 4% of people who died of cancer in Switzerland chose assisted suicide (2022, n = 615). Cancer-related conventional (non-assisted) suicides, on the other hand, are a comparatively rare phenomenon; as of 1999, only 3,8% of conventional suicide cases have been recorded as «cancer-associated.» From 2004, the yearly prevalence has remained stable at 30–40 cases per year.
Keywords: Cancer; assisted suicide; suicide; assisted dying; end-of life decision-making.
Washington D.C), Neuseeland und die sechs australischen Bundesstaaten unterschiedliche Formen der Sterbehilfe zugelassen, bzw. die Mitwirkung daran unter bestimmten Voraussetzungen straffrei gestellt (11–14). In der Schweiz ist Sterbehilfe ausschliesslich in Form des assistierten Suizids erlaubt. Die Arbeitsgruppe um den Erstautor dieses Artikels (UG) hat in den vergangenen drei Jahren das bisher umfangreichste Publikationsprojekt in der internationalen Literatur zum Thema «Assistierter Suizid in der Schweiz» vorgelegt. In sechs Teilpublikationen wurde auf der Grundlage der Todesursachenstatistik des Schweizerischen Bundesamtes für Statistik (BFS) die Entwicklung dieses Phänomens über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren nachgezeichnet (15–20). Die Todesursachenstatistiken des BFS beziehen sich auf «die in der Schweiz wohnhaft gewesenen Personen, d.h. auf die ständige Wohnbevölkerung unabhängig von Nationalität und Ort des Todes»; Fälle von Suizidhilfe bei Menschen, die nicht in der Schweiz wohnen («Sterbetourismus») werden in diesen Statistiken nicht miterfasst (21). In dieser Arbeit präsentieren wir Daten zur Langzeitentwicklung des assistierten Suizids in der Schweiz über eine Zeitspanne von 1999 bis 2022. In diesen 24 Jahren hat das BFS 14 170 assistierte Suizide dokumentiert. Für eine onkologisch ausgerichtete Leserschaft fokussieren wir unsere Darstellung auf die Fälle, in denen Menschen den assistierten Suizid wegen einer Krebserkrankung gewählt haben. Weiterhin stellen wir die Entwicklung der krebsbedingten assistierten Suizide denen der krebsbedingten konventionellen Suizide gegenüber und testen die Hypothese, dass eine Ausweitung der Suizidhilfe Fälle des «klassischen» konventionellen Suizids verhindern kann (22–24).
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Krebs und Suizid
Wenn man den Zusammenhang zwischen Krebs und Suizid in grösseren Kohorten untersuchen möchte, bieten sich zwei Herangehensweisen an: 1. Wir untersuchen die Anzahl der Suizide in einer
Gruppe von Krebspatienten (25–33); 2. Wir untersuchen in einer Kohorte von Suizidfällen
die Fälle, bei denen eine Krebserkrankung Auslöser für den Suizid war (34–36). Bei näherem Hinsehen weisen beide Methoden in der Datenerfassung erhebliche methodische Schwachpunkte auf, die letztlich lediglich eine Annäherung an das Phänomen «Krebs und Suizid» zulassen. Dieses ist der Natur der Sache geschuldet. Es gibt wohl kaum eine andere Entscheidung im Leben eines Menschen, welche so komplex ist und vielschichtig von unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst wird wie die, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Wenn man die beiden Begriffe «Krebs» und «Suizid» in einer Arbeit als gemeinsames Phänomen untersucht, so wird beim Leser nicht selten suggeriert, dass der eine Faktor (Suizid) durch den anderen (Krebserkrankung) bedingt sein muss. Dieses hängt sicher auch mit den Assoziationen, die der Begriff «Krebs» bei den meisten Menschen noch immer hervorruft, zusammen. Wie sollte eine Erkrankung, die so untrennbar mit «Leid/Sterben/Tod» verbunden wird, nicht auch von den Betroffenen als so schwerwiegend erlebt werden, dass daraus eine Häufung an Suiziden resultiert? Auch eine im Frühstadium diagnostizierte Erkrankung mit exzellenter Heilungschance kann von den Betroffenen als stigmatisierend und erheblich erschütternd erlebt werden (37). Wenn man den Ansatz wählt, eine Kohorte von Krebspatienten im Hinblick auf einen Suizid zu untersuchen, muss man sich zunächst von der impliziten Vorannahme lösen, wonach die Krebserkrankung den Entscheid zum Suizid bedingt. Eine erhöhte Suizidrate bei Krebserkrankten könnte zum Beispiel auch dadurch bedingt sein, dass bestimmte Krebsarten mit Faktoren verbunden sind, die auch für einen konventionellen Suizid prädisponieren. Hier könnte das Bronchialkarzinom oder maligne Tumoren im HNO-Bereich als Beispiel angeführt werden: Höheres Alter, männliches Geschlecht, Suchtverhalten im Hinblick auf Nikotin und Alkohol stellen nicht nur Risikofaktoren für die genannten Krebserkrankungen, sondern auch für eine Suizidalität dar, die Krebserkrankung ist dann also kein unabhängiger Risikofaktor für einen Suizid (25–27, 29). Um abschätzen zu können, ob und inwieweit eine Krebserkrankung Einfluss auf die Suizidalität hatte, müssen wir im Einzelfall also genaue Informationen haben, in welcher Lebenssituation der Suizid gewählt wurde. «Krebspatient» sagt nämlich noch nicht, ob und wie sehr die Betroffenen zum Zeitpunkt des Suizids an dieser Erkrankung gelitten haben. In einer Ko-
horte von Krebspatienten befinden sich auch Menschen, die die Krankheit überwunden haben und als geheilt gelten. Wenn diese Menschen einen Suizid begehen, so ist dieses ein Suizid, der eine Vielzahl von Gründen haben kann: nicht krebsbedingte Lebenskrisen, schwere andere somatische und/oder psychiatrische Erkrankungen oder andere Gründe. Eine Reihe epidemiologischer Studien haben sich dem Thema «Krebs und Suizid» genähert, in dem sie Daten regionaler und nationaler Krebsregister ausgewertet haben (25–33). Diese beeindrucken zwar mit grossen Patientenkohorten. Dennoch muss der Ansatz dieser Arbeiten kritisch gesehen werden, da diese kaum in der Lage waren, die definierte Zielvariable in klinisch relevanter Form abzubilden. Um den Zusammenhang zwischen Krebserkrankung und Suizid darzustellen, wäre eine Minimalvoraussetzung, dass man in der Mehrzahl der Fälle gesicherte Angaben zu den folgenden wichtigen Situationen/Kategorien hätte: 1. Status der Krebserkrankung:
a. No evidence of disease: Die Erkrankung galt als geheilt.
