Transkript
SGGG-EXPERT:INNENBRIEF NR. 80 (ersetzt Nr. 57)
In der GYNÄKOLOGIE werden – nach Auswahl der Herausgeber – an dieser Stelle aktuelle Expert:innenbriefe publiziert (verifizierte Printform).
Expert:innenbrief Nr. 80
(siehe auch: http://sggg.ch/de/members_news/1005)
Kommission Qualitätssicherung Präsident Prof. Dr. med. Daniel Surbek
Ersttrimester-Screening auf Präeklampsie
Nationale und internationale Daten belegen, dass bei allen Schwangerschaften ein Screening auf Präeklampsie erfolgen sollte und dass das kombinierte Ersttrimester-Screening die höchste Nachweisrate aufweist. Zwar bleibt das Screening anhand anamnestischer Risikofaktoren weiterhin eine Option, doch liegt der Schwerpunkt des aktualisierten Expertenbriefs eindeutig auf dem kombinierten Screening und dem Vorgehen bei Risikoschwangerschaften.
Evidenzlevel
B. Mosimann, D. Surbek, O. Lapaire, Y. Vial, M. Hodel, T. Burkhardt, N. Ochsenbein-Kölble, O. Pecheux, L. Schäffer, S. Tercanli
Präeklampsie (PE) ist eine Hauptursache für maternale und perinatale Morbidität und Mortalität (1–4). Die PE-Inzidenz schwankt weltweit zwischen 2% und 8%; in der Schweiz entwickeln 2–3% der Frauen eine PE gemäss der klassischen Definition (Hypertonie und Proteinurie). Bei Anwendung der erweiterten neuen Definition gemäss ISSHP (International Society for the Study of Hypertension in Pregnancy) ergibt sich eine um zirka 20% höhere Inzidenz (5–7). Etwa 1% aller Schwangerschaften erfordern aufgrund von PE eine Entbindung vor 37 0/7 Schwangerschaftswochen (SSW); solche Fälle werden als «preterm PE» (pPE) klassifiziert. Nachdem zahlreiche Studien widersprüchliche Ergebnisse hinsichtlich des Nutzens von niedrig dosierter Azetylsalizylsäure (ASS) erbrachten, wiesen Bujold und Kollegen 2010 in einer Metaanalyse nach, dass niedrig dosierte ASS hinsichtlich der pPE-Prävention wirksam ist, wenn die Verabreichung vor 16 SSW beginnt (8, 9). Später zeigte eine weitere Metaanalyse, dass auch die Dosierung eine Rolle spielt und nur Dosen von 100–150 mg ASS mit Beginn vor 16 SSW bei Hochrisikoschwangerschaften die pPE-Inzidenz signifikant reduzieren (10). Ein bestehendes pPE-Risiko muss daher bereits in der Frühschwangerschaft erkannt werden, um eine wirksame Prophylaxe mit niedrig dosierter ASS zu ermöglichen.
Methoden zur Erkennung eines erhöhten PE-Risikos
Risikobewertung anhand anamnestischer Risikofaktoren Generell beeinflussen anamnestische Faktoren das PE-Risiko. Das British National Institute for Health and Care Excellence (NICE) empfiehlt die Verschreibung von niedrig dosierter ASS, wenn 1 hoher oder mindestens 2 moderate Risikofaktoren für PE festgestellt werden. Chronische Hypertonie, chronische Nierenerkrankung, systemischer Lupus erythematodes (SLE), Antiphospholipidsyndrom (APS), vorbestehender Diabetes mellitus und anamnestisch bekannte hypertensive Schwangerschaftserkrankung gelten als hohe Risikofaktoren, während Primigravidität, Alter der Mutter > 40 Jahre, BMI bei Erstkonsultation >35 kg/m2, Mehrlingsschwangerschaften, familienanamnestisch bekannte PE und ein Intervall zur letzten Schwangerschaft von >10 Jahren als moderate Risikofaktoren eingestuft werden. Das American College of Obstetricians and Gynecologists
(ACOG) empfiehlt eine ganz ähnliche Risikobewertung (11, 12). Bei einer derartigen Risikobewertung liegt die Detektionsrate einer Präeklampsie vor 37 SSW («preterm PE», pPE) bei rund 40%, mit einer Screen-Positiv-Rate (SPR) von 10% (13).
