Transkript
SGGG-EXPERT*INNENBRIEF NR. 82
In der GYNÄKOLOGIE werden – nach Auswahl der Herausgeber – an dieser Stelle aktuelle Expert*innenbriefe publiziert (verifizierte Printform).
Expert*innenbrief Nr. 82
(siehe auch: http://sggg.ch/de/members_news/1005)
Kommission Qualitätssicherung Präsident Prof. Dr. med. Daniel Surbek
Primäre Hypermenorrhö als Hinweis auf ein von-Willebrand-Syndrom oder andere Hämophilien
Dieser Expertenbrief resümiert Hintergründe bei starker Menstruationsblutung (heavy menstrual bleeding, HMB) und empfiehlt ein einfaches, evidenzbasiertes Screening auf Blutungsneigungen anhand einiger gezielter Fragen, wenn andere gynäkologische Ursachen ausgeschlossen wurden.
Evidenzlevel
Irène Dingeldein, Michael Bajka, Dorothea Wunder,
2% der Frauen im fertilen Alter weisen eine klinisch relevante
Ruth Draths, Gabriele Merki, Lars Asmis
Blutungsneigung auf. Alleine am VWS leidet rund 1% der
Frauen. Das VWS ist die häufigste Form der angeborenen Blu-
Eine regelmässig starke oder zu starke Menstruationsblutung tungsneigung. So kann eine Hypermenorrhö einen wertvollen IIa (Hypermenorrhö, «heavy menstrual bleeding», HMB) betrifft Hinweis auf das Vorliegen einer Hämophilie sein. Die frühe Dia-
rund 10% der Frauen im gebärfähigen Alter (Kadir; Lancet gnose einer Hämophilie kann die Lebensqualität der Trägerin
1998). Ihre Auswirkungen sind unterschiedlichster Art und Aus- positiv beeinflussen und vitale Gefahren durch eine akute Blu-
prägung. Im Vordergrund steht die resultierende akute oder tung (z. B. bei Operationen) können vorausgesehen und ver-
chronische Anämie unterschiedlichen Schweregrades. HMB mieden werden.
können uterine oder systemische Ursachen zu Grunde liegen. Ziel dieses Expert*innenbriefes ist es, auf Blutungsneigungen
Eine mögliche systemische Ursache ist eine angeborene Blu- (Hämophilien) allgemein und auf das VWS im Speziellen als
tungsneigung. Tatsächlich leidet jede sechste Frau mit HMB an mögliche Ursache von HMB hinzuweisen und ein frühes Erken-
einem von-Willebrand-Syndrom (VWS) oder einer anderen Blu- nen zu unterstützen.
tungsneigung. Blutungsneigungen sind häufig. Mehr als 1 bis
Hypermenorrhö
Die Hypermenorrhö wurde in der Vergangenheit als ein «mens- ✔
truationsbedingter erhöhter Blutverlust von > 80 ml» definiert.
Zusammenfassung
Viele Frauen beklagen eine (zu) starke Menstruationsblutung (Hypermenorrhö, «heavy menstrual bleeding», HMB). Die Ursachen sind vielfältig; die Auswirkungen unterschiedlichster Art und Ausprägung und sie können invalidisierend sein. Die häufigsten Ursachen sind anatomisch oder funktionell/hormonell. Jede sechste Frau mit HMB leidet jedoch an einer Blutungsneigung
Verschiedene seither propagierte Messmethoden waren aufwändig und wenig patientinnenfreundlich. Beispielsweise erwies sich das Sammeln von verwendeten Binden als nicht praktikabel. Strichlistensysteme wie die «pictoral bleeding assessment chart (PBAC)» und Fragenkatalogsysteme konnten klinisch validiert werden und korrelieren mit einem erhöhten Menstruationsvolumen; sie werden aber nur selten angewen-
(Hämophilie), welche oftmals nicht bekannt ist. Eine der häufigsten
det.