b. Diagnose einer Fernmetastasierung: Die Erkrankung kann zwar durch Therapien, häufig auch noch über einen längeren Zeitraum, stabilisiert und zurückgedrängt werden, die Patienten sind aber mit der Gewissheit einer nicht mehr heilbaren Erkrankung konfrontiert. Häufig leiden die Patienten in dieser Phase an krankheitsbedingten Symptomen.
c. Späte palliative Situation: In diesem Spätstadium der Erkrankung ist die Betreuung der Patienten vor allem auf die Linderung krankheitsbedingter Symptome und Beschwerden ausgerichtet. Das Lebensende muss in wenigen Wochen oder Monaten erwartet werden.
2. andere schwere akute oder chronische somatische Erkrankungen;
3. psychiatrische Erkrankungen. Bei keiner der epidemiologischen Arbeiten zum Thema hatten die Autoren offenbar einen so qualitativ hochwertig recherchierten Datensatz zur Verfügung, dass Informationen zu oben genannten Kategorien vorlagen (25–33). Wenn diese aber nicht vorlagen, so darf die kritische Anmerkung erlaubt sein, dass diese Arbeiten lediglich die Anzahl der Suizide von Menschen, die in der Vergangenheit einmal eine Krebsdiagose hatten, präsentieren. Das erscheint aber doch recht mager und wirft die Frage auf, auf welcher Basis die Autoren ihre Schlussfolgerungen formuliert haben. Möglicherweise ist es bei dem Thema «Krebs und Suizid» auch verfehlt, grosse anonymisierte Datenmengen auszuwerten. Wenn der Ansatz einer Methode falsch ist, wird dieser auch nicht dadurch besser, dass Daten von grossen Kohorten berichtet werden. Quantität führt hier nicht zu mehr Qualität.
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In einer früheren Studie zum Thema «Suizid bei Brustkrebspatientinnen», hat die Basler Autorengruppe um den Erstautor diese Arbeit (UG) einen anderen Ansatz gewählt. Hier konnte in der Mammakarzinom-Datenbank des Universitätsspitals Basel zwar nur eine Studiengruppe mit insgesamt 1165 Patientinnen ausgewertet werden. Die Suizidrate dieser Schweizer Brustkrebskohorte (die Diagnose erfolgte in den Jahren 1990–2006) betrug 5,1/1000 Patientinnen – und war damit 2- bis 7-mal höher, als die in epidemiologischen Studien aus den USA und Skandinavien berichteten (36). Dieses konnte auch daran liegen, dass in der Hälfte der Fälle die Selbsttötung durch assistierten Suizid erfolgte und diese Form des Suizids in den Vergleichsländern verboten war, bzw. noch ist; diese Fälle kommen daher entweder nicht vor, oder werden, da sie in einem semilegalen Graubereich erfolgen, verschwiegen. Die vergleichsweise geringe Anzahl der Suizide in der Basler Kohorte erlaubte aber einen fallspezifischen Ansatz, den individual-based approach der psychologischen Autopsiemethode. Hier konnte in jedem Einzelfall der Hintergrund und die Motivation des Suizides aufgezeigt werden. In einem Drittel der berichteten Fälle lag klar eine andere schwere somatische, bzw. eine psychiatrische Komorbidität als Grund für den Suizid vor, das Mammakarzinom spielte bei der Entscheidungsfindung keine Rolle. Diese Zahl ist wichtig, wir können damit die Daten epidemiologischer Arbeiten etwas besser einordnen und annehmen, dass auch in den dort untersuchten Kohorten in einem Drittel der Fälle die Krebserkrankung keinen Einfluss auf den Sterbewunsch hatte. In allen anderen identifizierten Suizidfällen lagen bei den Patientinnen eine metastasierte Erkrankung in fortgeschrittenem Stadium mit einer voraussichtlichen Überlebenszeit von wenigen Wochen vor. Bemerkenswert. In keinem Fall erfolgte der Suizid zum Zeitpunkt der Erstdiagnose oder kurz nach der Diagnose von Fernmetastasen.
