Transkript
SCHWERPUNKT
Stoffwechsel und Gewichtskontrolle bei PCOS
Hintergründe, Therapieindikation, Lifestylemoderation, Tipps für die Praxis
Gewicht zu verlieren ist Lifestyle, Adipositas behandeln ist Therapie. In diesem Artikel soll praxisnah dargelegt werden, wie mit Ernährungstherapie, Bewegungstherapie und medikamentöser Therapie die adipöse Patientin mit polyzystischem Ovarialsyndrom (PCOS) unterstützt werden kann. Ein besonderes Augenmerk soll am Schluss auf die psychologischen Barrieren einer Verhaltensänderung gelegt werden.
SUSANNE MAURER
Susanne Maurer
Hohes Körpergewicht per se ist nicht pathologisch und somit ärztlich nicht behandlungsbedürftig. Adipositas dagegen bezeichnet den Zustand, bei dem aus hohem Körpergewicht Krankheit geworden ist. Im Folgenden werden Grundlagen für die Therapie und Anleitungen für die praktische Umsetzung gegeben (Take-Home-Messages).
Adipositas – Behandlungsindikationen
Etwas antiquiert, aber noch immer wird seit 1997 der Body-Mass-Index (BMI) als Risikofaktor für gewichtsassoziierte Erkrankungen wie Krebs und Diabetes und für Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems betrachtet, psychische Begleiterkrankungen können hinzukommen. Die WHO definiert einen BMI ≥ 25 kg/m2 als Übergewicht und einen BMI ≥ 30 kg/m2 als Adipositas (1–3). Der Taillenumfang ist zur Einschätzung eines erhöhten kardiovaskulären und metabolischen Risikos mit einem Messwert von > 102 cm für Männer und > 88 cm für Frauen hilfreicher (4). Heute sollte die Indikation für die Therapie der Adipositas nach dem Edmonton-Obesity-Score-System (EOSS) gestellt werden (5). Das sogenannte 4M-System gegliedert die Begleiterkrankungen in vier Kategorien: n Metabolische Begleiterkrankungen (z. B. Fett-
stoffwechselstörungen, PCOS, Diabetes mellitus Typ 2) n Mechanische Begleiterkrankungen (z. B. arterielle Hypertonie, Schlafapnoe, orthopädische Probleme) n Mentale Begleiterkrankungen (z. B. Depressionen, Essstörungen) n Monetäre (soziale) Probleme (Beeinträchtigungen im Rahmen der Jobsuche oder der Partnerschaft, Diskriminierung).
Aus Studien ist bekannt, welche/r Patient/in welche Gewichtsreduktion erreichen sollte: Die Abbildung zeigt die Empfehlungen bei typischen Ko-Morbiditäten bei Übergewicht/Adipositas. Das Dilemma: Einerseits schützt uns dieses System davor, als «Gewichtserfüllungsgehilfe» missbraucht zu werden, andererseits hilft es uns, das Risiko für eine medizinische Intervention objektiver einzuschätzen, diese zu rechtfertigen und gegebenenfalls abzulehnen. Wichtig ist die Erkenntnis, dass insbesondere die kardiovaskulären und metabolischen Begleiterkrankungen bereits mit einer geringen Gewichtsabnahme von 2,25 kg über eine Dauer von mehr als 16 Jahren um 40 bis 50% reduzierbar sind (6).
Take-Home-Message für die Praxis: Der BMI allein ist kein Grund für Gewichtsab-
nahme. Definieren Sie die Begleiterkrankungen nach dem 4M-System. Kommunizieren Sie das medizinisch notwendige Zielgewicht (-10% vom Ausgangsgewicht reicht bei 80% der Patienten).
Adipositas – Behandlungsoption mit Fokus auf dem PCOS
Die Insulinresistenz ist bei der Frau mit PCOS in Hinblick auf die Adipositas pathophysiologisch von Bedeutung, danach folgen die verminderte Sekretion von Sexualhormon-bindendem Globulin (SHGB) aus der Leber und die daraus resultierende Erhöhung androgener Hormone mit Reduktion der Zyklusfunktion. Die Tabelle zeigt eine Übersicht der Laborwerte analog zum HOMA-Index und zu den Insulinwerten mit deren Interpretation bezüglich Entwicklung der diabetischen Pathologie gegenüber Normalbefund.
