Transkript
SGGG-GUIDELINE
In der GYNÄKOLOGIE werden – nach Auswahl der Herausgeber – an dieser Stelle aktuelle Guidelines publiziert (verifizierte Printform).
Guideline
(siehe auch: http://sggg.ch/de/members_news/1005)
Kommission Qualitätssicherung Präsident Prof. Dr. med. Daniel Surbek
Später Schwangerschaftsabbruch nach der 12. Woche
Rahmenbedingungen für ein verantwortungsvolles Vorgehen bei Indikationsstellung und Durchführung
Die Begleitung und Betreuung im Zusammenhang mit einem Schwangerschaftsabbruch im 2. oder 3. Trimenon ist für alle Beteiligten anspruchsvoll und belastend. In der Gynäkologie/Geburtshilfe tätige Medizinal- und Gesundheitsfachpersonen werden (u.a. infolge der Entwicklungen in der Pränataldiagnostik) voraussichtlich in zunehmendem Masse mit diesem Thema konfrontiert sein. Um der individuellen Situation aus medizinischer, psychischer und ethischer Sicht gerecht zu werden und um die Belastungen für alle Involvierten möglichst gering zu halten, ist es entscheidend, Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein medizinisch, rechtlich und ethisch verantwortungsvolles Vorgehen bei der Indikationsstellung und Durchführung eines nach dem ersten Trimenon vorgenommenen, späten Schwangerschaftsabbruchs gewährleisten.
Evidenzlevel
Zusammenfassung
n Bei weniger als 5% der ca. 10 000 jährlich in der Schweiz vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche handelt es sich um sogenannte späte Schwangerschaftsabbrüche nach der 12. Woche.
n Bei Schwangerschaftsabbrüchen nach der 12. Woche ist eine Indikationsstellung durch die ausführende Ärztin (resp. den Arzt) erforderlich, die sich gemäss Gesetzgebung an der Abwendung eines schweren körperlichen Schadens bzw. einer schweren seelischen Notlage der Schwangeren orientiert. Die Gefahr der körperlichen und/oder seelischen Notlage der Schwangeren muss umso schwerer sein, je weiter die Schwangerschaft fortgeschritten ist.
n Bei Wunsch nach spätem Schwangerschaftsabbruch ist eine interdisziplinäre und interprofessionelle Besprechung (z. B. im Rahmen eines Ethikzirkels) dringend empfohlen.
n Sowohl für Indikationsstellung wie auch die Durchführung des Abbruches ist schweizweit Gleichbehandlung, Versorgungssicherheit, gerechte Aufgaben- und Ressourcenverteilung sowie die Unterstützung der involvierten Ärzte- und Pflegeteams zu gewährleisten.
n Die betroffene Frau ist ergebnisoffen und nicht direktiv zu beraten, wobei die Beratung auch das Aufzeigen von Alternativen zu einem späten Schwangerschaftsabbruch beinhalten muss.
n Beim Schwangerschaftsabbruch ist eine einfühlsame, kontinuierliche, rechtzeitig einsetzende und über den Abbruch hinaus anhaltende, möglichst ganzheitliche und umfassende Begleitung und Betreuung der Betroffenen wichtig.
n Die meisten Abbrüche ab dem zweiten Trimenon erfolgen in der Schweiz unter stationären Bedingungen mittels Abortinduktion mit konsekutiver Gabe von Mifepriston und einem Prostaglandin.
n Das Komplikationsrisiko ist gering, steigt aber mit zunehmendem Gestationsalter.
n Gibt ein Kind nach einer Abortinduktion im späteren zweiten Trimenon Lebenszeichen von sich, muss eine gute palliative Begleitung im Sterbeprozess erfolgen.
n Ab dem Zeitpunkt der (theoretischen) Lebensfähigkeit des Kindes ist die Vornahme eines Fetozids in Betracht zu ziehen, der an einem Perinatalzentrum von einem erfahrenen Team vorgenommen werden sollte.
In der vorliegenden Empfehlung werden grundsätzliche Aspekte diskutiert, und es wird eine Vorgehensweise erläutert, die auf die derzeit zur Verfügung stehende Evidenz und die langjährige Erfahrung derjenigen, die späte Schwangerschaftsabbrüche in der Schweiz durchführen, abgestützt ist.