Eine Hypothese «Pro assistierten Suizid»
Von Befürwortern des assistierten Suizids wird zuweilen die Hypothese vertreten, die Liberalisierung des assistierten Suizids könne zu einer Senkung der Zahl «klassischer» konventioneller Suizide führen (22–24). Dabei werden oft Beispiele angeführt, in denen Menschen an einer schweren, unheilbaren Krankheit leiden. Im Spätstadium der Erkrankung sind diese dann durch die schweren körperlichen Symptome der Erkrankung, und ohne Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Situation, so verzweifelt, dass sie für sich nur noch den Weg der Selbsttötung sehen. Wenn ihnen in dieser Situation der Weg des assistierten Suizids verwehrt wäre (wie in Ländern, in denen die Sterbehilfe nicht erlaubt ist), so bliebe ihnen nur der Ausweg eines konventionellen Suizids. Nicht zu Unrecht wird dann darauf hingewiesen, dass der im Vorfeld
A
B
Abbildung 1: Entwicklung des assistierten und des konventionellen Suizids in der Schweiz (1999–2022). A. Gesamtentwicklung (alle Fälle); B. nur krebsbedingte Selbsttötungen.
gut vorbereitete assistierte Suizid, begleitet von erfahrenen Helfern und idealerweise auch in Anwesenheit von Familie und Freunden, die weit humanere «Lösung» darstelle als der einsame Tod des nicht assistierten Suizids, bei dem häufig aggressive Suizidmethoden zum Einsatz kommen (Erschiessen, Erhängen, Sturz in die Tiefe, Überfahren lassen, etc.), die sowohl das private Umfeld, als auch Aussenstehende, die den Akt der Selbsttötung zufällig miterleben, erheblich traumatisieren können. Wenn man diesem Pro-Argument des assistierten Suizids folgt, so müsste die Zulassung der Sterbehilfe zu einer Verringerung der nicht assistierten Suizide führen. Für die Schweiz, in welcher die Fallzahlen der assistierten Suizide in den letzten 25 Jahren erheblich zugenommen haben (16, 17), müsste also ein gegenläufiger Effekt bei den konventionellen Suiziden zu erkennen sein.
Vergleich der Entwicklung assistierter Suizid versus konventioneller Suizid
Bei der parallelen Ansicht der Schweizer Fallzahlen der jeweiligen Suizidformen zeigt sich, dass die Sterbehilfefälle seit der Jahrtausendwende deutlich zu-
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Tabelle 1:
Krebsbedingte Todesfälle in der Schweiz (1999–2022) sowie Selbsttötungen mit Krebserkrankungen als dem Sterbewunsch zugrunde liegende Erkrankung1
Beobachtungszeitraum: Alle Todesfälle (Männer und Frauen)
medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes Krebserkrankung als Todesursache
Anteil bezogen auf alle Todesfälle medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes Assistierter Suizid Anteil bezogen auf alle Todesfälle medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes Geschlechterverteilung: Frauen
1999–2017 2018–2022
1 194 835
356 680
82 83
306 250
85 582
25,6%
24,0%
74 76
7562 6608
0,6%
1,9%
78 81
57,3%
58,8%
Angabe einer Krebserkrankung als dem assistierten Suizid zugrundeliegende Erkrankung
3112
2582
Anteil bezogen auf alle krebsbedingten Todesfälle1 1,0% 3,0%
Anteil bezogen auf alle assistierten Suizide
41,1%
39,1%
medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
74 76
Geschlechterverteilung: Frauen
51,3%
52,0%
Konventioneller Suizid
22 018
4953
Anteil bezogen auf alle Todesfälle
1,8%
1,4%
medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
52 56
Geschlechterverteilung: Männer
72,5%
72,0%
Angabe einer Krebserkrankung als dem Suizid potenziell zugrundeliegende Erkrankung
787 209
Anteil krebsassoziierter Suizide bezogen auf alle Suizide medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes Geschlechterverteilung: Männer
3,7% 73 79,1%
4,2% 74 82,0%
1 Das ICD-Regelwerk der WHO sieht vor, diejenige Krankheit als Todesursache zu bezeichnen, welche am Anfang des zum Tode führenden Verlaufs steht. In diesem Sinne ist der assistierte Suizid in der Regel die Ultima Ratio am Ende eines schweren Krankheitsverlaufs. Dementsprechend werden in der Todesursachenstatistik des BFS die krebsbedingten assistierten Suizide als krebsbedingte Todesfälle registriert. Wenn bei einem konventionellen Suizid in der Sterbeurkunde eine Krebserkrankung als Begleiterkrankung angegeben wird, so geht dieses nicht als krebsbedingter Todesfall in die Statistik ein; der Kausalzusammenhang «Suizid – Krebserkrankung» ist in vielen Fällen nicht gegeben, bzw. nicht gesichert.
