Transkript
Im Fokus: Geriatrische Onkologie
Das Mammakarzinom bei betagten Frauen
Eine Diskussion zu Versorgungsprinzipien zwischen Geriatrie, Hausarztmedizin und Onkologie
Die Behandlung älterer Brustkrebspatientinnen rückt zunehmend in den Fokus des Interesses. Die Gruppe der über 80-Jährigen ist die am schnellsten wachsende Subgruppe. Die Behandlung dieser Hochbetagten setzt ein besonderes Verständnis für die Lebenssituation dieser Frauen voraus und erfordert von den behandelnden Ärzten ein hohes Mass an fachlicher und menschlicher Kompetenz. Im Folgenden werden Schweizer Daten zum Thema vorgestellt und kommentiert.
UWE GÜTH
SZO 2015; 2: 9–14.
Viele einflussreiche Studien zum Thema «ältere Brustkrebspatientin» haben Gruppen untersucht, die im Wesentlichen in ihrer siebten und achten Lebensdekade standen (60–79 Jahre). Hochbetagte Patientinnen (≥ 80 Jahre) wurden dagegen entweder gar nicht berücksichtigt oder machten nur vernachlässigbar kleine Subgruppen der untersuchten KoUwe horten aus (Übersicht in: [1]). Studien, die den Fokus Güth speziell auf Patientinnen legten, die mit einem Erkrankungsalter von ≥ 80 Jahren die ältesten 10% einer Brustkrebskohorte bilden, sind dagegen vergleichsweise selten (1–7). Das evidenzbasierte Wissen vieler onkologisch tätiger Ärzte zum Thema «ältere Brustkrebspatientin» ist daher von Studien geprägt, welche die über 80-Jährigen gar nicht oder kaum berücksichtigt haben.
ABSTRACT
Breast Cancer in elderly patients
Approximately 10% of breast cancer (BC) patients are over the age of 80. The oncological care of elderly patients demands a high level of medical expertise and humane consideration. Strategies should be developed to improve collaboration between breast centers and primary care physicians. Oncologists should consider principles of geriatric care. On the one hand, appropriate standard therapies should not be routinely withheld in these patients. On the other hand, physicians must take into account that for many older patients «classical» hard medical facts such as survival times are only one component of total care. It is necessary to correct some old wives’ tales regarding BC in the elderly such as «older patients have less aggressive tumors and disease progresses more slowly»: compared to a standard cohort of postmenopausal BC patients (56–66 years), older patients (≥ 80 years) have similar tumor characteristics such as grading, hormone receptor status, HER2-status, and triple negative BC.
Keywords: breast cancer; elderly; oncological therapy.
Basler/Winterthurer Studie mit über 80-Jährigen
Wir haben in unserer Basler/Winterthurer Arbeitsgruppe speziell die Gruppe der hochbetagten Patientinnen untersucht (1–3). Aus der Basler Mammakarzinom-Datenbank, die alle an der Universitätsfrauenklinik Basel über einen 20-Jahres-Zeitraum (1990–2009) erstdiagnostizierten Mammakarzinompatientinnen erfasst, wurden die Frauen evaluiert, die bei ihrer Ersterkrankung 80 Jahre oder älter waren (n = 151; Durchschnittsalter: 84,3 Jahre, Range: 80–95 Jahre; 10,3% der Gesamtkohorte aller in der Datenbank erfassten Patientinnen). Diagnostik, Tumorcharakteristika, Behandlungsmuster in der adjuvanten und palliativen Situation und das Outcome dieser Patientinnen wurden mit einer Standardkohorte von Patientinnen verglichen. Diese war über ihr Erkrankungsalter definiert: ±5 Jahre, ausgehend vom medianen Alter aller in der Datenbank erfassten Patientinnen (n = 372; Durchschnittsalter: 61,0 Jahre, Range: 56–66 Jahre; 24,9% aller erfassten Patientinnen, 36.–60. Altersperzentile).
