Transkript
SCHWERPUNKT
Fall-Potpourri aus der Urogynäkologie
Wie hätten Sie entschieden?
Anhand 4 exemplarischer Fälle stellen wir interessante Krankheitsbilder aus dem Gebiet der Urogynäkologie vor, mit denen Sie in der Praxis konfrontiert werden können. Hinter geläufigen Symptomen wie Inkontinenz, Schmerzen oder erschwerter Miktion verstecken sich häufig nicht alltägliche Diagnosen. Wir geben einen spannenden Einblick zu den urogynäkologischen Abklärungen, Hintergründen und Therapien.
NICOLE KELLER, GLORIA RYU, GABRIEL SCHÄR, DANIELE PERUCCHINI, DAVID SCHEINER, CORNELIA BETSCHART
Nicole Keller
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Fall 1: Raumforderung an der Urethra nach der Geburt
Eine junge, gesunde Frau stellte sich einige Wochen postpartal mit Urininkontinenz und Dyspareunie in der Sprechstunde vor. Bei der Geburt erlitt sie einen Dammriss dritten Grades, welcher problemlos abheilte. Es bestand keine Stuhl- oder Windinkontinenz. Auf genaueres Nachfragen stellte sich heraus, dass die Urininkontinenz bereits vor der Geburt bestanden hatte. Bei der Untersuchung zeigte sich unmittelbar oberhalb des Meatus uretrae externus eine grosse, pralle Raumforderung. Auf Druck entleerte sich Urin aus der Urethra. Sonografisch (Abbildung 1a) zeigte sich eine multizystische Raumforderung mit Septen und Sludge, zirka 3 cm gross. Im MRI (Abbildung 1b) konnte der Befund bestätigt werden.
Differenzialdiagnosen Belastungsinkontinenz? Paraurethrales Hämatom? Nephrogenes Adenom? Infizierte GarnterGang-Zyste? Vesikovaginale Fistel?
Verdacht und finale Diagnose Unter Einbezug aller Befunde, wie Urinabgang beim Ausstreichen der Raumforderung und der Bildgebung, wurde ein Urethraldivertikel vermutet. Urethraldivertikel liegen meist zwischen Harnröhre und Vaginalvorderwand im unteren oder mittleren Drittel der Urethra. Sie können entweder angeboren oder durch Stauung der Skene-Drüsen erworben sein, wobei eine sekundäre Infektion möglich ist. Bei den Betroffenen handelt es sich meist um 30- bis 60-jährige Patientinnen mit einer jahrelangen Beschwerdesymptomatik mit rezidivierenden Harnwegsinfektionen, Dysurie, Dyspareunie, Nachträufeln und gegebenenfalls eitrigem Ausfluss aus der Urethra (1).
Mit der Patientin wurde die Exzision des Divertikels besprochen und postoperativ ein Dauerkatheter für 2 Wochen eingelegt. Die histologische Aufarbeitung des Gewebes zeigte überraschenderweise ein nephrogenes Adenom. Nephrogene Adenome sind benigne urotheliale Tumoren meist der Harnblase, selten der restlichen Harnwege. Die Therapie besteht in der Exzision der nicht selten rezidivierenden Läsionen. Als Nachsorge werden klinische Kontrollen, verbunden mit regelmässigen Zystoskopien mit Spülzytologie, sowie sonografische Kontrollen empfohlen. Eine Belastungsinkontinenz ist mit rund 20% die häufigste Inkontinenzform, die postoperativ auftreten kann. In der Literatur finden sich nur einige Fallbeschreibungen dieser 1949 erstmals beschriebenen Tumoren (2, 3).
Fall 2: Wenn Urin aus der Vagina läuft
Bei Status nach Sectio caesarea vor 11 Jahren und in der Folge 3 problemlosen Spontangeburten stellte sich eine Patientin in der Sprechstunde mit rezidivierenden Harnwegsinfektionen und störender Urininkontinenz vor. Bei abgeschlossener Familienplanung möchte sie die Inkontinenz operativ und nachhaltig angehen. In dieser Situation gilt der erste Gedanke einer häufig nach Geburten auftretenden Belastungsinkontinenz, welche mit Beckenbodenphysiotherapie nicht verbessert werden konnte. Die Physiotherapeutin dachte an eine seltene Inkontinenzform, da der Urinabgang auch in Ruhe beobachtet wurde.
Differenzialdiagnosen In der Sprechstunde wurde in der klinischen Untersuchung ein Urinpooling hoch vaginal beobachtet. Zystoskopisch zeigte sich nach Füllung der Blase mit physiologischer NaCl-Lösung und Färbung mit Indigokarminblau ein deutlicher Abgang blauer Flüssig-
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SCHWERPUNKT
Abbildung 1a: Raumforderung an der Urethra: sonografische Darstellung
Abbildung 1b: Raumforderung an der Urethra: Darstellung im MRI
keit aus dem leicht geöffneten Zervikalkanal. Der Fistelgang konnte vesikal oberhalb des Trigonums dargestellt werden. Die weitere Diagnostik mittels Ultraschall und MRI bestätigte den Verdacht einer vesikouterinen-vaginalen Fistel (Abbildungen 2a und 2b).