genommen haben, die Fallzahlen der konventionellen Suizide aber stagnieren (Abbildung 1, Tabelle 1); seit 2010 bewegt sich die Anzahl dieser «klassischen» Suizide stabil um einen Wert von ca. 1020 Fällen pro Jahr (2010–2022, Spanne 958–1071). Im Jahr 1999 standen noch 63 Fälle des assistierten Suizids 1234 Fällen des konventionellen Suizids gegenüber; die assistierten Suizide machten damals gerade einmal 5% aller Selbsttötungen aus. In den letzten Jahren haben sich die beiden Suizidformen aber quantitativ immer weiter angenähert. Das Jahr 2018 markiert einen «Meilenstein» in der Entwicklung der Sterbehilfe in der Schweiz, in diesem Jahr wurden erstmals mehr Suizidhilfefälle als konventionelle Suizide registriert (17). Im Jahr 2022 betrug der Anteil der assistierten Suizide an allen Selbsttötungen 63% (n = 1595 vs. n = 958); die Rate der assistierten Suizide bezogen auf die Gesamtzahl aller Todesfälle lag bei 2,1%. Die Tatsache, dass sich die Anzahl der Suizidhilfefälle seit 1999 etwa alle fünf Jahre verdoppelt hat, dieses aber ohne signifikanten gegenläufigen Effekt bei der
Anzahl der konventionellen Suizide, stützt die oben genannte Hypothese der Befürworter der Sterbehilfe zunächst nicht. Um einen Vergleich «Assistierter Suizid vs. konventioneller Suizid» vornehmen zu können, bedarf es aber zunächst einer generellen Klärung, in welchen Situationen die jeweilige Suizidform erfolgt. Der assistierte Suizid erfolgt in der Regel im Spätstadium einer unheilbaren, in absehbarer Zeit zum Tod führenden somatischen Erkrankung oder wenn «Krankheitssymptome und/oder Funktionseinschränkungen» vorliegen, die «Ursache unerträglichen Leidens» sind (z.B. neurodegenerative Erkrankungen, chronische Schmerzsyndrome, aber auch eine multifaktorielle Altersmorbidität) (15–20). Die häufigsten Gründe eines «klassischen» Suizids dürften dagegen akute Krisensituationen oder psychiatrische Erkrankungen sein (17, 38–40). Diese sind in vielen Fällen vor der Tat gar nicht als therapiebedürftige Situation von der Aussenwelt erkannt worden. Dieses spiegelt sich auch darin, dass das BFS nur in etwa der Hälfte der konventionellen Suizidfälle in der Schweiz eine der Tat zugrundeliegende Erkrankung registriert, in 53% der Fälle enthielten die Todesursachenmeldungen keine Angaben zu Begleitkrankheiten. Wenn eine Angabe vorlag, wiesen 57 Prozent der Nennungen auf eine Depression als potenziell auslösenden Faktor für den Suizid (17). Unterschiede zwischen den Suizidformen bestehen aber nicht nur hinsichtlich der zugrunde liegenden Situationen und Motivationen. Beide Formen unterscheiden sich auch erheblich hinsichtlich ihrer Alters- und Geschlechtsverteilungen. Der assistierte Suizid wird in der Schweiz mehrheitlich von Frauen gewählt (im Beobachtungszeitraum 1999–2022: 57% der Fälle), «klassische» Suizide sind dagegen eine männliche Domäne: in fast drei Viertel der Fälle werden diese von Männern verübt. Während der assistierte Suizid ein Altersphänomen ist (das mediane Alter in o.g. 24-Jahres-Zeitraum lag bei 80 Jahren; bei den nicht krebsbedingten Sterbehilfefällen lag es sogar bei 83 Jahren), erfolgen die konventionellen Suizide bei deutlich jüngeren Menschen, hier lag das mediane Alter zum Zeitpunkt des Suizids bei 53 Jahren. Gerade mit dem Hinweis darauf, dass beiden Suizidformen sehr unterschiedliche Situationen und Motivationen zugrunde liegen, besteht unter Experten ein allgemeiner Konsensus, dass die Entwicklung der assistierten Suizide höchstens sehr eingeschränkt, wenn überhaupt, «auf Kosten» der konventionellen Suizide erfolgte, also im Verlauf keine oder nur eine geringe Verschiebung «klassischer» Fälle in die Sterbehilfegruppe stattgefunden hat (17). Der beobachtete Verlauf wird eher mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen begründet. Während die Steigerung der Fälle mit assistierten Suizid einer Entwicklung Ausdruck gibt, die die Suizidhilfe zunehmend als gesellschaftlich akzeptierte Option aner-
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kennt, ist die Senkung der konventionellen Suizidfälle nicht zuletzt gesteigerten Präventionsmassnahmen zuzuschreiben. Diese versuchen gezielt, suizidale Handlungen durch Hilfestellungen bei persönlichen Krisensituationen und psychiatrischen Erkrankungen zu verhindern. Während der letzten Jahre hat sich dabei die Bereitschaft gefährdeter Personen offenbar gesteigert, diese Angebote auch anzunehmen (41).