Ausgangslage
Jährlich registriert das Bundesamt für Statistik rund 10 000 Schwangerschaftsabbrüche, die schweizweit vorgenommen werden. Weniger als 5% davon sind sogenannte späte Schwangerschaftsabbrüche, die nicht im Rahmen der Fristenregelung erfolgen (d. h. nicht innerhalb von zwölf Wochen seit Beginn der letzten Periode) (1). Gemäss Gesetzgebung ist ein Schwangerschaftsabbruch ausserhalb der Grenzen der Fristenregelung zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft straffrei, wenn es gilt, schweren körperlichen Schaden oder eine schwere seelische Notlage von der Schwangeren abzuwenden, wobei der Schaden umso schwerwiegender sein muss, je weiter die Schwangerschaft fortgeschritten ist (2). Gemäss Bundesamt für Statistik handelt es sich in der Mehrheit der Fälle um fetale Auffälligkeiten (Chromosomenstörungen oder ZNS-, kardiale und renale Fehlbildungen), bei den restlichen Fällen um psychische oder psychosoziale Gründe, die massgebend oder zugrundeliegend sind für die schwere seelische Notlage. Ein späterer Schwangerschaftsabbruch mittels Geburtseinleitung kann die vorgängige Durchführung eines Fetozids implizieren. In jedem Fall ist bei einem im Rahmen eines Schwangerschaftsabbruchs lebendgeborenen Kindes eine palliative Betreuung des Neugeborenen zu gewährleisten. Nachdem die Nationale Ethikkommission (NEK) im Bereich Humanmedizin festgestellt hatte, dass wenig Informationen zur gegenwärtigen Praxis im Zusammenhang mit späten Schwangerschaftsabbrüchen bekannt sind, führte sie 2017 eine Umfrage durch. Diese ergab, dass der Grossteil der Spätabbrüche in den Universitätsspitälern vorgenommen wird (3). Mehr als die Hälfte der befragten 22 Spitäler gaben an, Abbrüche beim Vorliegen von fetalen Anomalien vorzunehmen, während nur zirka ein Fünftel deklarierte, auch Spätabbrüche bei psychischer/ psychosozialer Indikation durchzuführen. Ein ähnliches Resultat
III B IV C
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hatte die 2010 in der Schweizerischen Ärztezeitung publizierte, Die Empfehlung enthält auch einen Passus zur Vorgehensweise
vom Arbeitskreis Abruptio und Kontrazeption Schweiz (APAC) bei einer lebenslimitierenden Erkrankung eines Fetus. Die be-
initiierte Befragung zur Praxis des Schwangerschaftsabbruches troffenen Eltern müssen in jedem Fall ergebnisoffen und
IV C in der Schweiz ergeben (4). Von den 93 Kliniken, die Abbrüche nicht-direktiv im Hinblick auf die Entscheidungsfindung betref-
durchführen, gaben knapp 70% an, dies auch bei Schwanger- fend die Weiterführung der Schwangerschaft oder die Vor-
schaften > 12 0/7 Schwangerschaftswoche (SSW) zu tun, hin- nahme eines Abbruchs der Schwangerschaft beraten werden.
gegen nur 41% bei Schwangerschaften > 12 0/7 SSW bei psy- Entscheiden sie sich für die Weiterführung der Schwanger-
chosozialer Indikation. Es wurden beträchtliche regionale und schaft, muss ihnen eine multiprofessionelle Begleitung mit pal-
kantonale Unterschiede festgestellt, was die Zugänglichkeit zu liativer peripartaler Betreuung des Kindes angeboten werden.
einem späten Schwangerschaftsabbruch anbelangt. Gemäss Bezüglich Begleitung und Betreuung ist eine einfühlsame, kon-
einer Schätzung der APAC reisen bis zu 50 Frauen jährlich für tinuierliche, rechtzeitig einsetzende und über den Abbruch
einen Abbruch ins Ausland.
hinaus anhaltende, möglichst ganzheitliche und umfassende
Im Dezember 2018 veröffentlichte die NEK die Umfrageresul- Begleitung der Betroffenen wichtig. Eine wesentliche Voraus-
tate im Rahmen einer Stellungnahme (3). Das Papier enthält setzung dafür ist ein interprofessionelles Konzept, wie es in sei-
neben ethischen Erwägungen Ausführungen zum rechtlichen nen Grundprinzipien in der vorliegenden Empfehlung darge-
Rahmen, dem medizinischen Vorgehen sowie der Praxis in der legt ist. Es gewährleistet den Informationstransfer zwischen den
Schweiz und mündet in Empfehlungen, die sich u. a. an die involvierten Fachpersonen (Ärzt*Innen, Hebammen, Pflegende,
Fachgesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe der Schweiz, Seelsorge, Psycholog*Innen, Sozialdienst) und ermöglichst es
gynécologie suisse SGGG, richten. Diese sind einerseits allge- – in Abhängigkeit von der institutionellen Gegebenheiten – das
meiner Natur und beziehen sich andererseits auf spezifische betroffene Elternpaar entsprechend seinen Vorstellungen und
Aspekte wie Begleitung und Betreuung der Betroffenen, Me- Bedürfnissen bezüglich Alternativen zum Abbruch, zu Abbruch-
thoden des Abbruchs und Umgang mit «Lebendgeburten» methoden, Abschiedsritus und Trauerbegleitung zu betreuen.
nach einem Schwangerschaftsabbruch.
Eine solche Begleitung muss auch für die Situation gegeben
Der Vorstand der SGGG entschied sich zusammen mit der Aka- sein, in der die Indikation zum Schwangerschaftsabbruch trotz
demie fetomaternale Medizin (AFMM, einer Arbeitsgemein- Wunsch der Frau nicht gestellt werden kann. Damit eine qualita-
schaft der SGGG), basierend auf dem Bericht der NEK, die tiv hochwertige Betreuung angeboten werden kann, bestehen
vorliegende Empfehlung zur Vorgehensweise bei der Indikati- Schulungsangebote (siehe entsprechenden Abschnitt weiter
onsstellung und Durchführung beim späten Schwangerschafts- unten) und es braucht die entsprechenden personellen Ressour-
abbruch zu erarbeiten.
cen. Dies sicherzustellen obliegt den Institutionen, in denen
Grundsätzliche Überlegungen
späte Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden.
