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JOURNAL CLUB
Schwangerschaft
Niedrigere oder höhere glykämische Kriterien für die Diabetesdiagnose?
Die Prävention von Gestationsdiabetes gehört zu den wichtigsten Aufgaben in der Schwangerenvorsorge. Jetzt untersuchte eine randomisierte Vergleichsstudie (1), ob im Screening höhere oder niedrigere angesetzte glykämische Kriterien sinnvoller sind. Das Ergebnis zeigt, dass bei Anwendung der niedrig glykämischen Diagnosekriterien (wie in der Schweiz) das Risiko für ein LGA-Neugeborenes nur leicht verringert wird und mütterliche Risiken trotz verstärkter medizinischer Intervention ähnlich ausgeprägt sind.
Die Risiken für einen Gestationsdiabetes (GDM) für Mutter und Kind sind bekannt. Bei der betroffenen Mutter kann es zu Präeklampsie, der Notwendigkeit für Weheninduktion vor Termin und Kaiserschnitt sowie zur Geburt eines schweren, d. h. LGA-Kindes (LGA: large for gestational age) kommen. Für das Kind bestehen darüber hinaus erhöhte Gefährdungen u. a . für Schulterdystokie, Geburtsverletzungen sowie Gelbsucht und Hypoglykämie nach der Geburt. Die Behandlung der betroffenen Mutter schliesst deshalb eine Ernährungstherapie, ein Blut-Glukose-Monitoring und gegebenenfalls eine Pharmakotherapie ein. Hingegen bestehen weltweit Kontroversen darüber, welcher Level an mütterlicher Hyperglykämie die GDM-Diagnose aufzeigt. Aufgrund der Resultate der HAPO-Studie (Hyperglycemia and Adverse Pregnancy Outcomes Cohort Study) gab die International Association of Diabetes in Pregnancy Study Groups neue diagnostische Kriterien für GDM heraus, und zwar mit niedrigeren glykämischen Kriterien als früher. Diese werden u. a . von der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG) gemäss Expertenbrief No 37 in der Schweiz empfohlen (2). Dennoch werden diese Referenzwerte international nicht von allen Berufsgruppen angenommen, da vielfach gefordert wird, weitere grosse Studien zur Untermauerung der Kriterien zu lancieren.
4061 Schwangere für 2 GDMReferenzwerte randomisiert
Eine australisch-neuseeländische Gruppe ging jetzt in einer randomisierten Kohor-
tenstudie der Frage nach, inwieweit die Anwendung der niedrig glykämischen Kriterien zur GDM-Diagnose, welche auch bei Frauen mit milder Form von GDM eine Behandlung nach sich zieht, für die Gesundheit von Mutter und Kind sinnvoll ist. Über 4000 Frauen in der 24. bis 32. Schwangerschaftswoche (SSW) wurden im Verhältnis 1:1 für die Evaluation eines eventuellen GDM unter 2 glykämischen Kriterien randomisiert: Gruppe 1: Die niedrig glykämischen Kriterien waren ein Nüchternglykosespiegel von mindestens 92 mg/Deziliter (≥ 5,1 mmol/L), ein 1-Stunden-Wert von mindestens 180 mg/Deziliter (≥ 10,0 mmol/L) oder ein 2-Stunden-Wert von mindestens 153 mg/Deziliter (≥ 8,5 mmol/L). Diese Werte entsprechen den Schweizer Empfehlungen (2). Gruppe 2: Die höher glykämischen Kriterien waren ein Nüchternglykosespiegel von mindestens 99 mg/Deziliter (≥ 5,5 mmol/L) oder ein 2-Stunden-Wert von mindestens 162 mg/Deziliter (≥ 9,0 mmol/L). Primärer Endpunkt der Untersuchung war die Geburt eines LGA-Kindes (Geburtsgewicht über der 90. Perzentile gemäss WHO-Standards); die sekundären Endpunkte betrafen Gesundheitskriterien von Mutter und Kind.
Gesundheitlicher Nutzen insgesamt vergleichbar
Ein GDM wurde bei 15,3% (n = 310 von 2022) der Frauen unter den niedrig glykämischen Kriterien und bei 6,1% (n = 124 von 2039) der Frauen unter den höheren glykämischen Kriterien diagnos-
tiziert (Gruppen 1 vs. 2). 8,8% der Neu-
geborenen der Gruppe 1 waren LGA-
Kinder versus 8,9% der Gruppe 2 (adjus-
tiertes relatives Risiko: 0,98; 95%-KI: 0,80-
1,19).
In der Gruppe 1 waren Weheninduktion,
weitere medizinische Interventionen,
Pharmakotherapien und beim Kind die
neonatale Hypogykämie häufiger als in
Gruppe 2. Die sekundären Endpunkte –
darunter Geburtsgewicht, SGA (small for
gestational age) und LGA, Makrosomie,
Frühgeburtlichkeit und bei der Mutter
Diabetesberatungen und -therapie – wa-
ren in beiden Gruppen aber ähnlich, d. h.
zahlenmässig ohne grosse Unterschiede.
Die Studienärzte fanden also, dass die
Frauen der Gruppe 1 mit den niedrig
glykämischen Kriterien 2,5-mal häufiger
die Diagnose GDM (und Therapie) er-
hielten als diejenigen der Gruppe 2,
wenn die Untersuchungen in der 24. bis
32. SSW erfolgten. Trotzdem wurde bei
den Frauen und Neugeborenen der
Gruppe 1 kein wesentlicher gesundheit-
licher Nutzen gegenüber denjenigen der
Gruppe 2 festgestellt, ungeachtet des
intensiveren Monitorings von Mutter und
Kind. Es zeigte sich kein signifikanter
Unterschied in der Zahl der LGA-Kinder
(primärer Endpunkt).
Dennoch, so wird angemerkt, könne es
bei den Neugeborenen der Gruppe 2 zu
unbemerkten Fällen von Hypoglykämie
kommen, deren mögliche gesundheitli-
che negative Folgen wegen Nichtbe-
handlung weiter wissenschaftlich zu un-
tersuchen seien. Zu erforschen seien
Auswirkungen insbesondere bei milden
Formen des GDM und sinnvolle Behand-
lungen bei Mutter und Kind.
n
Bärbel Hirrle
Quellen: 1. Crowther CA et al.: Lower versus higher glycemic criteria for diagnosis of gestational diabetes. N Engl J Med. 2022; 387 (7): 587-598. DOI: 10.1056/NEJMoa2204091. 2. SGGG Expertenbrief No 37: Screening des Gestationsdiabetes. https://www.sggg.ch/fileadmin/user_upload/Dokumente/3_ Fachinformationen/1_Expertenbriefe/De/37_Screening_des_ Gestationsdiabetes_2011.pdf
30 GYNÄKOLOGIE 5/2022