IIb IIa
Risikobewertung mit kombiniertem Ersttrimester-Screening Die Fetal Medicine Foundation (FMF) London hat einen kombinierten Ersttrimester-Screening-Algorithmus für PE entwickelt, der anamnestische Risikofaktoren mit dem mittleren maternalen Blutdruck (MAP), dem mittleren Pulsatilitätsindex in den uterinen Arterien (UTPI) und dem Biomarker Plazenta-Wachstumsfaktor (PIGF) kombiniert (14, 15). Nach internationalen und Schweizer Daten liegt die Detektionsrate von pPE bei Verwendung dieses Algorithmus bei etwa 75% (mit einer FalschPositiv-Rate [FPR] von 10%) (16–20). Laut der ASPRE-Studie reduzieren 150 mg ASS bei Behandlungsbeginn vor 16 SSW das pPE-Risiko von Frauen, die im kombinierten Screening positiv resultierten, um 62% (21). Bei einer guten Compliance von > 90% beträgt die Risikoreduktion sogar 75% (22). Für eine PE, die eine Entbindung vor 34 oder 32 SSW erfordert, liegt die Detektionsrate über, für eine PE am Termin unter der Detektionsrate für eine pPE; zu beachten ist, dass niedrig dosierte ASS das Risiko einer PE am Termin nicht senkt (10, 16, 17, 21).
Durchführung der Risikokalkulation Die Verwendung dieses Algorithmus bei 11 bis 14 SSW setzt eine Qualitätssicherung voraus. Dazu gehören die folgenden Voraussetzungen für die Durchführenden: n theoretische Kenntnisse der Risikokalkulation: Abschluss
eines anerkannten Kurses der SGUMGG oder des OnlineKurses der FMF London n MAP: Verwendung von zertifizierten, automatisierten Blutdruckmessgeräten mit regelmässiger Kalibrierung und die standardisierte Blutdruckmessung n UTPI: Dopplersonografie der Aa. uterinae mit 11 bis 14 SSW im Rahmen der Ersttrimester-Ultraschalluntersuchung, wobei hinreichende Erfahrung im Hinblick auf die Messgenauigkeit sowie die strikte Einhaltung der Empfehlungen für standardisierte Messungen gefordert sind n PIGF: die Laborbestimmung sollte nicht vor 11 0/7 SSW erfolgen, idealerweise erst zeitgleich mit dem ErsttrimesterUltraschall; ein zu früh bestimmter Wert kann sich ungünstig auf die Testperformance des Algorithmus auswirken.
24 GYNÄKOLOGIE 5/2023
Niedriges Risiko im kombinierten Screening
trotz anamnestischer Risikofaktoren Eine Subanalyse der ASPRE-Studie zeigte, dass im Falle eines
Die Screening-Performance hängt unter anderem vom Hintergrundrisiko der Bevölkerung ab (17, 25). Daten des Universitätsspitals Bern sowie noch unveröffentlichte Daten aus dem Regis-
negativen Ergebnisses im kombinierten Screening selbst bei ter der IPSISS-Studie (Implementing Preeclampsia Screening
Vorliegen anamnestischer Risikofaktoren auf niedrig dosierte In Switzerland Study) zeigen, dass das Hintergrundrisiko der Be-
ASS verzichtet werden kann (23). Eine Ausnahme bildet das völkerung hierzulande mit dem von der FMF London unter-
APS, bei dem in allen Fällen vom positiven Schwangerschafts- suchten Kollektiv vergleichbar ist und somit ein Schwellenwert
Ib test bis zur Geburt niedrig dosierte ASS verschrieben werden von > 1:70 in einer FPR von etwa 10% resultiert (19, 20). Im
sollte, in der Regel in Kombination mit niedermolekularem He- Hochrisikokollektiv zeigte niedrig dosierte ASS keine erhöhte
parin (24).