Ein Schwangerschaftsabbruch konfrontiert alle Involvierten mit Was die Methoden des Schwangerschaftsabbruchs anbelangt,
dem grundsätzlich ethisch-moralischen Dilemma, das aus der ist einerseits der Minimierung der Risiken für die Patientin der
gegebenen Situation resultiert, d. h. der Unvereinbarkeit des höchste Stellenwert beizumessen, und andererseits sollten ne-
Schutzes des werdenden Lebens und des Respekts der Auto- ben diesen medizinischen Aspekten auch die persönlichen Er-
nomie der betroffenen Schwangeren. Wie sie diese Güter für wägungen und Vorstellungen der betroffenen Patientinnen
sich selbst gewichtet, obliegt im ersten Trimenon alleine der massgebend sein. Im Wesentlichen stehen die beiden Mög-
Entscheidung der Schwangeren. Ab dem zweiten Trimenon lichkeiten «Einleitung der Geburt und gegebenenfalls Nachkü-
sind es die betreuenden Ärztinnen und Ärzte, welche die Ein- rettage (mit oder ohne vorangehenden Fetozid)» und der
schätzung, ob die gesetzlichen Rahmenbedingen erfüllt sind, «operative Schwangerschaftsabbruch mittels Dilatation und
vornehmen müssen. Für alle in die Durchführung des Abbruchs Evakuation» zur Verfügung. Das Komplikationsrisiko steigt ge-
involvierten Fachpersonen kann diese Situation zu Verunsiche- nerell mit jeder zusätzlichen Schwangerschaftswoche an (5, 6).
rung führen und sie stellt eine grosse Herausforderung und Be- In Anbetracht der Häufigkeit von späten Schwangerschaftsab-
lastung dar.
brüchen (schweizweit rund 5% aller Schwangerschaftsabbrü-
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Gleichbehandlung, Versorgungssicherheit, gerechte Aufga- che, also ca. 500/Jahr, nach der 22. SSW ca. 70/Jahr) verfügen
ben- und Ressourcenverteilung sowie die Unterstützung der aber nur wenige Gynäkolog*Innen über die entsprechende
Ärzte- und Pflegeteams sind wesentliche grundlegende As- Expertise. Zudem stösst die Durchführung eines chirurgischen
pekte, die in ausreichendem Mass gewährleistet sein sollten. Schwangerschaftsabbruchs in weit fortgeschrittenem Gestati-
Die vorliegende Empfehlung zielt darauf ab, dass ein transpa- onsalter für viele Frauärzt*Innen an die Grenze dessen, was sie
renter Informations- und Erfahrungsaustausch in der ganzen für sich als zumutbar erachten (7). Darüber hinaus ist die zum IV C
Schweiz sichergestellt ist und Verfahrensstandards, die auf eine Teil für die Prognose für nachfolgende Schwangerschaften
Vereinheitlichung der Praxis hinwirken, definiert sind. Gleich- wichtige pathologische Untersuchung (Autopsie des Kindes)
zeitig soll die Empfehlung auch dazu beitragen, dass die Ver- nach operativem Abbruch nur eingeschränkt möglich. Auch
sorgungsqualität überall gleichwertig ist, und einer Konzentra- das Spektrum an Möglichkeiten für Abschiedsrituale ist nach
tion von Fällen an bestimmten Kliniken in der Schweiz operativem Abbruch deutlich eingeschränkt.
entgegengewirkt werden kann. Darüber hinaus gewährleisten
die mit der Empfehlung angestrebten Standards betreffend In- Bei lebenslimitierenden Diagnosen mit infauster Prognose ist
formation und Transparenz in noch besserem Masse als bis an- das Austragen der Schwangerschaft und das palliative Beglei-
hin, dass die Bedürfnisse und Werthaltungen der Fachperso- ten des Kindes, bis es verstirbt, eine Alternative zum Spät-
nen sichergestellt sind.
abbruch. Schwangere resp. Paare in der gegebenen Situation
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sollten auch über diese Option aufgeklärt werden. Wenn eine Verfügung steht. Dafür ist eine regionale (teilweise überkanto-
Schwangere sich für diesen Weg entscheidet, sollte die in üb- nale) Absprache und Zusammenarbeit notwendig. Zudem soll-
licher Weise erfolgende Schwangerschafts- und Geburtsbe- ten Schwerpunkttitelträger SIWF/FMH Fetomaternale Medizin
treuung durch eine situationsgerechte Begleitung ergänzt und verfügbar sein (um z. B. einen Fetozid durchführen zu können)
das Kind nach der Geburt in Absprache mit den Eltern durch (19). Dies alles dient dazu, eine auf den individuellen Fall ange-
die Neonatologie palliativ betreut werden (8). Eine medizinisch passte optimale und qualitativ hochstehende medizinische BeIV C und pflegerisch umfassende Versorgung und würdige Gestal- treuung zu gewährleisten. Die Zuweisung zum Zentrum sollte
tung der Lebenszeit und des Sterbeprozesses des Kindes ist zum frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgen. In Bezug auf pränatal
dabei unbedingt zu gewährleisten.
festgestellte Auffälligkeiten des Fetus heisst dies idealerweise
Ab dem späteren zweiten Trimenon ist es möglich, dass ein dann, wenn erstmals eine sonografische Unsicherheit/Auffällig-
Kind nach erfolgter Einleitung zum Schwangerschaftsabbruch keit feststellt wird. Dadurch kann vermieden werden, dass wert-
lebend geboren wird. Ist die Indikation für einen späten volle Zeit für eine allenfalls notwendige weitergehende Dia-
Schwangerschaftsabbruch gestellt, so müssen Vorkehrungen gnostik und für eine umfassende, gut reflektierte Entschei-
getroffen werden, damit es nicht zur Geburt eines potenziell dungsfindung und interdisziplinäre Betreuung verloren geht.