angeborenen Ursachen ist das von-Willebrand-Syndrom (VWS). 74 bis 92% aller Frauen mit tiefem von-Willebrand-Faktor (VWF) leiden an HMB. Eine frühe Diagnose des schweren VWS kann die Lebensqualität der Trägerin positiv beeinflussen und helfen, lebensgefährliche Situationen zu vermeiden. Dieser Expertenbrief empfiehlt ein einfaches, evidenzbasiertes Screening auf Blutungsneigungen bei HMB anhand weniger geziel-
Heute gilt die Hypermenorrhö als eine Form der menstruationsbedingten abnormen uterinen Blutung (gemäss FIGO 2018), die sich vor allem durch ein übermässiges Blutungsvolumen auszeichnet. Zur Diagnose ist einzig das subjektive Ermessen der Frau relevant, ob ihre Lebensqualität eingeschränkt ist. Die FIGO empfiehlt in Anlehnung an das UK National Institute
ter Fragen, wenn andere gynäkologische Ursachen ausgeschlossen for Health and Care Excellence die Verwendung des Begriffs
wurden. Bei Bedarf können umfassendere Fragebogen zur Anwen-
«heavy menstrual bleeding (HMB)» respektive «starke menstru-
dung kommen. Bei positivem Screening sollte eine gezielte Abklä-
elle Blutung». Davon abzugrenzen sind dysfunktionelle Blutun-
rung auf Blutungsneigungsneigungen bei einer Hämatologin/einem Hämatologen erwogen werden. Zudem sollte bei jeder Frau mit Hypermenorrhö ein Eisenmangel/eine Eisenmangelanämie
gen, die häufig in der Adoleszenz vorkommen. Typischerweise sind diese vom Rhythmus her irregulär und deuten nicht auf
IIa mittels Bestimmung der Hb-, Ferritin- und CRP-Werte (ggf. TSAT)
eine Hämophilie hin. Vor der Erwägung einer hämatologischen
ausgeschlossen respektive therapiert werden.
Abklärung bezüglich einer Blutungsneigung sollte eine kom-
plette gynäkologische Ursachenabklärung erfolgt sein, wobei
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Starke menstruelle Blutung
1°-Kriterien
– blaue Flecken > 5cm 1–2 x pro Monat
– Epitaxis 1–2 x/Monat
– häufiges Zahnfleischbluten
Ja Seit Menarche
Nein
– positive Familienanamnese
(65% VWS)
2°-Kriterien – übermässige postpartale Blutung (62%)
– übermässige Blutung perioperativ (62%)
– übermässige Blutung bei Zahnextraktion (46%)
Ja ≥ 2 der 1°-Kriterien
Nein
Ja
≥ 1 der
Nein
2°-Kriterien
Abklärung der Blutungsneigung
Individuelles Vorgehen
Abbildung: Screening auf Gerinnungsstörungen bei Frauen mit AUB («structured history», modifiziert nach Kouides). Die Prozentzahlen geben die Prävalenz eines VWS bei Vorliegen des jeweiligen Kriteriums an.
insbesondere Ursachen wie Polypen, Myome ausgeschlossen gen gezielten Fragen auf das Vorliegen einer Blutungsneigung
✔ werden sollten.
mit erheblicher Wahrscheinlichkeit geschlossen werden (Abbil-
Von-Willebrand-Syndrom (VWS) und HMB
dung). Andere Autoren unterstützen die Anwendung einer komplexe-
Das angeborene VWS ist (neben der angeborenen Thrombo- ren Algorithmus-basierten HMB-Abklärung im Hinblick auf eine
zytenfunktionsstörung) die häufigste angeborene Hämophilie Blutungsneigung. Diese Fragebogen sind vor allem als Instru-
und tritt bei rund 1% der Frauen im gebärfähigen Alter auf. Es mente des Ausschlusses konzipiert. Wichtig für eine einfache
gibt milde quantitative Mängel (Typ1), vorwiegend qualitative Anwendung ist, dass die Patientin selbst die Fragen beantwor-
Mängel (Typ 2) und schwere Mängel (Typ 3).