Vorgehen Der Verschluss derselben gestaltete sich langwierig. Zuerst erfolgte eine roboterassistierte Fistelexzision, welche zum Rezidiv führte. Schliesslich konnte die Kontinenz durch einen abdominalen Fistelverschluss mit Einlage eines Blasenperitoneum-Flaps wiederhergestellt werden. Generell werden supratrigonale Fisteln, welche meist nach erschwerten Hysterektomien auftreten, eher laparoskopisch oder abdominal versorgt. Trigonale Fisteln, welche oft nach protrahierten Geburtsverläufen und meist in Entwicklungsländern ohne geburtshilflichen Support zu beobachten sind, werden vaginal versorgt. Bei neu diagnostizierten Fisteln kann eine konservative Therapie mit Dauerkathetereinlage für 3 bis 4 Wochen versucht werden, was in 10 bis 50% der Fälle zum Erfolg mit Kontinenz führt. Die Chancen für einen Erfolg einer konservativen Therapie sind bei Fisteln unter 1 cm Grösse und bei früher Entdeckung mit noch nicht epithelialisiertem Fistelgang (idealerweise innerhalb von 7 Tagen nach deren Entstehung) am höchsten. Entsteht eine Fistel im Rahmen einer Tumoroperation, persistiert der Urinverlust trotz eingelegtem Dauerkatheter oder besteht Status nach Radiotherapie, sind die Erfolgschancen auf eine Heilung durch die konservative Therapie geringer.
Abbildung 2a: Vesiko-uterine-vaginale Fistel: zystoskopische Ansicht
Fall 3: Beckenschmerzen nach der Geburt
4 Monate nach einer Spontangeburt stellte sich eine Patientin mit persistierenden Schmerzen im Bereich der Vagina und des Beckens vor, welche sie beim
Abbildung 2b: Darstellung der Fistel im MRI
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SCHWERPUNKT
Abbildung 3a: MRI mit hyperintensem Knochenmarködem in der T2-Sequenz linksseitig an der Symphyse
Abbildung 3b: Symphisitis: lokale radiologisch gesteuerte Infiltration
Gehen behinderten. Es bestand ausserdem eine De-novo-Dyspareunie. Der Geburtsverlauf hatte sich protrahiert gestaltet. Nach Geburtseinleitung bei vorzeitigem spontanem Blasensprung wurde eine geburtshilfliche Periduralanästhesie gelegt. Nach über 45 Stunden wurde ein gesundes Mädchen mit einem Gewicht von 3500 g geboren.
Verdacht: Fehlerhaft verheilter Dammriss? Die Inspektion der Geburtsverletzung zeigte einen Dammriss zweiten Grades, einen Paraurethralriss und einen Vaginalriss. Nach der primären Versorgung musste die Verletzung bei persistierenden Schmerzen revidiert werden. Das führte jedoch zu keiner Beschwerderegredienz, sondern es kam zu progredienten Schmerzen bei längerem Stehen und Gehen. In der Untersuchung zeigte sich eine ausgeprägte Druckdolenz retrosymphysär mit beidseitiger Ausstrahlung. Die Geburtsverletzung war unterdessen gut abgeheilt, und es konnte perinealsonografisch keine Levatoravulsion dargestellt werden.
Finale Diagnose Zur weiteren Diagnostik wurde ein MRI mit i.v. Kontrastmittel des Beckens durchgeführt. Dieses zeigte ein Knochenmarködem der Symphyse (Abbildungen 3a und 3b). Das im MRI diagnostizierte Knochenmarködem spricht am ehesten für eine Symphysitis. Eine lokale, radiologisch gesteuerte Infiltration mit Lidocain 1% und Kenacort 20 mg brachte eine Beschwerdebesserung. Miller und Kollegen zeigten in einer Publikation aus demJahr 2010, dass ossäre Läsionen postpartal bei protrahierten Schmerzen viel häufiger vorkommen, als diese primär diagnostiziert werden. Um ossäre Läsionen diagnostizieren zu können, muss bei Risiken sub partu gezielt danach gesucht werden. Als Risikofaktoren gelten eine lange Austreibungsphase, instrumentelle Geburtsbeendigung, grosser Kopfum-
fang sowie Periduralanästhesie. Obwohl ossäre Läsionen öfter als gedacht auftreten, sind Levatoravulsionen noch häufiger (4).
Fall 4: Irritative Blasenbeschwerden nach Inkontinenzbandeinlage
Bei diesem Fall handelt es sich um eine ältere postmenopausale Patientin mit rezidivierenden Harnwegsinfektionen mit zunehmend multiresistenten Bakterien. Die Patientin berichtete über einen imperativen Harndrang mit unwillkürlichem Urinverlust in grossen Mengen bei gleichzeitig erschwerter Miktion. 14 Jahre zuvor wurde ein Inkontinenzband (tensionfree vaginal tape, TVT) eingelegt, postoperativ erfolgten mehrere Revisionen mit Bandspaltungen bei Harnverhalt.