überlebensfähigen und durch die frühe Einleitung zusätzlich
geschädigten Kindes kommt. Dies kann bedeuten, dass vor der Ärztliche Beurteilung und Indikationsstellung Einleitung ein Fetozid notwendig ist. Ausnahmen bilden die Nach zwölf Wochen seit Beginn der letzten Periode muss ge-
Situationen, in denen eindeutig lebenslimitierende Fehlbildun- mäss Gesetz für einen Abbruch der Schwangerschaft eine In-
gen mit infauster Prognose quoad vitam vorliegen. Hier ist eine dikation gemäss ärztlichen Urteil vorliegen. Massgebend ist,
Einleitung mit anschliessend palliativer neonatologischer Be- sowohl im Falle einer schweren gesundheitlichen Beeinträchti-
treuung eine Option. In jedem Fall muss bei im Rahmen eines gung des Fetus als auch bei einem Wunsch nach Abbruch aus
Schwangerschaftsabbruchs lebendgeborenem Kind eine palli- psychischen oder psychosozialen Gründen, die seelische Not-
ative Betreuung des Kindes bis zu dessen Versterben sicher- lage der Schwangeren, die umso schwerer sein muss, je weiter
gestellt werden. Dabei ist eine gute Absprache und Einbindung die Schwangerschaft fortgeschritten ist. Die Beurteilung, ob die
der Neonatologie unabdingbar.
Indikation gegeben ist, liegt gemäss Gesetz in den Händen der
Vorgehensweise
für den Fall verantwortlichen Ärzt*Innen, wobei es in deren Ermessen liegt, ob sie dafür eine zusätzliche, fachärztliche Stel-
Zuständigkeit
lungnahme einholen möchten. Dies könnte z. B. eine psychiat-
Der Spätabbruch ist ein Thema, welches für die Frau, ihren Part- rische Einschätzung der psychischen Verfassung und der
ner und für alle beteiligten Fachpersonen sehr schwierig und Urteils- und/oder Entscheidungsfähigkeit einer Frau mit psy-
belastend ist. Umso wichtiger ist eine gute Vernetzung und Zu- chosozialen Beweggründen sein, bei der Hinweise für eine psy-
sammenarbeit all jener Institutionen, die Anlaufstellen für chiatrische Erkrankung bestehen. Grundsätzlich ist eine fetale
Schwangere sind, die aufgrund einer seelischen Notlage – sei Beeinträchtigung oder Anomalie gemäss Gesetz kein Grund
es wegen eines schwerwiegenden gesundheitlichen Problems für einen Schwangerschaftsabbruch (Ausschluss der eugeni-
beim Fetus/Kind oder infolge einer schweren psychosozialen schen Indikation), so wie dies in anderen europäischen Ländern
Belastungssituation – den Wunsch nach einem Schwanger- der Fall ist (z. B. Frankreich, England). In der Realität spielt aller-
schaftsabbruch äussern. Dieses Anliegen vorzubringen kann dings die fetale Beeinträchtigung hinsichtlich der seelischen
sehr schambehaftet sein. Umso wichtiger ist es, dass sich die Notlage oftmals eine sehr wichtige Rolle. Beim Vorliegen einer
erste Anlaufstelle, bei der sich die Betroffene meldet, ihren gesundheitlichen Beeinträchtigung des Fetus ist die Prognose
Möglichkeiten entsprechend des Problems annimmt. Handelt für das Kind ein wichtiger Aspekt. Es ist dann oftmals zu beurtei-
es sich dabei nicht um eine Institution, die einen Abbruch len, ob die Prognose des Kindes eine Gefährdung der seeli-
durchführen kann, so ist diese gleichwohl so lange für die Ko- schen Gesundheit, welche von der Frau zum Ausdruck gebracht
ordination zuständig, bis die Patientin erfolgreich an eine ent- wird, begründen kann. Auch die Unmöglichkeit der Prognose-
sprechende Stelle überwiesen ist. Auch wenn nicht in jedem stellung (z. B. bei bestimmten genetischen wie auch zerebralen
Fall einem Wunsch nach einem Schwangerschaftsabbruch Erkrankungen) kann eine Gefährdung der seelischen Gesund-
Folge geleistet werden kann und muss, braucht jede Schwan- heit der Frau begründen. Die Prognosebeurteilung muss den
gere/jedes Paar kompetente Beratung, Betreuung und Beglei- betroffenen Paaren durch Fachspezialist*Innen erläutert wer-
tung, und zwar unabhängig davon, ob es zu einem Schwanger- den und in den Entscheidungsfindungsprozess einfliessen. Um-
III C schaftsabbruch kommt oder nicht (9).
gekehrt ist zu bedenken, dass auch ein später Schwanger-
Da es sich beim straflosen Schwangerschaftsabbruch um eine schaftsabbruch eine schwere seelische Belastung oder
von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung gedeckte Gefährdung der seelischen Gesundheit für die Frau bedeuten
medizinische Leistung handelt, muss jeder Kanton gemäss kann, was in der Gesamtbeurteilung miteinfliessen muss. Letzt-
Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) (im Speziel- lich ist zu bedenken, dass nur die betroffene Frau selber für sich
len Art. 30 und 39) dafür besorgt sein, dass die notwendige eruieren kann, wo ihre Grenzen der Belastbarkeit liegen. Diese
Anzahl Kliniken einen Leistungsauftrag für diese Intervention wiederum sind ganz entscheidend dafür, ob eine Familie mit
haben. Für die Durchführung von späten Schwangerschaftsab- ihren sozialen und psychischen Ressourcen der Herausforde-
brüchen sollten somit die Voraussetzungen in jedem Kanton rung gewachsen ist, ein Kind mit einer Beeinträchtigung gut
gegeben sein. Für eine adäquate Betreuung hingegen ist es betreuen und ihm gerecht werden zu können. Dies impliziert,
unabdingbar, dass die Patientin einer Pränataldiagnostik in ei- dass die Entscheidungsfindung im Idealfall nach dem Prinzip
nem Zentrum zugeführt wird und ein Betreuungskonzept zur des «shared decision making» erfolgen sollte (9). Das ist am
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besten gewährleistet, wenn ein Treffen aller involvierten Fach- schen wie auch bei der medikamentösen Methode eine
personen stattfindet. Dafür sollte die jeweilige Institution eine schriftliche Aufklärung erfolgen.