Krebsbedingter assistierter Suizid versus krebsassoziierter konventioneller Suizid
Um die Hypothese, dass die Senkung der Rate an konventionellen Suiziden durch die Etablierung der Suizidhilfe bedingt ist, zu prüfen, eignet sich eigentlich auch nur eine Auswahl von Fällen, bei denen die Situationen vor dem Suizid sowohl für die assistierten Suizide als auch für die konventionelle Form in etwa vergleichbar sind. Bei näherem Hinsehen ist ein Vergleich vor allem bei den Fällen möglich, bei denen Krebserkrankungen der Auslöser für den Sterbewunsch waren. Dazu bedarf es der oben unter 2. genannten Studienmethode: der Auswertung einer Kohorte von Suizidfällen, in denen die Fälle, bei denen eine Krebserkrankung Auslöser für den Suizid war, identifiziert sind. Bei der Suizidhilfe liegt in der Schweiz stets ein Bericht des Arztes vor, welcher die Indikation zum assistierten Suizid geprüft und dann auch das zum Tod führende Medikament rezeptiert hat. Wenn Krebserkrankungen der Hintergrund für den Sterbewunsch des Patienten waren, so ist dieses dann auch klar und eindeutig dokumentiert. Bei den konventionellen Suiziden hat die Studienmethode aber naturgemäss Schwachpunkte. So könnten den Ärzten, welche die Todesursachenmeldungen ausgefüllt haben, Krebserkrankungen als mögliche Gründe für den konventionellen Suizid gar nicht bekannt sein. Auf der anderen Seite können wir davon ausgehen, dass viele Jahre zurückliegende Krebserkrankungen, bei denen der Einfluss auf den jetzt vorgenommenen Suizid sehr unwahrscheinlich erscheint, in der Todesursachenmeldung auch nicht aufgeführt werden. Bei Erkrankungen im Spät- und Endstadium der Erkrankung liegt der Fall natürlich anders. Hier nimmt die Krebserkrankung einen so wichtigen Teil im Leben eines Menschen ein, dass sie dem Umfeld und dem Arzt bekannt ist. In diesen Fällen kann man davon ausgehen, dass die Krankheit auch auf der Todesursachenmeldung vermerkt wurde. Auch dann ist zwar nicht gesichert, dass die Erkrankung der ausschliessliche Grund für den Suizid war, es besteht aber eine gewisse Plausibilität, dass sie zumindest ein wesentlicher Faktor war. In unserer Schweizer Studiengruppe kann das Medianalter der Menschen, bei denen nach einem konventionellen Suizid eine Krebserkrankung als Begleiterkrankung in der Todesursachenmeldung vermerkt wurde, als Indiz dafür gelten, dass hier im Wesentlichen Menschen im
Abbildung 2: Entwicklung des Anteils der krebsbedingten assistierten Suizide an der Gesamtzahl aller krebsbedingten Todesfälle.
Spät- und Endstadium ihrer Erkrankung abgebildet sind. Im gesamten Beobachtungszeitraum (1999– 2024) lag das Alter mit 73 Jahren nämlich deutlich über dem Medianalter der übrigen konventionellen Suizide (53 Jahre) und nahe an den Altersmedianen der krebsbedingten assistierten Suizide und der krebsbedingten Todesfälle generell (je 75 Jahre). Dieses möchten wir als Indiz dafür werten, dass der Vergleich der assistierten und konventionellen Suizide bei Menschen mit Krebserkrankungen vergleichsweise homogene Gruppen untersucht. Analysiert man den Verlauf krebsbedingter assistierter Suizide nach der Jahrtausendwende in 5-Jahres-Intervallen, so zeigt sich, parallel zum Anstieg der Gesamtzahl aller Sterbehilfefälle, ein ebenso signifikanter Anstieg der krebsbedingten assistierten Suizide mit einer Verdoppelung der Fallzahlen in jedem folgenden
Merkpunkte
n Krebserkrankungen bilden weltweit die grösste Indikationsgruppe zur Sterbehilfe. In der Schweiz beträgt der Anteil krebsbedingter Fälle an der Gesamtzahl aller assistierter Suizide konstant etwa 40%.
n Seit der Jahrtausendwende kam es zu einem markanten Anstieg der jährlichen Fallzahlen, etwa alle 5 Jahre hat sich die Anzahl der krebsbedingten assistierten Suizide verdoppelt. Die prozentuale Verteilung der den assistierten Suiziden zugrunde liegenden Subtypen maligner Erkrankungen bleibt über die Zeit unverändert.
n Zuletzt haben in der Schweiz nahezu 4% der Menschen, die an einer Krebserkrankung verstorben sind, den Weg des assistierten Suizids gewählt (2022, n = 615).
n Krebsbedingte konventionelle Suizide sind dagegen ein vergleichsweise seltenes Phänomen; seit 1999 wurden lediglich 3,8% der Fälle konventioneller Suizide als «krebsassoziiert» erfasst. Seit 2004 zeigt sich mit 30 bis 40 Fällen pro Jahr eine konstante Anzahl der jährlichen Fallzahlen.
n Die Hypothese, dass über die Jahre mit einer zunehmenden Etablierung der Suizidhilfe für Patienten mit einer Krebserkrankung im Spätstadium Fälle des «klassischen» Suizids zurückgedrängt werden können, hat sich nicht bestätigt.
n Offenbar unterscheiden sich Ausgangssituation und Motivationen zum konventionellen Suizid von denen der assistierten Suizide.