GYNÄKOLOGIE 4/2021
9
SCHWERPUNKT
Abkürzungen: DmT2: Diabetes mellitus Typ 2, CV: kardiovaskuläre Erkrankungen/Mortalität, NASH: Nichtalkoholische Steatohepatitis, OSAS: Obstruktives Schlafapnoesyndrom, GERD: Gastro-esophageale Refluxerkrankung
Abbildung: Rückgang der Komorbiditätenin Prozent infolge einer Gewichtsreduktion, ausgehend vom ursprünglichen Gewicht
momentan empfohlen wird, bei Eintritt einer Schwangerschaft, die Therapie abzusetzen (7). 2. Ernährungstherapie mit dem Konzept nach Dr. Pape (Stichwort «Schlank im Schlaf»; Infos zu finden im Internet). Das Grundprinzip dabei ist, zum Frühstück und zum Mittagessen Kohlenhydrate zu konsumieren, zu den Zwischenmahlzeiten und zur Nachtmahlzeit diese aber zu meiden und die Qualität der Kohlenhydrate zu verbessern. Da die Patientinnen häufig eine lang anhaltende und sehr hohe Insulinausschüttung nach Nahrungszufuhr aufweisen (was den Abbau von Fett aus der Fettzelle blockiert), ist dieses Prinzip sinnvoll. Wenn gezielter behandelt werden soll und kein Zugang zu Ernährungsberatern besteht, kann eine Ernährungsberatung auch über ein digitales Konzept (OVIVA) verordnet werden (8). 3. Widerstandstraining 3 × 20 Minuten/Woche (Physiotherapie/MTT/Fitnesstraining in Eigenregie). Denn eine verbesserte Muskelmasse kann die Insulinresistenz deutlich reduzieren. Zu beachten: Muskelmasse wächst nur bei genetisch Begünstigten auch bei Ausdauertraining. 4. Wenn kein Schwangerschaftswunsch besteht, kann eine Therapie mit Liraglutidesehr effizient sein und eine zusätzlichen Gewichtsreduktion von zirka 6% bewirken (9).
Tabelle: Hinweise zur Diagnostik der Insulinresistenz
Hinweise für die Praxis: Die Insulinresistenz kann sehr gut mit einem oralen Glukosetoleranztest bestimmt werden, ich empfehle, das Insulin mitzumessen. Optimal ist, die Messung vor, 1 und 2 Stunden nach Verabreichung der Glukose durchzuführen. In der Praxis sehen wir sowohl nüchtern und/oder postprandial nach 1 Stunde und/oder nach 2 Stunden eine Insulinresistenz. Das bedeutet, dass einerseits der HOMAIndex mit > 2,5, andererseits aber auch auffällige Glukosewerte und/oder Insulinwerte 1 Stunde und/oder 2 Stunden nach der Verabreichung der Glukose vorhanden sein können. Das hat mit der unterschiedlichen Funktionalität von Muskulatur, Fettgewebe, Leber und Gehirn zu tun, die alle an der Gesamtinsulinsensitivität des Körpers beteiligt sind. In unseren Spezialsprechstunden differenzieren wir zwar das Vorgehen bei Insulinresistenz nüchtern/postprandial, aus pragmatischen Gründen hat sich aber folgendes Konzept bei PCOS-bedingter Adipositas bewährt: 1. Medikamentöse Therapie mit Metformin. Ich
empfehle, diese Therapie bis 3 g pro Tag auszubauen, wenn es die Patientin verträgt. Unklar ist, ob Metformin die Abortrate senken kann, weshalb
Take-Home-Message für die Praxis: Metformin + Widerstandstraining + Optimierung
des Kohlenhydratkonsums (z. B. Pape-Konzept, Intervallfasten, ketogene Diät), ggf. Therapie mit Liraglutid – am besten im Rahmen einer ordentlichen Ernährungs- und Adipositastherapie – sind hilfreich.
Verhaltensmodifikation bei dysfunktionaler Emotionsregulation
Nicht wenige Patientinnen sagen, dass sie zu «Frustessen» tendieren. Was hat es damit auf sich? Bereits in einer solchen Aussage zeigt sich die eigentliche Komplexität der Adipositas. Bereits in der Kindheit kann eine Süssigkeit durch die Eltern als Trostspender eingesetzt worden sein. Der Ausdruck von Liebe und Zuneigung erfolgte über Essen. Mangel wird mit dem Belohnungsgefühl, das bei der Nahrungsaufnahme entsteht, kompensiert. Das sind für das Gehirn wichtige Erfahrungsmuster (10). Nahrungsaufnahme führt somit zu einem Rückgang an körperlicher Anspannung. Die körperliche Anspannung ist Folge der ablaufenden Stressreaktion bei jeder Emotion. Das ist von zentraler Bedeutung, da Menschen dazu tendieren, kurzfristig und vor allen Dingen auch rasch hilfreiche Strategien für ihre Probleme anzuwenden, unabhängig davon, ob dieses Verhaltensmuster dann langfristig Probleme macht.
10 GYNÄKOLOGIE 4/2021
SCHWERPUNKT
Take-Home-Message für die Praxis: Nahrungsaufnahme reduziert rasch körperliche
Anspannung, körperliche Aktivität kann das auch, es dauert aber etwas länger.