standardisierte, strukturierte Vorgehensweise mit Einberufung
einer fallbezogen definierten Runde von Fachexpert*Innen de- Durchführung des Abbruchs finiert haben. Je nach Verfügbarkeit können Ärzt*Innen der Fe- Die meisten Abbrüche ab dem zweiten Trimenon erfolgen in
tomaternalen Medizin, Pränataldiagnostik, Genetik, Neonato- der Schweiz unter stationären Bedingungen mittels Abort-
logie und Pädiatrie, evtl. der Psychiaterie, ferner Hebammen, induktion. Die heutzutage etablierte Methode für die Abort-
Pflegende, Psycholog*Innen sowie Vertreter*Innen der klini- induktion ist die konsekutive Gabe von Mifepriston und Miso-
schen Ethik, der Seelsorge, der Sozialarbeit und unter Umsta- prostol (synthetisches Prostaglandin-E1-Derivat (16). Bei vor- I A
änden des Rechtsdienstes hinzugezogen werden.
ausgegangener Sectio oder Myomektomie kommt aufgrund
Das Gespräch mit der Frau respektive ihrem Partner erfolgt des erhöhten Uterusrupturrisikos in der Regel Sulproston statt
durch die fallführende ärztliche Bezugsperson; in Einzelfällen Misoprostol zur Anwendung. Abhängig vom Gestationsalter
kann das betroffene Paar in diese Runde einbezogen werden. kann auch die operative Methode mittels Dilatation und
Eine ärztliche Bezugsperson sollte unbedingt bezeichnet wer- Vakuumevakuation respektive Extraktion zum Einsatz kommen.
den, damit die Kontinuität der Betreuung gewährleistet ist. Zu-
dem sollte eine in Trauerbegleitung spezialisierte Fachperson Analgesie
(meist Hebamme) bereits während des Prozesses der Entschei- Die chirurgische Intervention sollte in Regionalanästhesie oder
dungsfindung auch als Vertrauensperson miteinbezogen wer- Intubationsnarkose erfolgen Bei einem medikamentösen Vor-
den. Unabhängig davon, ob das Paar sich für den Abbruch oder gehen sollte die Möglichkeit einer Analgesie (PDA oder i.v.-
das Austragen der Schwangerschaft entscheidet, sollte auch in Opioide) angeboten werden. Als Basisanalgesie eignen sich in
der auf die Indikationsstellung nachfolgende Phase eine konti- erster Linie NSAR, während Paracetamol in der Regel nicht aus-
nuierliche Betreuung gewährleistet sein, die sich je nachdem in reichend ist.
erster Linie der Begleitung während des Abbruchs und dem
anschliessenden Trauer- und Verarbeitungsprozess widmet Plazenta-Histologie
oder der Begleitung einer von Sorge überschatteten Schwan- Eine histologische Untersuchung der Plazenta sollte in Abhän-
gerschaft. Da sich nicht jedes Paar in der Lage sieht, ein Kind gigkeit von der klinischen Situation und bei fetalen Fehlbildun-
mit einer Beeinträchtigung (vollumfänglich) selbst zu betreuen, gen durchgeführt werden. Ein Screening auf persistierende
sind immer auch Entlastungsangebote bis hin zur Möglichkeit Trophoblasterkrankungen wird nicht empfohlen.
der Freigabe des Kindes zur Adoption zu thematisieren.
Autopsie und genetische Analyse
Zeitintervall zwischen Indikationsstellung und Abbruch
Prinzipiell ist den Eltern eine Autopsie bei fetalen Fehlbildun-
Die maternale Morbidität des Schwangerschaftsabbruchs gen dringend nahezulegen. Es sollte eine Standarduntersu-
steigt mit zunehmender Schwangerschaftswoche. Ein Schwan- chung sein, wobei die Eltern ihr Einverständnis geben müssen.
gerschaftsabbruch ist in einer früheren Woche mit weniger Dieses sollte, wenn möglich, bereits vor dem Abbruch einge-
Komplikationen verbunden. Zudem ist die Indikationsstellung holt werden. Falls präpartal noch nicht erfolgt, ist eine geneti-
zum Schwangerschaftsabbruch gemäss Gesetz abhängig da- sche Analyse auch nach dem Abbruch in vielen Fällen sinnvoll.
von, wie weit fortgeschritten eine Schwangerschaft ist. Daher ist Die Kostenübernahme muss individuell geklärt werden.