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Tabelle 2.1:
Krebsbedingte assistierte Suizide bei Männern in der Schweiz (1999–2022) mit Berücksichtigung der vier häufigsten Krebsarten1
Beobachtungszeitraum:
Alle krebsbedingten Todesfälle
Anteil bezogen auf alle ♂ Todesfälle medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
– Krebsbedingte ♂ assistierte Suizide Anteil bezogen auf alle ♂ krebsbedingten Todesfälle medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
Bronchialkarzinom, alle Todesfälle
Anteil an allen ♂ Krebstodesfällen medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
– Assistierter Suizid wegen Bronchialkarzinom
medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
Anteil an allen ♂ Bronchialkarzinom-Todesfällen Anteil an allen ♂ assistierten Suiziden Prostatakarzinom, alle Todesfälle
Anteil an allen ♂ Krebstodesfällen medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
– Assistierter Suizid wegen Prostatakarzinom
medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
Anteil an allen ♂ Prostatakarzinom-Todesfällen Anteil an allen ♂ assistierten Suiziden Kolorektales Karzinom, alle Todesfälle
Anteil an allen ♂ Krebstodesfällen medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
– Assistierter Suizid wegen kolorektalem Karzinom
medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
Anteil an allen ♂ Kolorektalkarzinom-Todesfällen Anteil an allen ♂ assistierten Suiziden Pankreaskarzinom, alle Todesfälle
Anteil an allen ♂ Krebstodesfällen medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
– Assistierter Suizid wegen Pankreaskarzinom
medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
Anteil an allen ♂ Pankreaskarzinom-Todesfällen Anteil an allen ♂ assistierten Suiziden
1999–2017 2018–2022
169 343
46 666
27,3%
26,8%
74 Jahre
76 Jahre
1595 1237
1,0%
2,7%
76 Jahre
77 Jahre
38 592
9485
22,8%
20,3%
72 Jahre
73 Jahre
212 178
72 Jahre
74 Jahre
0,5%
1,9%
6,5%
6,5%
25 131
6708
14,8%
14,4%
81 Jahre
83 Jahre
319 249
80 Jahre
81 Jahre
1,3%
3,7%
9,6%
9,2%
17 023
4471
10,1%
9,6%
75 Jahre
76 Jahre
175 124
73 Jahre
76 Jahre
1,0%
2,8%
6,2%
4,6%
9926
3560
5,9%
7,6%
71 Jahre
74 Jahre
111 101
73 Jahre
72 Jahre
1,1%
2,8%
3,9%
3,6%
1 Die vier häufigsten Karzinomsubtypen (Bronchial-, kolorektales, Pankreas- und Prostatakarzinom) machen 54% der krebsbedingten männlichen Todesfälle und 52% der krebsbedingten männlichen assistierten Suizide aus.
5-Jahres-Intervall (1999–2003: n = 228; 2004–2008: n = 474, + 108% gegenüber dem vorherigen Zeitraum; 2009–2013: n = 920, + 94%; 2014–2018: n = 1958, + 113%; Abbildung 1) (15, 17). Während des gesamten Beobachtungszeitraums bildeten Krebserkrankungen die grösste Indikationsgruppe zur Suizidhilfe. Dabei zeigte sich eine erstaunliche Konstanz in der Verteilung der Indikation «krebsbedingter assistierter Suizid» an der Gesamtzahl aller Suizidhilfefälle; diese lag in o.g. 5-Jahres-Intervallen um einen Wert von 40% (39,2%, 40,8%, 42,3% und 40,6%). Im internationalen Vergleich ist dieses aber ein niedriger Wert. Ein Vergleich mit anderen Ländern, die eine ähnlich lange Sterbehilfetradition, bzw. einen ähnlich hohen Prozentsatz von Sterbehilfefällen an der Gesamtzahl aller Todesfälle haben (z. B. die Niederlande, Belgien, Ka-
nada, einige US-Bundesstaaten), zeigt, dass dort der Anteil krebsbedingter Fälle bezogen auf die Gesamtzahl aller Sterbehilfefälle aktuell mit 55–65% deutlich höher liegt (42–47). Die hohe Rate an nicht krebsbedingten assistierten Suiziden in der Schweiz ist sicher auch dem Engagement der Schweizer Sterbehilfeorganisationen geschuldet. So propagiert EXIT, der mitgliederstärkste und hinsichtlich Öffentlichkeitsarbeit auch einflussreichste Verein, seit Jahren den «Altersfreitod» für Menschen in Fällen, in denen «die Summe ihrer Schmerzen und Gebrechen als unerträglicher Leidenszustand» empfunden wird (48). Es darf in diesem Zusammenhang aber auch darauf hingewiesen werden, dass der geringere Anteil von Krebspatienten an den assistierten Suiziden in der Schweiz auch auf eine exzellente Qualität der onkologischen Palliativpflege zurückgeführt werden kann. Patienten mit einer inkurablen onkologischen Grunderkrankung können am Ende ihres Weges in der Schweiz auf eine kompetente Betreuung und eine bestmögliche Symptomkontrolle ihrer Beschwerden vertrauen. Die Tabellen 1 und 2 zeigen die Langzeitentwicklung der krebsbedingten Suizidhilfe in der Schweiz. Um aktuelle Trends besser darzustellen, wurden in der tabellarischen Darstellung die Daten der Jahre 1999–2017 denen der jüngsten 5-Jahres-Periode (2018–2022) gegenübergestellt. Der