Charakteristika der Tumoren und Diagnostik bei Hochbetagten
Im Vergleich beider oben genannter Studiengruppen wies die Gruppe der Hochbetagten grössere Tumoren auf (25 mm vs. 18 mm, T1: 38,4% vs. 56,5%; Tabelle 1); die Patientinnen zeigten auch häufiger Tumoren mit nicht inflammatorischer Hautbeteiligung (T4b: 13,3% vs. 2,9%). Die bei älteren Patientinnen beobachteten Tumorgrössen schlugen sich auch in der TNM-Stadienverteilung nieder: Sie wiesen seltener ein Frühstadium (Stadium I: 31,1% vs. 44,1%) und
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Tabelle 1:
Vergleich klinisch-pathologischer Daten einer Mammakarzinomkohorte hochbetagter
Patientinnen (bei der Erstdiagnose der Erkrankung ≥ 80 Jahre) mit einer StandardVergleichsgruppe (56–66 Jahre) (1)
Variable Durchschnittsalter Tumorgrösse 1,2 Median (mm) (Range) Tumorkategorie
T1 T2 T3 T4b T4d (inflammatorisches Karzinom) TNM-Stadium (AJCC/UICC) I II III IV Histologischer Subtyp Duktal invasiv Lobulär invasiv Seltene Subtypen Grading G1/2 G3 Keine Angaben Hormonrezeptorstatus ER- und PR-positiv ER- und PR-negativ Keine Angaben HER2-Status (Zeitraum: 2002–2009) Positiv «Triple-negatives» Karzinom Keine Angaben
56–66 Jahre, n = 372 (%) 61,0
18 (0–220)
211 (56,8) 125 (33,6) 20 (5,4) 11 (2,9) 5 (1,3)
164 (44,1) 135 (36,3) 53 (14,2) 20 (5,4)
269 (72,3) 63 (16,9) 40 (10,8)
214 (59,8) 144 (40,2) 14
225 (62,0) 51 (14,1) 9 n = 169 (%) 25 (14,9) 17 (10,1) 2
Abkürzungen: ER: Östrogenrezeptor; PR: Progesteronrezeptor.
≥ 80 Jahre, n = 151 (%) 84,3
p-Wert
25 (2–220)
58 (38,4) 61 (40,4) 10 (6,6) 20 (13,3) 2 (1,3)
<0,001 <0,001 <0,001
47 (31,1) 61 (40,4) 25 (16,6) 18 (11,9)
0,008 0,015
107 (70,9) 26 (17,2) 18 (11,9)
0,75
87 (62,1) 53 (37,9) 11
0,68
94 (65,7) 27 (18,8) 8 n = 81 (%) 15 (18,8) 10 (12,5) 1
0,47 0,17
0,46 0,66
häufiger bereits bei der Erstdiagnose ein inkurables Stadium mit Fernmetastasierung auf (Stadium IV: 11,9% vs. 5,4%). Fortgeschrittene Tumorgrössen und -stadien hängen unter anderem auch damit zusammen, wie bei älteren Frauen Brusttumoren diagnostiziert werden. Sie unterziehen sich nur noch selten radiologischen Früherkennungsuntersuchungen (in unserer Kohorte wurden nur etwa 10% der Karzinome durch Mammografie oder Mammasonografie gefunden (Tabelle 2), dafür werden die Tumoren viel häufiger im Rahmen einer körperlichen Untersuchung durch den Arzt gefunden. Da ältere Frauen seltener regelmässige fachgynäkologische Konsultationen in Anspruch nehmen und zudem eher dazu neigen, auch grösser werdende Brusttumoren nicht entsprechend abklären zu lassen, wird deutlich, dass in der Erkennung eines Mammakarzinoms bei älteren Frauen den Hausärzten eine wichtige Rolle zukommt. Die Praxis zeigt, dass viele Patientinnen, bei denen ein Mammakarzinom erst mit grossen, zum Teil exulzerierenden Tumoren diagnostiziert wurde, die Veränderungen der Brust bereits über Jahre bemerkt hatten, ohne jedoch davon so beunruhigt zu sein, um deswegen einen Arzt zu konsultieren (8, 9), und dies, obwohl sie regelmässig in ärztlicher Betreuung waren.
Es wäre wünschenswert, wenn Allgemeinpraktiker, welche betagte Patientinnen betreuen, einmal jährlich eine Palpationsuntersuchung der Brust vornähmen. Sie ist einfach und schnell durchführbar. Zwar kann diese Untersuchung kleine Tumoren nicht zuverlässig aufdecken, die Entwicklung grösserer Tumoren – in unserer Kohorte wiesen 20% der älteren Patientinnen Tumoren mit einer Ausdehnung > 5 cm auf – sollte so aber meistens vermieden werden können.