Inzidenz von unerwünschten Nebenwirkungen; das Risiko einer
ASS-Prophylaxe
vorzeitigen Plazentalösung war sogar reduziert. Ungeklärt ist jedoch nach wie vor, ob niedrig dosierte ASS beim Niedrig-
Die Wirksamkeit der ASS-Prophylaxe zur PE-Prävention ist mitt- risikokollektiv unbedenklich ist. Dementsprechend sollte nied-
lerweile sehr gut belegt, sofern eine Dosis von 100–150 mg an- rig dosierte ASS nur Frauen mit erhöhtem Risiko einer PE vor
gewendet wird und die Behandlung vor 16 0/7 SSW beginnt. 37 SSW empfohlen werden. Wir empfehlen, niedrig dosierte
Ia Darüber hinaus sollte die niedrig dosierte ASS aus chronobio- ASS anzubieten, wenn das Risiko über 1:100 liegt. Diese Emp-
logischen Gründen zur Nacht verschrieben werden. Es stellt fehlung ist möglicherweise zu überarbeiten, wenn mehr Daten
sich die Frage, ab welchem Schwellenwert eine Schwanger- aus der Schweiz vorliegen.
schaft als gefährdet einzustufen ist. Die meisten Studien zeigen,
dass bei einer Falsch-Positiv-Rate (FPR) von 10% der Schwellen- Aufklärung der schwangeren Frau
wert für eine PE vor 37 SSW bei etwa 1:65 liegt (16, 17). Dage- Grundsätzlich ist die schwangere Frau im ersten Trimester über
gen wurde in der ASPRE-Studie ein Schwellenwert von >1:100 das Krankheitsbild der Präeklampsie und deren Folgen für Mut-
für die Einstufung als Risikoschwangerschaft definiert (21). ter und Kind zu informieren sowie über die Möglichkeiten der
Vorhersage und Prävention, einschliesslich der ScreeningMethoden (Risikokalkulation). Zudem muss sie über mögliche Konsequenzen des Testergebnisses (z. B. Empfehlung zur Prophylaxe mit niedrig dosierter ASS im Falle eines erhöhten Risikos) aufgeklärt werden. Dabei ist insbesondere darauf zu achten, dass es nicht zu einer unnötigen Beunruhigung der schwangeren Frau kommt.
Datum des Expert:innenbriefs: 15. Juni 2023 Referenzen bei den Autor:innen.
Deklaration von Interessenkonflikten: S. Tercanli, M. Hodel, O. Lapaire: Expertenboard «Präeklampsie und Biomarker» Roche Diagnostics Schweiz D. Surbek: Expertenboard und Vortragshonorare ROCHE (zugunsten des Forschungsfonds der Abteilung)
Zusammenfassung und Empfehlungen
n Die Präeklampsie ist eine schwere Komplikation in der Schwangerschaft mit hoher Langzeitmorbidität für Mutter und Kind. Ihre Inzidenz liegt in der Schweiz bei etwa 2–3%.
n Die Vorhersage und Prävention einer frühen Präeklampsie ist heute in den meisten Fällen möglich. Daher sollte allen schwangeren Frauen ein PE-Screening (und im Falle eines erhöhten Risikos eine Prävention mit niedrig dosierter ASS) angeboten werden.
n Die effizienteste Methode der Vorhersage (Screening) ist der von der FMF London entwickelte kombinierte Ersttrimester- Screening-Algorithmus für PE. Mit einem solchen Screening lassen sich 75% aller Schwangeren mit erhöhtem Präeklampsierisiko erkennen, bei denen wiederum in etwa zwei Drittel der Fälle eine PE vor 37 SSW (preterm PE; pPE) mit niedrig dosierter ASS verhindert werden kann. Eine andere Möglichkeit besteht gemäss NICE oder ACOG darin, anamnestische Risikofaktoren zu erfassen; hierbei ist die Erkennungsrate eines erhöhten PE-Risikos jedoch erheblich niedriger.
n Der kombinierte Ersttrimester-Screeningtest auf PE kann anlässlich der Ersttrimester-Ultraschalluntersuchung anhand des FMF-Algorithmus durchgeführt werden. Die Risikokalkulation ist dabei signifikant besser geeignet zur Erkennung der frühen und schweren Präeklampsie als für die späte und milde Manifestation.