assistierte Suizid ist in der Schweiz generell ein Altersphänomen mit einem Überhang an Frauen: im aktuellen Beobachtungszeitraum von 2018 bis 2022 lag das mediane Alter der Menschen, die mit assistiertem Suizid gestorben sind, bei 81 Jahren, Frauen bildeten mit 58% der Fälle die Mehrheit. Etwas anders sehen Altersstruktur und Geschlechterverteilung bei den krebsbedingten assistierten Suiziden aus: das mediane Alter zum Zeitpunkt des Todes lag mit 76 Jahren deutlich niedriger als bei den nicht krebsbedingten Sterbehilfefällen (hier lag es bei 84 Jahren) und entspricht exakt dem medianen Sterbealter aller krebsbedingten Todesfälle in der Schweiz; die Geschlechterverteilung ist nahezu ausgeglichen (♂: 48%; ♀: 52%). Besondere Aufmerksamkeit verdient die Entwicklung der Zahlen hinsichtlich des Verhältnisses der krebsbedingten assistierten Suizide zu allen Krebstodesfällen («Wie viel Prozent der Menschen, die in der Schweiz an einer Krebserkrankung sterben, wählen den assistierten Suizid?»). Zu Beginn des Beobachtungszeitraums lag dieser Prozentsatz noch bei 0,3 % (mit einer Spanne bei den einzelnen Krebssubtypen von 0,1–0,4%). Abbildung 2 zeigt, dass sich über die vergangenen 24 Jahre ein stetiger und für alle Krebssubtypen in etwa gleichförmiger Anstieg der entsprechenden Prozentsätze entwickelt hat. Im Jahr 2022 betrug dieser für die Gesamtgruppe aller Krebserkrankungen 3,6% (♂: 3,9%; ♀: 3,3%). Innerhalb der einzelnen Krebssubtypen waren die Unterschiede nur relativ gering (Bronchialkarzinom: 2,6%; Kolorek-
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tales Karzinom: 3,5%; Pankreaskarzinom: 4,2%; Prostatakarzinom: 4,8%; Mammakarzinom: 5,4%; alle anderen Malignome: 3,4%). Die stabile Verteilung der den krebsbedingten assistierten Suiziden zugrunde liegenden Erkrankungen könnte als Hinweis darauf gedeutet werden, dass die Verläufe und Leidenszustände in den späten und terminalen Phasen der jeweiligen Erkrankungen im Wesentlichen ähnlich sind. Es scheint jedenfalls keine Krankheit zu geben, bei der die klinische Symptomatik in der Endphase so quälend oder angsteinflössend wäre, dass die Betroffenen häufiger den Weg des assistierten Suizids suchen. Auch hätte man sich durchaus vorstellen können, dass Patienten, die an langsam fortschreitenden Krebsarten, z. B . einem Mamma- oder Prostatakarzinom leiden, auch eine höhere Rate an assistierten Suiziden aufweisen; umgekehrt formuliert: dass Patienten, die an einer schnell fortschreitenden Krebsart, z. B . einem Pankreas- oder Magenkarzinom leiden und daher nicht genügend Zeit für den Entscheidungsprozess haben, dann auch eine geringere Rate an assistierten Suiziden haben. Unsere Daten können diese Überlegungen jedoch nicht stützen (17). Wie gezeigt, kam es über die vergangenen 24 Jahre zu einer markanten Steigerung der Fallzahlen krebsbedingter assistierter Suizide. Nach den Daten des BFS waren krebsbedingte konventionelle Suizide dagegen ein vergleichsweise seltenes Phänomen: 5694 Fällen mit krebsbedingtem assistierten Suizid standen lediglich 996 Fälle mit krebsbedingtem «klassischen» Suizid gegenüber. Innerhalb der konventionellen Suizide wurden lediglich 3,8% der Fälle als «krebsassoziiert» erfasst. Ist der konventionelle Suizid schon per se eine männliche Domäne (72% der Fälle), so ist der männliche Überhang beim krebsbedingten konventionellen Suizid mit 80% sogar noch stärker ausgeprägt. Zu Beginn unseres Beobachtungszeitraums fand sich noch eine Senkung der Fallzahlen (1999–2013: n = 231 vs. 2004–2008: n = 180, s. Abbildung 1B), im weiteren Verlauf blieben die Zahlen aber relativ stabil: seit 20 Jahren wird in den Sterbeurkunden lediglich bei 30–40 Fällen pro Jahr ein konventioneller krebsassoziierter Suizid erfasst (17). Wir interpretieren die Entwicklung der Zahlen so, dass die beiden untersuchten Entitäten nur bedingt miteinander zusammenhängen. Mit der Ausweitung des assistierten Suizids hat sich sicher dessen gesellschaftliche Akzeptanz erhöht. Er wurde in den letzten 20 Jahren zu einer Option für viele Menschen, auch für Patienten im Spät- und Endstadium einer Krebserkrankung. Diese Entwicklung spiegelt sich in einer signifikanten Zunahme der Fälle der krebsbedingten assistierten Suizide. Die Annahme, dass über die Jahre mit der zunehmend offenstehenden Option der Sterbehilfe für Patienten mit einer Krebserkrankung der konventionelle Suizid «überflüssig» wird
Tabelle 2.2:
Krebsbedingte assistierte Suizide bei Frauen in der Schweiz (1999-2022) mit Berücksichtigung der vier häufigsten Krebsarten1
Beobachtungszeitraum