Der Hausarzt: zentrale Person in Diagnostik, Therapie und Nachsorge
betagter Brustkrebspatientinnen
Der Hausarzt ist aber nicht nur eine wichtige Instanz bei der Erkennung eines Mammakarzinoms. Er stellt mit seinen Überweisungen in ein Brustzentrum auch die entscheidenden Weichen für die weitere Therapie. Darüber hinaus lassen viele ältere Patientinnen die Nachsorge nicht in spezialisierten Zentren/Praxen vornehmen, sondern legen diese lieber in die Hände des ihnen vertrauten Hausarztes: Im Basler Kollektiv der bei der Erstdiagnose der Erkrankung über Achtzigjährigen war das bei etwa 54% der Patientinnen
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Im Fokus: Geriatrische Onkologie
Tabelle 2:
Tumordiagnostik und Outcome (1)
Variable Detektionsmethode
Selbstuntersuchung Körperliche Untersuchung durch Arzt Radiologische Standardverfahren
(Mammografie oder Ultraschall) Andere Methode Keine Angaben Follow-up-Status Lebt, kein Anhaltspunkt für Mammakarzinom Lebt mit metastatischer Erkrankung Gestorben am Mammakarzinom Gestorben, andere Ursachen «Lost to follow-up»
56–66 Jahre, n = 372 (%)
190 (52,0) 62 (17,0) 109 (29,9)
4 (1,1) 7
244 (65,6) 7 (1,9) 80 (21,5) 37 (9,9) 4 (1,1)
≥ 80 Jahre, n = 151 (%) p-Wert
69 (47,9) 56 (38,9) 15 (10,4)
0,43
<0,001 <0,001
4 (2,8) 7
50 (33,1) 5 (3,3) 32 (21,2) 63 (41,7) 1 (0,7)
<0,001 0,19
1,00
<0,001
der Fall (bei 60- bis 79-jährigen Patientinnen lag die «Hausarztrate» dagegen nur bei etwa 24% (2). Eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Brustzentren ist daher eine unverzichtbare Voraussetzung für die adäquate Betreuung älterer Mammakarzinompatientinnen (10, 11).
Notwendige, tolerable Therapien sicherstellen
Es muss sichergestellt werden, dass den Patientinnen nicht für sie wirksame und dennoch gut tolerable Therapieformen auf dem Boden falscher Annahmen vorenthalten werden. Eine klassische Fehlannahme, zumindest beim Mammakarzinom, ist die allgemein verbreitete These, dass Krebserkrankungen bei älteren Patientinnen langsamer verlaufen, da die Tumorzellen weniger aggressiv sind. Man kann nur schwer einschätzen, inwieweit diese Binsenweisheiten (gemeint ist damit eine nicht bewiesene oder gar nachweislich falsche Behauptung, die dennoch als allgemein anerkannt von Generation zu Generation weitergegeben wird) zu einer Unterlassung einer adäquaten Brustkrebsbehandlung führen. Die Praxis lehrt, dass viele ältere Patientinnen Therapievorschläge genau mit dieser Begründung abwehren («Muss man denn in meinem Alter noch operieren? Der Krebs wächst bei uns Älteren doch langsamer.»). Es ist unklar, inwieweit fehlerhafte Annahmen über die Natur einer Brustkrebserkrankung dazu führen, dass auch Hausärzte mit gegenüber onkologischen Behandlungen eher skeptischen Patientinnen eine Übereinkunft treffen, diese weniger konsequent abzuklären beziehungsweise zu behandeln. Unsere Schweizer Daten zeigen, ähnlich wie die von Schonberg vorgelegte Analyse der US-amerikanischen SEER-Datenbank (6), dass, im Vergleich zu einer Standardkohorte jüngerer postmenopausaler Brustkrebspatientinnen (bei Erstdiagnose 56–66 Jahre), die Tumoren älterer Mammakarzinompatien-
tinnen (≥ 80 Jahre) ähnlich aggressiv sind, das heisst, dass keine signifikanten Unterschiede in therapieund prognoserelevanten Tumorcharakteristika bestehen (Grading, Hormonrezeptor-, HER2- und triple-
«Ältere Menschen haben weniger aggressive Tumoren, die langsamer
wachsen»: Verhindern Binsenweisheiten notwendige
und tolerable Therapien?