Diagnostik In der urogynäkologischen Untersuchung zeigte sich ein Widerstand beim Einführen des Katheters in die Urethra bei erhöhten Restharnmengen zwischen 50 und 210 ml. Mit einem Bougie-à-boule konnte der Meatus urethrae internus nur mit Mühe passiert werden. Sonografisch fand sich das verbliebene TVT sehr nahe am Blasenhals (Abbildung 4). Dieser Bandanteil musste als ursächlich für die Obstruktion der Urethra angesehen werden und dürfte der Grund für die erschwerte Miktion mit daraus resultierenden rezidivierenden Harnwegsinfektionen gewesen sein. Zystoskopisch zeigte sich das Band weder urethral noch vesikal penetrierend, ebenso wenig bestand eine vaginale Erosion.
Wie kann ein solches Band entfernt werden? Überlegungen zum Vorgehen: subvesikale Bandexzision von vaginal? Transurethrale Bandevaporisation mit einem Holmium-Laser? Paraurethrale Bandspaltung? Offene blasenhalsnahe Revision?
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SCHWERPUNKT
ehesten durch die monatelange Obstruktion der Urethra. Im weiteren Verlauf kam es zu einer einmaligen Harnwegsinfektion bei deutlich verbesserter Blasenentleerung mit Restharn von nur 50 ml. n
Dr. med. Nicole Keller (Erstautorin und Korrespondenzadresse) Klinik für Gynäkologie Universitätsspital Zürich 8091 Zürich E-Mail: nicole.keller@usz.ch
Interessenkonflikte: keine.
Abbildung 4: TVT sehr nahe am Blasenhals: sonografische Darstellung des Inkontinenzbandes am Blasenhals
Vorgehen Es wurde die Indikation für die paraurethrale Bandspaltung gestellt. Die Bandexzision direkt suburethral am Blasenhals könnte bei jahrelang liegendem Band zu einer Fistel führen. Solche Fisteln am vesiko-urethralen Übergang heilen nur erschwert ab. Eine Laserevaporisation bei überdecktem Band würde eine Läsion der Mukosa der Urethra bedingen und je nach Lage eine Sphinkterläsion verursachen. Eine offene, blasenhalsnahe Revision hat eine höhere Morbidität zur Folge als die paraurethrale Bandspaltung, womit bei ungefähr 40% die Kontinenz erhalten werden kann (5). Die paraurethrale Bandspaltung durch einen vaginalen Zugang gestaltete sich problemlos. Postoperativ konnte der Dauerkatheter bereits am ersten Tag entfernt werden und die Miktion war restharnfrei. Intraoperativ zeigte sich zystoskopisch eine Trabekulierung der Blasenwand bei hypertonem Detrusor, am
Quellen: 1. Albers P, Heidenreich A.: Standardoperationen in der Urologie. 2., vollständig überarbeitete Auflage, Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2014. 2. Boscolo-Berto R, Lamon C, Gardi M, Vezzaro R, Gardiman M.: Recurrent nephrogenic adenoma in bladder diverticulum: Case report and literature review. Can Urol Assoc J. 2012 Apr;6(2): E34-7. doi: 10.5489/cuaj.10140. PMID: 22511428; PMCID: PMC3328567. 3. Gordetsky J, Gennaro KH, Selph JP, Rais-Bahrami S.: Nephrogenic Adenoma: Clinical Features, Management, and Diagnostic Pitfalls. Urology. 2016 Sep; 95:2933. doi: 10.1016/j.urology.2016.04.032. Epub 2016 Apr 29. PMID: 27138263. 4. Miller JM, Brandon C, Jacobson JA, Low LK, Zielinski R, Ashton-Miller J, Delancey JO.: MRI findings in patients considered high risk for pelvic floor injury studied serially after vaginal childbirth. AJR Am J Roentgenol. 2010 Sep;195(3):786-791. doi: 10.2214/AJR.09.3508. PMID: 20729461; PMCID: PMC3189698 5. Viereck V, Rautenberg O, Kociszewski J, Grothey S, Welter J, Eberhard J.: Midurethral sling incision: indications and outcomes. Int Urogynecol J. 2013 Apr;24(4):645-653. doi: 10.1007/s00192-012-1895-8. Epub 2012 Aug 9. PMID: 22875405; PMCID: PMC3606519.
Merkpunkte
n Ein nephrogenes Adenom in einem Urethraldivertikel ist eine Rarität. n Bei einer postoperativen Urininkontinenz, auch nach Jahren der Latenz, muss an eine
mögliche Fistel gedacht werden. n Postpartale ossäre Probleme, inklusive Symphysenringlockerungen, sind nach protra-
hierten Geburten keine Seltenheit. n Ein Inkontinenzband kann auch erst nach vielen Jahren Probleme verursachen, insbe-
sondere wenn der Detrusormuskel mit zunehmendem Alter schwächer wird oder die Bandlage suboptimal ist.
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