es wichtig, dass es nicht zu Verzögerungen in der Kette der Ab-
klärungen kommt, jedoch auch alle als nötig erachtete Unter- Komplikationen
suchungen durchgeführt werden und deren Resultate vorliegen Generell liegt das Risiko für eine Komplikation (d. h. Blutung,
sollten. Kann der Abbruch nicht in der betreuenden Institution Uterusruptur oder Infektion) bei < 1% vor 16 SSW, bei 1% zwi- (Ultraschallspezialpraxis, Klinik ohne entsprechendes Angebot) schen 16 und 20 SSW und steigt mit jeder SSW nach 20 SSW um durchgeführt werden, sollte die Patientin die Möglichkeit er- 1%. Das Mortalitätsrisiko ist sehr gering (0,65 pro 100 000) (13, 17). III B halten, rasch an ein Spital mit dem entsprechenden Angebot Bei der chirurgischen Intervention ist das Risiko für eine Perfo- IV C überwiesen zu werden (11). ration 1 bis 4/1000 (18). Das Risiko für eine Zervixverletzung liegt IIa B bei 1:100 und ist in frühen Schwangerschaftswochen geringer Präinterventionelle Abklärungen als in späteren. Das Risiko ist zudem erhöht nach vorausgegan- Bei der Ultraschalluntersuchung ist neben der fetalen Sonogra- genen Operationen an der Zervix und bei zervikalen oder ute- fie, die sonografische Beurteilung der Plazenta hinsichtlich Pla- rinen Fehlbildungen. Eine medikamentöse Vorbehandlung be- zentationsstörung wichtig, weil bei Placenta praevia oder in- sonders bei einer Intervention nach 18 SSW reduziert das Risiko creta das Risiko einer postpartalen Hämorrhagie deutlich einer Verletzung (13). IV C erhöht ist (12). Zudem muss bei Status nach Sectio geprüft wer- Eine Uterusruptur ist sehr selten und das Risiko liegt bei < 1 auf IV C den, ob ein Placenta-accreta-Spektrum vorliegt (13). 1000. Bei Status nach Sectio ist dieses Risiko geringgradig hö- her und liegt bei 4 auf 1000 (18, 19). Das Risiko ist deutlich er- IIa B Aufklärung/informed consent höht bei Zustand nach Sectio mit Längsuterotomie (18). Im Vorfeld des Schwangerschaftsabbruchs sollte unbedingt auf Es gibt bisher keine Daten, die zeigen, dass die Fertilität nach die möglichen Komplikationen hingewiesen werden, analog einem Abbruch beeinträchtigt und das Risiko für eine ektope dem Informationsblatt für Schwangere nach vorausgegange- Schwangerschaft und Placenta praevia erhöht ist. nem Kaiserschnitt oder dem Aufklärungsprotokoll «Geburts- Eine seltene Komplikation als Folge eines direkten oder indi- IV C einleitung» der SGGG (14, 15). Es muss sowohl bei der chirurgi- rekten Traumas des Endometriums ist das Asherman Syndrom. GYNÄKOLOGIE 3/2023 25 IV C, IIb B IV C IV C Die Ergebnisse in Bezug auf die Häufigkeit des Auftretens sind unterschiedlich und wurden zum Teil nicht für Risikofaktoren adjustiert. Eine registerbasierte Studie fand kein erhöhtes Risiko bei Frauen mit einem Abbruch vor ihrer ersten Geburt im Vergleich zu Frauen ohne einen Abbruch. Im Vergleich zu einem medikamentösen Abbruch besteht nach einem chirurgischen Abbruch ein geringfügig erhöhtes Risiko für eine Frühgeburt (20, 21). Betreuung eines Kindes mit Lebenszeichen Grundsätzlich kann es bei der Einleitung zum medikamentösen Schwangerschaftsabbruch vorkommen, dass der Fetus nicht unter der Geburt verstirbt, sondern über wenige Minuten bis einige Stunden oder selten sogar Tage am Leben ist. Dies kommt umso häufiger vor, je weiter die Schwangerschaft fortgeschritten ist. In diesen Situationen müssen eine gute palliative Begleitung des Kindes im Sterbeprozess im Sinne einer «comfort care» und eine zusätzliche Analgosedation bei Bedarf gewährleistet sein (22). In jedem Fall muss bei lebend geborenem Kind eine palliative Betreuung erfolgen. Idealerweise liegt dafür ein gemeinsam mit den Neonatolog*Innen erarbeitetes Protokoll vor. Wichtig ist es, dass die entsprechenden Vorbereitungen getroffen werden und die dafür nötigen personellen Ressourcen (Hebammen, Neonatolog*Innen) gegeben sind. Eine Studie zur Analyse der Todesfälle im Gebärsaal nach spätem Schwangerschaftsabbruch in der Schweiz zeigte, dass die Dokumentation der Vorgehensweise in diesen Situationen bis anhin häufig unvollständig war (23). Eine möglichst einheitliche Dokumentation sollte angestrebt werden. Sie sollte neben der Indikation, dem Entscheidungsprozess und der Wahl des Abbruchverfahrens auch Details zu einer palliativen Versorgung nach einer Lebendgeburt enthalten. Für Letzteres wäre es sinnvoll, wenn jeweils institutionsintern ein in Zusammenarbeit mit der Neonatologie erstelltes Protokoll vorhanden wäre. Fetozid Ab dem späten zweiten Trimenon ist ein Kind zumindest theoretisch lebensfähig. Ab diesem Zeitpunkt muss bei nicht letaler Fehlbildung ein Fetozid erwogen werden, um zu verhindern, dass eine Situation herbeigeführt wird, in der ein Kind als extrem Frühgeborenes überlebt und damit iatrogen zusätzlich geschädigt wird. Ausnahmen davon sind Situationen, in welchen schwere fetale Anomalien vorliegen, die postpartal zum Versterben des Kindes führen. Generell ist die Durchführung eines Fetozids sowohl für die Frau bzw. das Paar wie auch die beteiligten Fachpersonen äusserst belastend. Dementsprechend ist in jedem Fall sorgfältig zu überprüfen, ob ein Fetozid notwendig ist oder der Schwangerschaftsabbruch im fortgeschrittenen Gestationsalter auch mittels Einleitung (ohne