negativer Status; Tabelle 1). Ein Blick auf das Outcome beider Gruppen zeigt, dass eine Brustkrebserkrankung bei Älteren keineswegs seltener tödlich verläuft: Der Prozentsatz an Patientinnen, die am Mammakarzinom verstorben sind, ist nahezu identisch (≥ 80 Jahre: 21,2%, 56–66 Jahre: 21,5%; Tabelle 2). Hier muss berücksichtigt werden, dass in der Gruppe der Hochbetagten viele Patientinnen (41,7%) an anderen Erkrankungen gestorben sind, das heisst, dass vermutlich nur die insgesamt geringe Lebenserwartung eine noch höhere Brustkrebssterblichkeit verhindert hat. Auch ein Blick auf die palliative Situation unterstützt nicht die landläufige These, dass eine Krebserkrankung bei Älteren weniger aggressiv verläuft; das Überleben nach Diagnose von Fernmetastasen betrug in der Gruppe der Hochbetagten 11,5 Monate, in der Kontrollgruppe lag dieses bei 19 Monaten (1). Die These, dass Mammakarzinome bei älteren Patientinnen weniger aggressive Charakteristika aufweisen, findet sich durchaus in der Literatur. Eine häufig zitierte, von Diab vorgelegte Studie macht aber die Problematik der Dateninterpretation deutlich. Diese Studie verglich «ältere» Patientinnen (> 55 Jahre!) mit jüngeren Patientinnen (12). Es ist unzweifelhaft, dass 85-jährige Patientinnen seltener aggressive Tumoren aufweisen als 35-jährige. Im Vergleich der 80jährigen Patientin mit einer Kohorte von Frauen, die
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im «typischen Brustkrebsalter» sind (55–65 Jahre), lassen sich diese Unterschiede aber nicht zeigen.
Untertherapie bei Hochbetagten – Hintergründe und Folgen
Es wurde vielfach darauf hingewiesen, dass ältere Mammakarzinompatientinnen häufig nicht die Therapien erhalten, die für jüngere Frauen als Standard etabliert wurden (6, 7, 13, 14). Der Begriff Undertreatment hat sich landläufig als stereotype Zustandsbeschreibung für die Therapie älterer Patientinnen im Bewusstsein vieler Onkologen verankert. Dieser Begriff, und vor allem das Verständnis, das sich dahinter verbirgt, ist aber insbesondere für die Therapie hochbetagter Patientinnen nicht unproblematisch; zum Teil werden so Grundprinzipien ignoriert, welche die Spezialisten auf dem Gebiet der Altersmedizin als essenziell erachten. Die meisten Autoren, die eine Untertherapie älterer Patientinnen diskutieren, führen diese im Wesentlichen auf die behandelnden Ärzte zurück. Hier wäre es vermutlich noch relativ einfach, bei diesen mit konzertierten Aktionen Überzeugungsarbeit zu leisten, dass Operation, Bestrahlung und endokrine Behandlung Therapiepfeiler sind, welche die Prognose der Patientinnen zweifellos verbessern und bei den meisten Hochbetagten auch sicher anwendbar sind (1, 2, 6, 7, 13).
Was heisst eigentlich Untertherapie? Onkologie und Geriatrie sind zwei Disziplinen mit unterschiedlichem Ansatz und
unterschiedlicher Sprache.
Man muss aber darauf hinweisen, dass das Nichtdurchführen einer Therapie nicht immer darauf zurückgeführt werden kann, dass ein Arzt der Patientin eine Therapie vorenthält, sondern dass empfohlene Therapien von der Patientin abgelehnt werden. Unsere Schweizer Daten zeigen, dass in Bezug auf Strahlentherapie nach brusterhaltender Therapie und adjuvanter endokriner Therapie (ET) bei hormonrezeptorpositivem Karzinom sicher eine gewisse Zurückhaltung der Ärzte bestand, diese Optionen hochbetagten Patientinnen zu empfehlen (Bestrahlung: 7,5%; ET: 12,7%). Auf der anderen Seite erfolgte die Nichtbehandlung ähnlich häufig (ET: 13,05%) beziehungsweise viel öfter (Bestrahlung: 49,0%) deswegen, weil Patientinnen die ihnen empfohlenen Therapien nicht durchführen wollten (1, 2).