n Die Testperformance des FMF-Algorithmus ist am höchsten, wenn alle Marker (anamnestische Risikofaktoren + MAP + UTPI + PlGF) in die Berechnung eingehen.
n Die ASS-Prophylaxe vor 16 SSW reduziert signifikant die Rate an Präeklampsien vor 37 SSW (pPE). Bei einem Prä-
eklampsierisiko über 1:100 gemäss FMF-Algorithmus soll daher die ASS-Prophylaxe vor 16 SSW – idealerweise bereits in der 12. SSW – begonnen und bis zur 36. SSW fortgeführt werden. n Einschlägige Daten deuten darauf hin, dass der Nutzen, aber auch die potenziellen Risiken der Prophylaxe mit niedrig dosierter ASS dosisabhängig sein können. Nach derzeitigem Kenntnisstand wird empfohlen, 100–150 mg/Tag zur Nacht zu verschreiben. Dosen unter 100 mg/Tag sind höchstwahrscheinlich ineffektiv. Zu achten ist hierbei auf eine gute Compliance (Tabletteneinnahme > 90%), die für einen hinreichenden prophylaktischen Effekt entscheidend ist. n Offen bleibt zurzeit die Frage nach möglichen Nebenwirkungen niedrig dosierter ASS. Eine Prophylaxe mit niedrig dosierter ASS ist daher nur bei erhöhtem pPE-Risiko und nicht für alle Schwangeren zu empfehlen. Wenn das kombinierte Screening negativ resultiert, kann auf ASS selbst bei Vorliegen anamnestischer Risikofaktoren verzichtet werden; die einzige Ausnahme bildet das Vorliegen eines APS. n Für ein kombiniertes Ersttrimester-Screening auf Präeklampsie mit hoher Vorhersagequalität ist darauf zu achten, dass die Empfehlungen für standardisierte Messungen des Algorithmus (Blutdruck, UTPI) streng eingehalten werden. Um diese Anforderungen zu erfüllen, muss die entsprechende Kompetenz in einem Kurs der SGUMGG oder über die FMF London erworben werden. n Die Deckung der Mehrkosten des kombinierten Ersttrimester-PE-Screenings durch die Krankenkasse wird derzeit evaluiert.
* Evidenzlevel und Empfehlungsgrade der Therapieangaben
Evidenzlevel Ia Evidenz durch die Metaanalyse von randomisierten, kontrollierten
Untersuchungen Ib Evidenz durch mindestens eine randomisierte, kontrollierte
Untersuchung IIa Evidenz durch mindestens eine gut angelegte, kontrollierte
Studie ohne Randomisierung IIb Evidenz durch mindestens eine gut angelegte andere quasi-
experimentelle Studie III Evidenz durch gut angelegte, beschreibende Studien, die nicht
experimentell sind, wie Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fallstudien IV Evidenz durch Expertenberichte oder Meinungen und/oder klinische Erfahrung anerkannter Fachleute
Empfehlungsgrad A Es ist in der Literatur, die gesamthaft von guter Qualität und
Konsistenz sein muss, mindestens eine randomisierte, kontrollierte Untersuchung vorhanden, die sich auf die konkrete Empfehlung bezieht (Evidenzlevel Ia, Ib). B Es sind zum Thema der Empfehlung gut kontrollierte, klinische Studien vorhanden, aber keine randomisierten, klinischen Untersuchungen (Evidenzlevel IIa, IIb, III). C Es ist Evidenz vorhanden, die auf Berichten oder Meinungen von Expertenkreisen basiert und/oder auf der klinischen Erfahrung von anerkannten Fachleuten. Es sind keine qualitativ gute, klinische Studien vorhanden, die direkt anwendbar sind (Evidenzlevel IV). ✔ Good-Practice-Punkt Empfohlene Best Practice, die auf der klinischen Erfahrung der Expertengruppe beruht, die den Expertenbrief/die Guideline herausgibt.
Übersetzt aus dem Englischen (Quelle: RCOG Guidelines Nr. 44, 2006)
26 GYNÄKOLOGIE 5/2023