vorgängigen Fetozid) erfolgen kann. Bei der Entscheidung, ob die Einleitung mit oder ohne vorgängigem Fetozid erfolgen soll, muss in jedem Falle auch die Haltung der betroffenen Frau mitberücksichtigt werden. Für die Durchführung eines Fetozids muss ein schriftliches Einverständnis der Frau vorliegen und sie sollte an einem Perinatalzentrum durch ein erfahrenes Team vorgenommen werden. Ausser bei einem selektiven Fetozid bei Mehrlingsschwangerschaften erfolgt im Anschluss an den Fetozid die Abortinduktion entsprechend dem Gestationsalter, d.h. im dritten Trimenon mit entsprechend angepasster, niedrigerer MisoprostolDosis. Betreuung der betroffenen Paare Ein später Schwangerschaftsabbruch ist für das betroffene Paar eine äusserst schmerzliche Erfahrung und für die Schwangere im Falle einer Abortinduktion auch eine potenziell schmerzhafte Prozedur. Für die Frau kann es zudem eine schwere psychische Belastung bedeuten. Entsprechend wichtig ist eine empathische und auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmte Betreuung. Gleichzeitig stellt die Begleitung beim späten Schwangerschaftsabbruch auch für alle in die Betreuung Involvierten eine Herausforderung und gegebenenfalls auch eine Belastung dar (7). Ausreichende Information und ein frühzeitiger Einbezug aller Beteiligten in die Planung ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Betreuenden gut vorbereitet sind und sich ihrer Aufgabe emotional gewachsen fühlen. Institutionsinterne Protokolle und Checklisten bieten eine wichtige Grundlage für den Informationstransfer. Damit kann auch verhindert werden, dass dem Paar wiederholt die gleichen Fragen gestellt werden. Ganz entscheidend ist es, dem Paar einfühlsam, aber gleichzeitig offen darzulegen, wie das Abortgeschehen abläuft. Dies schliesst auch den Hinweis darauf mit ein, dass das Kind unter Umständen lebend geboren und wie es in diesem Falle palliativ betreut wird. Wenn die Betroffenen im Vorfeld erfahren haben, was auf sie zukommt, ermöglicht dies ihnen, die Begegnung und das Abschiednehmen vom Kind ihren Vorstellungen entsprechend zu gestalten. Eine Zusammenstellung von Informationsmaterial (z. B. in einer Mappe), aber auch die Zurverfügungstellung von Utensilien für Abschiedsrituale können hilfreich sein. Bei den späten Schwangerschaftsabbrüchen sollte die Betreuung während der Abortinduktion durch das geburtshilfliche Team erfolgen, wobei den Hebammen eine zentrale Funktion zukommt. Idealerweise ist die Neonatologie für die palliative Betreuung beizuziehen, insbesondere bei fortgeschrittenem Gestationsalter. Angebote für eine psychologische und/oder seelsorgerische Begleitung vor, während und nach dem Abbruch sollten zur Verfügung stehen. Um die Kontinuität in der Nachbetreuung zu gewährleisten, ist ein frühzeitiger Einbezug der nachbetreuenden Hebamme essenziell. Alternativen zum späten Schwangerschaftsabbruch Die Beratung betroffener Schwangerer/Paare sollte auch das Aufzeigen von Alternativen zu einem späten Schwangerschaftsabbruch beinhalten. Das Austragen einer Schwangerschaft ist immer eine Option, unabhängig von der Indikation. Zudem sollte auch auf die Möglichkeit, das Kind nach der Geburt zur Adoption freizugeben, hingewiesen werden. Unterstützung, Schulung und Fortbildung aller betreuenden Fachpersonen In jeder Institution, in der späte Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden, sollten Unterstützungsangebote und Austauschmöglichkeiten für das involvierte Fachpersonal zur Verfügung stehen. Es sollte auch jederzeit die Möglichkeit zu einem Debriefing gegeben sein, wann immer ein Teammitglied dies für angezeigt erachtet. Es empfiehlt sich zudem, dem geburtshilflichen Team in regelmässigen Abständen Schulungen und Fort- und Weiterbildungen zum Thema «später Schwangerschaftsabbruch» anzubieten; idealerweise im interprofessionellen Setting. 26 GYNÄKOLOGIE 3/2023 Darüber hinaus gibt es mit der Fachstelle «kindsverlust.ch» ein seit 2003 bestehendes nationales Kompetenzzentrum für nachhaltige Unterstützung beim Tod eines Kindes in der Schwangerschaft, während der Geburt und erster Lebenszeit. Sie bietet ein breitgefächertes Weiterbildungsprogramm. Grundsätze für die interinstitutionelle Zusammenarbeit Grundsätzlich hat jeder Arzt/jede Ärztin das Recht, aus persönlichen Gründen die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs abzulehnen; dasselbe gilt für alle beteiligten Fachpersonen. Gleichzeitig hat jede Patientin das Recht auf Weiterweisung, wenn der Arzt/die Ärztin oder eine Institution die Durchführung eines späten Schwangerschaftsabbruchs ablehnt. Die Ablehnung der Indikationsstellung eines späten Schwangerschaftsabbruchs in einer Institution darf auf keinen Fall bedeuten, dass die betroffene Frau durch die Institution keine Weiterbetreuung erhält. Konkret bedeutet dies: n Jede Frau mit dem Wunsch nach spätem Schwangerschafts- abbruch wird von der Institution, an die sie sich hilfesuchend wendet, ernst genommen. n Handelt es sich um eine Institution, die selbst keine Kompetenz oder Befugnis hat, die Frau in dieser Situation zu betreuen, unterstützt sie die hilfesuchende Frau dabei, an eine entsprechende Stelle zu gelangen. n Auch wenn es fraglich ist, ob in der aufgesuchten Klinik/Praxis in