Beispiele: Operation, Chemotherapie Ein typisches Beispiel für die Ablehnung einer effektiven und zumutbaren Therapie stellt der Verzicht auf die operative Entfernung des Primärtumors im nicht
metastasierten Krankheitsstadium dar (Daten dazu im Kasten). Die Folgen einer Mammakarzinomtherapie, die nicht die bei Jüngeren als Standard definierten Optionen ausnutzt, wurden gut untersucht: Erwartungsgemäss führt diese zu einer grösseren Brustkrebsmortalität (7, 13). Vermeidbare Untertherapien sollten daher in jedem Fall vermieden werden. Ein Beispiel einer «jüngeren älteren» Patientin macht das deutlich: Einer sonst altersentsprechend gesunden 72-jährigen Patientin mit einem nodalpositiven, hormonrezeptornegativen Karzinom eine Chemotherapie mit dem alleinigen Hinweis auf ihr Alter vorzuenthalten, erfüllt alle Kriterien einer Untertherapie. Dabei ist zu bedenken: L Die Therapie ist vermutlich für diese Patientin
trotz ihres Alters gut tolerabel. L Die Therapie würde die Prognose deutlich ver-
bessern. L Man muss davon ausgehen, dass es der Auftrag
dieser Patientin an ihre Ärzte ist, die Therapie mit der höchsten Wahrscheinlichkeit einer Heilung auszuwählen; dafür wird auch die Belastung gewisser therapieassoziierter Nebenwirkungen akzeptiert. Es stellt sich aber die Frage, ob diese Kriterien auch im Fall einer 85-jährigen Patientin Bestand haben: L Bei einer Kombinationschemotherapie sind bei Hochbetagten in jedem Fall Komplikationen zu erwarten. L Ob eine onkologische Therapie tatsächlich die Lebenszeit verlängert, ist fraglich und abhängig von anderen altersbedingten, nicht onkologischen Komorbiditäten. L In vielen Fällen wünschen hochbetagte Patientinnen keine onkologische Therapie oder lehnen diese sogar explizit ab.
Problematik: Extrapolierung von Studiendaten Der letzte Punkt muss in der Diskussion onkologischer Therapien bei Hochbetagten besonders berücksichtigt werden. Wenn man den Begriff Untertherapie einer näheren Prüfung unterzieht, wird deutlich, dass sich dieser an einer wie auch immer definierten Referenz, der Standardtherapie, orientiert. (Tatsächlich existieren für Hochbetagte keine eigens auf sie zugeschnittenen evidenzbasierten Guidelines. Die ausgesprochenen Therapieempfehlungen extrapolieren Daten aus Studien, in denen jüngere Patientinnen untersucht wurden.) Ein Therapiestandard ist in der Onkologie üblicherweise evidenzbasiert und impliziert die Therapie, die im Vergleich zu anderen Therapieoptionen prognostisch günstigere Ergebnisse gezeigt hat; diese wiederum orientieren sich an «klassischen» onkologischen Erfolgsparametern wie Gesamtüberleben oder krankheitsspezifischem Überleben. Genau an
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Kasten:
Nicht operatives, primär medikamentöses Management (18)
Kohorte: Basler Mammakarzinom-Datenbank (1990–2009) Patientinnen mit hormonrezeptorpositivem Mammakarzinom, nicht metastasiertes Stadium (Stadium I–III); medianes Alter: 81 Jahre; Therapiekonzept: nicht operativ, primär medikamentös mit endokriner Therapie; n = 31.
Resultate:
L In fast allen Fällen (87%) konnte initial ein gutes Ansprechen des Tumors beobachtet werden. L Das Langzeitziel (keine OP, Vermeidung schwerer lokaler Morbidität) wurde nur in etwa einem Drittel der Fälle
(35,5%) erreicht. Bei Patientinnen, deren Tumoren bei der Erstdiagnose ≤3 cm waren, führte das Konzept in 47% der Fälle zum Erfolg; bei grösseren Tumoren wurde das Ziel deutlich seltener erreicht (21%).
L Die durchschnittliche Dauer der primären Therapie betrug 23,5 Monate (Range: 3–118 Monate). L Im weiteren Verlauf sind etwa 39% der Patientinnen, die bei der Erstdiagnose der Erkrankung keine Fernmetastasen
aufwiesen, an einem metastasierten Mammakarzinom verstorben.
Fazit: Ein nicht operatives Management darf ausgewählten Patientinnen, vor allem älteren oder polymorbiden Frauen mit einer vermuteten geringen Lebenserwartung, angeboten werden. Diese Patientinnen müssen aber darüber informiert werden, dass das angestrebte Ziel, vor allem die Vermeidung einer späteren OP, wenn überhaupt, vor allem bei kleineren Tumoren erreicht werden kann, und dass die Wahrscheinlichkeit, an den Folgen des Mammakarzinoms zu versterben, erheblich ist.
diesen quantitativen Prognosefaktoren sind viele ältere Patientinnen aber primär gar nicht interessiert.