Alle krebsbedingten Todesfälle
Anteil bezogen auf alle ♀ Todesfälle medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
– Krebsbedingte ♀ assistierte Suizide Anteil bezogen auf alle ♀ krebsbedingten Todesfälle medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
Mammakarzinom, alle Todesfälle
Anteil an allen ♀ Krebstodesfällen medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
– Assistierter Suizid wegen Mammakarzinom
medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
Anteil an allen ♀ Mammakarzinom-Todesfällen Anteil an allen ♀ assistierten Suiziden Bronchialkarzinom, alle Todesfälle
Anteil an allen ♀ Krebstodesfällen medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
– Assistierter Suizid wegen Bronchialkarzinom
medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
Anteil an allen ♀ Bronchialkarzinom-Todesfällen Anteil an allen ♀ assistierten Suiziden Kolorektales Karzinom, alle Todesfälle
Anteil an allen ♀ Krebstodesfällen medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
– Assistierter Suizid wegen kolorektalem Karzinom
medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
Anteil an allen ♀ Kolorektalkarzinom-Todesfällen Anteil an allen ♀ assistierten Suiziden Pankreaskarzinom, alle Todesfälle
Anteil an allen ♀ Krebstodesfällen medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
– Assistierter Suizid wegen Pankreaskarzinom
medianes Alter zum Zeitpunkt des Todes
Anteil an allen ♀ Pankreaskarzinom-Todesfällen Anteil an allen ♀ assistierten Suiziden
1999–2017 2018–2022
136 907
38 916
22,2%
21,3%
75 Jahre
77 Jahre
1517 1345
1,1%
3,5%
73 Jahre
75 Jahre
27 233
6848
19,9%
17,6%
73 Jahre
76 Jahre
333 306
73 Jahre
75 Jahre
1,2%
4,5%
7,7% 7,9%
20 438
6812
14,9%
17,5%
70 Jahre
73 Jahre
227 216
70 Jahre
74 Jahre
1,1%
3,2%
5,3%
5,6%
15 018
3561
11,0%
9,2%
79 Jahre
79 Jahre
162 124
74 Jahre
77 Jahre
1,1%
3,5%
3,8%
3,2%
9902
3747
7,2%
9,6%
77 Jahre
77 Jahre
115 129
73 Jahre
75 Jahre
1,1%
3,4%
2,7%
3,3%
1 Die vier häufigsten Karzinomsubtypen (Mamma-, Bronchial-, kolorektales und Pankreaskarzinom) machen 53% der krebsbedingten weiblichen Todesfälle und 56% der krebsbedingten weiblichen assistierten Suizide aus.
(wir kommen zurück auf die These der Befürworter des assistierten Suizids: Warum sollte ein Mensch eine gewaltvolle konventionelle Suizidmethode wählen, wenn ihm die «saubere» Option eines assistierten Suizids zur Verfügung steht?) kann nicht bestätigt werden. Ausgangssituation und Motivationen zum «klassischen» Suizid scheinen sich von denen der assistierten Suizide klar zu unterscheiden (17). Über die Gründe lässt sich derzeit nur spekulieren: n Steck und Kollegen haben gezeigt, dass der assis-
tierte Suizid in der Schweiz mehrheitlich von gebildeten Menschen, die in einem gut situierten städtischen Umfeld leben, gewählt wird (49). Es könnte sein, dass für Menschen, die nicht in diesem sozialen Umfeld leben, der assistierte Suizid weniger als wählbare Option vorstellbar ist.
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n Für den assistierten Suizid muss der Patient «ak-
tiv» werden. Er muss Kontakt zu einer Sterbehilfe-
organisation und einem Arzt, der den Sterbe-
wunsch unterstützt (und ein entsprechendes
Gutachten dazu verfasst), aufnehmen. Dazu ist ein
Mindestmass an mentaler und physischer Kraft
nötig, die manche Patienten im Spätstadium ihrer
Krankheit vielleicht nicht mehr aufbringen.
n Bei manchen Patienten besteht nicht nur ein
«neutraler» Todeswunsch. Die Krebserkrankung
wird mit persönlichem Versagen in Verbindung
gebracht, die Selbsttötung bedeutet dann nicht
nur das Ende des Lebens, sondern ein bewusst
herbeigeführter gewaltvoller Akt der physischen
Zerstörung (50).
n
Korrespondierender Autor: Prof. Dr. med. Uwe Güth E-Mail: uwe.gueth@unibas.ch
Interessenkonflikt: Die Autoren bestätigen, dass kein Interessenkonflikt besteht. Keiner der Autoren ist Mitglied in einer der Schweizer Sterbehilfeorganisationen.
Danksagung: Die Autoren danken dem Schweizerischen Bundesamt für Statistik (BFS) für die Zurverfügungstellung der Daten der Todesursachenstatistik. Besonderer Dank für jahrelange engagierte Unterstützung gebührt Christoph Junker, Epidemiologe und langjähriger Leiter der Vitalstatistik beim BFS. Der Erstautor (U.G) dankt Shaun McMillan für ihre enthusiastische Unterstützung im Rahmen des Gesamtpublikationsprojektes «Assisted suicide in Switzerland», insbesondere bei dem stilistischen Lektorat der englischsprachigen Originaltexte. Die Autoren danken Franziska Maduz für die grafische Darstellung der Daten.
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