der gegebenen Situation die Indikation zu einem Abbruch gestellt werden kann, erhält die Frau immer möglichst umfassende wertfreie Information und eine nicht direktive, ergebnisoffene Beratung. n Kann in der aufgesuchten Institution (Klinik/Praxis) ein gewünschter Abbruch aufgrund fehlender Kompetenz nicht Anlaufstellen: https://www.kindsverlust.ch https://schwangerschaftsabbruch.org www.hebammensuche.ch vorgenommen werden, dann übernehmen es die dort tätigen Kolleg*Innen, die Frau an ein Kompetenzzentrum zu überweisen. Dies sollte ohne Zeitverzug und – das Einverständnis der Betroffenen vorausgesetzt – unter Weitergabe aller zur Verfügung stehenden Informationen erfolgen. n Es empfiehlt sich dringend, Schwangere bereits wenn erstmals eine fetale Auffälligkeit im Ultraschall festgestellt wird, umgehend einem Kompetenzzentrum zuzuführen. So kann vermieden werden, dass wertvolle Zeit ungenutzt verstreicht, falls es später zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs kommt. n Eine möglichst einheitliche Dokumentation, die die Indikation, den Entscheidungsprozess, die Wahl des Abbruchverfahrens und Details zur palliativen Versorgung nach einer Lebendgeburt enthält, sollte angestrebt werden. Datum dieser Guideline: 30. 12. 2022 Autorinnen und Autoren: S Tschudin, Leitende Ärztin, Abteilung Gyn. Sozialmedizin & Psychosomatik, Frauenklinik Universitätsspital Basel, E-Mail: sibil.tschudin@usb.ch (Schriftführung) I Hoesli, Chefärztin em. Klinik für Geburtshilfe und Schwangerschaftsmedizin, (irene.hoesli@usb.ch). R Zimmermann, em. Klinikdirektor für Geburtshilfe, Universitätsspital Zürich (roland@diezimmermanns.ch) D Surbek, Ordinarius und Chefarzt Geburtshilfe/Feto-maternale Medizin, Geschäftsführender Co-Klinikdirektor, Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Inselspital Bern (daniel.surbek@insel.ch) L Raio, Leitender Arzt und Stv. Chefarzt Geburtshilfe, Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Inselspital Bern (luigi.raio@insel.ch) B Mosimann, Leitende Ärztin Geburtshilfe, Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Inselspital Bern (beatrice. mosimann@insel.ch) B Martinez de Tejada Weber, Cheffe de Service d’Obstétrique, Hôpitaux Universitaires de Genève, (Begona. MartinezDeTejada@hcuge.ch) Y Vial, Médecin-chef, Département femme-mère-enfant, Service d’Obstétrique, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV) (Yvan.Vial@chuv.ch) D Baud, Médecin chef de Service d’Obstétrique, Département femme-mère-enfant, CHUV (David.Baud@ chuv.ch) AC Muller Brochut, Gynecho, Pl. de la Gare 15, 1700 Fribourg (mullerbrochut@gmail.com) N Ochsenbein-Kölbe, Chefärztin und Kinikdirektorin Klinik für Geburtshilfe, Universitätsspital Zürich (nicole. ochsenbein@usz.ch) T Burkhardt, Leitender Arzt, Klinik für Geburtshilfe, Universitätsspital Zürich, (tilo.burkhardt@usz.ch) L Schäffer, Chefarzt Klinik für Geburtshilfe & Pränataldiagnostik, Kantonsspital Baden AG (Leonhard.Schäffer@ksb.ch) G Pellegrinelli, Médecin adjoint, Service d’Obstétrique, Département femme-mère-enfant, CHUV (Jean-Marie.Pellegrinelli@hcuge.ch) J Wisser, GYN & PERINATAL Zürich (josef.wisser@usz.ch) M Hodel, Chefarzt Geburtshilfe und Fetomaternale Medizin, Co-Leitung Perinatalzentrum Luzern, Frauenklinik, Kantonsspital Luzern (markus.hodel@luks.ch) Die Autoren und Autorinnen haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert. * Evidenzlevel und Empfehlungsgrade der Therapieangaben Evidenzlevel Ia Evidenz durch die Metaanalyse von randomisierten, kontrollierten Untersuchungen Ib Evidenz durch mindestens eine randomisierte, kontrollierte Untersuchung IIa Evidenz durch mindestens eine gut angelegte, kontrollierte Studie ohne Randomisierung IIb Evidenz durch mindestens eine gut angelegte andere quasi- experimentelle Studie III Evidenz durch gut angelegte, beschreibende Studien, die nicht experimentell sind, wie Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fallstudien IV Evidenz durch Expertenberichte oder Meinungen und/oder klinische Erfahrung anerkannter Fachleute Empfehlungsgrad A Es ist in der Literatur, die gesamthaft von guter Qualität und Konsistenz sein muss, mindestens eine randomisierte, kontrollierte Untersuchung vorhanden, die sich auf die konkrete Empfehlung bezieht (Evidenzlevel Ia, Ib). B Es sind zum Thema der Empfehlung gut kontrollierte, klinische Studien vorhanden, aber keine randomisierten, klinischen Untersuchungen (Evidenzlevel IIa, IIb, III). C Es ist Evidenz vorhanden, die auf Berichten oder Meinungen von Expertenkreisen basiert und/oder auf der klinischen Erfahrung von anerkannten Fachleuten. Es sind keine qualitativ guten, klinischen Studien vorhanden, die direkt anwendbar sind (Evidenzlevel IV). ✔ Good-Practice-Punkt Empfohlene Best Practice, die auf der klinischen Erfahrung der Expertengruppe beruht, die den Expertenbrief/die Guideline herausgibt. Übersetzt aus dem Englischen (Quelle: RCOG Guidelines Nr. 44, 2006) GYNÄKOLOGIE 3/2023 27 Quellen: 1. Bundesamt für Statistik Schweiz: Schwangerschaftsabbrüche. 2019. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/reproduktive/schwangerschaftsabbrueche.html. 2. Strafgesetzbuch Schweiz: Schwangerschaftsabbruch. 2002. 3. 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