tet. Die Algorithmen sind idealerweise den lokalen Gegeben-
74 bis 92% der Frauen mit tiefem VWF leiden an HMB. HMB ist heiten wie Altersverteilung, ethnische Zusammensetzung der
A damit das am häufigsten bekundete Blutungssymptom bei Bevölkerung und den Gegebenheiten des nationalen Gesund-
Frauen mit VWS. Weitere Blutungsmanifestationen sind ver- heitswesens angepasst. Die oben zitierten neuen britischen
mehrte Schleimhautblutungen anderer Lokalisation (Epistaxis, Richtlinien (GB) sprechen dem Screening mittels Fragebogen
Zahnfleischbluten) sowie das sogenannte «easy bruising» (fragebogenabhängige Strategie) einen Evidenzgrad der Stufe
A (überraschendes Auftreten von grossen blauen Flecken).
I zu.
Derzeit gibt es diverse evidenzbasierte Therapieansätze der HMB bei VWS, und neben hormonellen auch nicht hormonelle Therapieoptionen. Die Therapieempfehlungen bei HMB sind
Empfehlungen zum Screening auf Hämophilien bei HMB
altersabhängig. Bei starken Blutungen infolge schweren Die Autoren dieses Expert*innenbriefs empfehlen für die gynä-
VWF-Mangels können Antihämorrhagika wie Tranexamsäure kologische Praxis in Einklang mit der FIGO und der ACOG
und DDAVP nicht ausreichend sein und VWF-Konzentrate müs- (Committee Opinion number 557, April 2013, reaffirmed 2019)
sen gegebenenfalls über Tage verabreicht werden. Die neuen anhand der strukturierten Anamnese nach Kouides vorzugehen
Richtlinien aus Grossbritannien fassen das gynäkologische Ma- (Abbildung). Der Zeitbedarf beträgt hierfür 1 bis 2 Minuten.
nagement bei Frauen mit angeborenen Blutungsneigungen Alternativ kann ein umfassenderer Fragebogen eingesetzt wer-
inklusive des VWS zusammen.
den, der von der Frau selbst beantwortet werden kann (nach
Möglichkeiten zum Screening auf Hämophilien bei HMB
Punt); der Zeitbedarf beträgt 10 bis 20 Minuten, die negative Prädiktivität 96 bis 99%. Weiter stehen primär durch den Arzt/die Ärztin auszufüllende
Durch Anwendung der verhältnismässig einfachen «strukturier- Fragebogen zur Verfügung, so der «condensed MCMDM-1
ten Anamnese» («structured history») kann bei HMB mit weni- Score» (s. deutsche/französische/italienische Übersetzung un-
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Auf einen Blick
ter www.sggg.ch) oder der «BAT» der International Society of Thrombosis und Haemostasis (s. deutsche/französische/italie-
IIa n Hypermenorrhö im Sinne von «heavy menstrual bleeding» (HMB) ist häufig.
nische Übersetzung unter www.sggg.ch) mit Zeitbedarf von 15 bis 25 Minuten und negativer Prädiktivität von 99%.
n Jede sechste Frau mit Hypermenorrhö leidet an einer Hämo-
Bei auffälligem Screening sollte eine differenzierte und voll- IIa
philie, am häufigsten an einem Von-Willebrand-Syndrom (VWS).
ständige Abklärung bezüglich einer Blutungsneigung (u.a. das IIa
Ib n 7 bis 9 von 10 Frauen mit niedrigem von-Willebrand (VW)Faktor leiden an Hypermenorrhö.