Problematik: altersspezifische Bedürfnisse Weil sie nicht selten mit einer Vielzahl alterstypischer Erkrankungen konfrontiert sind, stehen für diese Patientinnen andere Aspekte im Vordergrund: Hier sind vor allem der Erhalt der aktuellen Lebenssituation und die subjektiv empfundene Lebensqualität zu nennen (15). Viele Patientinnen fürchten bei anstrengenden Therapien eine Einschränkung ihrer allgemeinen Körperkräfte und damit verbunden auch eine Verminderung ihrer Autonomie; gefürchtet dabei sind vor allem der Verlust der eigenen Wohnung und ein Umzug in ein Alters- oder Pflegeheim. Sie stehen daher vorgeschlagenen Therapieoptionen nicht selten reserviert bis ablehnend gegenüber («Solange es mir noch gut geht, möchte ich keine Behandlung.») (16). Ärzte, manchmal auch die Angehörigen der Patientinnen, sind dann häufig damit konfrontiert, dass gut gemeinte und von ihnen als zumutbar und vernünftig angesehene Therapien von nicht selten ausgeprägt eigenwilligen Patientinnen nicht wahrgenommen werden. In diesen Situationen ist es wichtig, die Autonomie der Patientinnen zu akzeptieren und zu respektieren, dass diese ihre noch verbleibende Lebenszeit so gestalten wollen, wie sie es für richtig halten («... some patients view their situation with broader psychosocial and spiritual meaning, shaped by a lifetime of experiences») (17).
Neubewertung der Therapieoption für Hochbetagte
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Begriff Untertherapie für hochbetagte Patientinnen nicht nur unpassend ist, sondern sogar grundsätzliche Prinzipien der Geriatrie missachtet. Die Unter-
therapie orientiert sich an quantitativ ausgerichteten
onkologischen Parametern; subjektive Einstellungen
und Wünsche der Patientinnen werden dabei ausge-
blendet. Eine Nichtdurchführung einer Behandlung,
zu der die Patientin aber gar nicht den Auftrag gibt,
da sie ihren potenziellen Therapieerfolg nicht als
wichtig erachtet, sollte daher nicht als Untertherapie
bezeichnet werden.
Wie gegensätzlich onkologische und geriatrische
Sichtweisen sind, machen geriatrische Assessments
deutlich. Altersmediziner stellen dabei die zur Verfü-
gung stehenden Ressourcen in den Vordergrund
(«Was ist noch möglich?»); Onkologen betonen eher
die Einschränkungen hinsichtlich Therapie und Pro-
gnose («Was ist nicht mehr möglich?»).
In Zukunft wird es nötig sein, eine gemeinsame Spra-
che zu finden, um alterstypische Lebens- und Thera-
piekonstellationen adäquater abzubilden und Be-
handlungsphilosophien zu etablieren, die den
speziellen Bedürfnissen hochbetagter Patientinnen
entsprechen.
L
Prof. Dr. med. Uwe Güth Klinik für Gynäkologie, Brustzentrum Senosuisse Kantonsspital Winterthur 8401 Winterthur E-mail: uwe.gueth@ksw.ch
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Im Fokus: Geriatrische Onkologie
Merkpunkte
L Die Gruppe der über 80-Jährigen ist die am schnellsten wachsende Sub-
gruppe der Mammakarzinompatientinnen. Sie bilden heute etwa 10% einer Brustkrebskohorte.
L Der Hausarzt ist nicht nur eine wichtige Instanz bei der Erkennung eines
Mammakarzinoms. Er stellt mit seinen Überweisungen an ein Brustzentrum auch die entscheidenden Weichen für die weitere Therapie und übernimmt in vielen Fällen die Tumornachsorge. Eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Brustzentren ist daher eine unverzichtbare Voraussetzung für die adäquate Betreuung älterer Mammakarzinompatientinnen.
L Ältere Patientinnen haben keineswegs weniger aggressive Tumoren als
jüngere. Im Vergleich mit einer Standardkohorte jüngerer postmenopausaler Patientinen (56–60 Jahre) bestehen keine signifikanten Unterschiede in therapie- und prognoserelevanten Tumorcharakteristika wie Grading, Hormonrezeptor-, HER2- und triplenegativer Status.
L Die Onkologie sollte Betreuungsprinzipien der Geriatrie aufnehmen, um
Behandlungsphilosophien zu etablieren, die den speziellen Bedürfnissen hochbetagter Patientinnen entsprechen.
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