VWS) ernsthaft erwogen werden.
n Symptome und Folgen der Hypermenorrhö sind behandelbar;
Datum des Expert*innenbriefs: 28. Juni 2023
IIa Ia
A
die Behandlung richtet sich nach der HMB-Ursache. Vor der hä-
Literatur bei den Autoren.
matologischen Abklärung hat der Ausschluss von gynäkologi-
schen Ursachen (z. B. Myomen oder Polypen) zu erfolgen. n Schon ein einfaches Screening mittels 8 gezielter Fragen
Deklaration von Interessenkonflikten: Irène Dingeldein: Referentin für Takeda; Michael Bajka: keine; Dorothea Wunder: keine; Ruth Draths: keine; Gabriele Merki: Advisory Board Takeda; Lars Asmis: Honoraria für Präsentationen
lässt mit erheblicher Wahrscheinlichkeit auf eine Blutungsnei-
und/oder Teilnahme an Advisory Boards bzw. Unterstützung von wissenschaftlichen Projekten von
gung schliessen.
folgenden Firmen erhalten: Axon Lab, Bayer, CSL Behring, Dade Behring/Siemens, Glaxo Smith Kline, Pfizer, Roche, Sanofi Aventis, Takeda, Viatris.
n Komplexere fragebogenbasierte Algorithmen erlauben mit
hoher Sensitivität und negativer Prädiktivität, Frauen bezüg-
lich relevanter Blutungsneigung zu screenen.
n Bei positivem Screeningresultat sollte eine Zuweisung zu
einem Hämatologen/einer Hämatologin für eine differen-
zierte hämostaseologische Abklärung erwogen werden.
n Bei allen Frauen mit HMB sollte ein Eisenmangel respektive
eine Eisenmangelanämie mittels Bestimmung von Hb, Ferritin
und CRP, ggf TSAT ausgeschlossen respektive behandelt werden.
* MCMDM-1 (= alter ISTH-Fragebogen) – (zz. in Bearbeitung; wird in Kürze auf der SGGG-Homepage aufgeschaltet) * ISTH-BAT (= neuer revidierter ISTH-Fragebogen) – (zz. in Bearbeitung; wird demnächst auf der SGGG-Homepage aufgeschaltet)
* Evidenzlevel und Empfehlungsgrade der Therapieangaben
Evidenzlevel Ia Evidenz durch die Metaanalyse von randomisierten, kontrollierten
Untersuchungen Ib Evidenz durch mindestens eine randomisierte, kontrollierte
Untersuchung IIa Evidenz durch mindestens eine gut angelegte, kontrollierte
Studie ohne Randomisierung IIb Evidenz durch mindestens eine gut angelegte andere quasi-
experimentelle Studie III Evidenz durch gut angelegte, beschreibende Studien, die nicht
experimentell sind, wie Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fallstudien IV Evidenz durch Expertenberichte oder Meinungen und/oder klinische Erfahrung anerkannter Fachleute
Empfehlungsgrad A Es ist in der Literatur, die gesamthaft von guter Qualität und
Konsistenz sein muss, mindestens eine randomisierte, kontrollierte Untersuchung vorhanden, die sich auf die konkrete Empfehlung bezieht (Evidenzlevel Ia, Ib). B Es sind zum Thema der Empfehlung gut kontrollierte, klinische Studien vorhanden, aber keine randomisierten, klinischen Untersuchungen (Evidenzlevel IIa, IIb, III). C Es ist Evidenz vorhanden, die auf Berichten oder Meinungen von Expertenkreisen basiert und/oder auf der klinischen Erfahrung von anerkannten Fachleuten. Es sind keine qualitativ guten, klinischen Studien vorhanden, die direkt anwendbar sind (Evidenzlevel IV). ✔ Good-Practice-Punkt Empfohlene Best Practice, die auf der klinischen Erfahrung der Expertengruppe beruht, die den Expertenbrief/die Guideline herausgibt.
Übersetzt aus dem Englischen (Quelle: RCOG Guidelines Nr. 44, 2006)
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