Essen führt zu einer Stimulierung des Belohnungszentrums im Gehirn durch entsprechende Ausschüttung von Endorphinen und Dopamin, insbesondere bei fett- und zuckerhaltigen Nahrungsmitteln. Auf diese Weise werden rasch Erinnerungsmuster im Gedächtnis geweckt, zusätzlich verknüpft mit den oben erwähnten Erfahrungen von Liebe, Zuneigung und Trost. Je häufiger nun diese Erinnerungsbahnen genutzt werden, desto wichtiger werden diese. Gleichzeitig führt das Zuführen des immer selben «Entspannungsmittels» zu einer Abstumpfung der Rezeptoren im Belohnungszentrum – es braucht in der Folge immer mehr davon. Da in der Stressreaktion auch der präfrontale Kortex stärker gehemmt wird, verliert der Organismus die bewusste Steuerung, das Gehirn geht im «Automatikmodus» der Einnahme des Entspannungsmittels nach. Bezogen auf Nahrung als Mittel zur Emotionsregulation heisst das also, dass immer mehr Nahrung eingenommen werden muss, um den Entspannungseffekt erzielen zu können, und dass dieser Reflex gleichzeitig nicht gesteuert werden kann. Untersuchungen zu einem suchtartigen Umgang mit Essen zeigen, dass bei rund 11% der Normalgewichtigen ein suchtartiges Essverhalten besteht, während das bei rund 25% der Übergewichtigen der Fall ist (11). Neuere Daten legen zudem nahe, dass vorrangig emotional ausgelöste Essimpulse auch eine Folge von Diäterfahrungen sein können, indem der Körper im Zustand eines Kaloriendefizits mit Stress und Impulsivität im Essverhalten reagiert. Ebenfalls gibt es immer mehr Hinweise, dass eine Veränderung der Hypophysen-Nebennieren-Achse respektive der Reaktionszeit der Cortisolausschüttung ein emotionales Essverhalten ebenfalls vorhersagt (12, 13). Entsprechende Ergebnisse kommen aus der Forschung zu chronischem Stress, wo eine Verbindung zwischen Biografie, Umwelt-/Lebenssituation, physiologischen Stressreaktionen und darauf folgenden Verhaltensweisen aufgrund der Stressreaktion erforscht werden (14). Auf die Psychotherapie abgeleitet bedeutet das, dass Impulskontrolle und Emotionsregulationsfertigkeiten der Patientinnen verbessert werden müssen.
1. Was hat Sie heute unter Stress gesetzt? 2. Was hatten Sie für einen Impuls, die Anspannung
zu reduzieren? 3. Was haben Sie dann tatsächlich getan, um die An-
spannung loszuwerden? 4. Was schätzen Sie: Wie lang hat die Anspannung
angehalten?
Take-Home-Message für die Praxis:
Die Patientinnen müssen lernen, die entstehende
Anspannung beim Ausbleiben des Belohnungsrei-
zes auszuhalten und auslösende Umstände für die
Essimpulse, insbesondere chronische Stressoren,
zu erkennen und zu verändern.
n
Dr. med. Susanne Maurer Adimed – Zentrum für Adipositas- und Stoffwechselmedizin Winterthur GmbH Lagerhausstrasse 9 8400 Winterthur E-Mail: s.maurer@adimed.ch
Interessenkonflikte: I am a consultant, speaker and advisor, I receive research support from: Bayer, Novo Nordisk, RISCH, OVIVA. I have no stock ownerships.
Quellen: 1. Hubert HB et al.: Obesity as an independent risk factor for cardiovascular disease: a 26-year follow-up of participants in the Framingham Heart Study. Circulation 1983; 67: 968-977. 2. Manson JE et al.: Body weight and mortality among women. N Engl J Med 1995; 333: 677-685. 3. WHO: Global Status Report on Noncommunicable Diseases 2014, WHO Press 2014. 4. Lean ME et al.: Waist circumference as a measure for indicating need for weight management. BMJ 1995; 311: 158-161. 5. Sharma AM, Kushner RF.: A proposed clinical staging system for obesity. Int J Obes 2009; 33: 289–295. 6. Wilson PW et al.: Clustering of metabolic factors and coronary heart disease. Arch Intern Med 1999; 159: 1104-1109. 7. DGGG: Einsatz von Metformin vor und während der Schwangerschaft bei Frauen mit PCOS und Kinderwunsch. 2015. https://www.dggg.de/ fileadmin/ documents/stellungnahmen/aktuell/ 2015/220_Einsatz_von_ Metformin_bei_PCOS. pdf. 8. Maurer S et al.: Effectiveness and Feasibility of a Remote Lifestyle Intervention by Dietitians for Overweight and Obese Adults: Pilot Study. JMIR Mhealth Uhealth 2019; 7(4): e12289. doi: 10.2196/12289. 9. Wadden TA: Liraglutide 3.0 mg and Intensive Behavioral Therapy (IBT) for Obesity in Primary Care: The SCALE IBT Randomized Controlled Trial. Obesity 2020; 28(3): 529–536. doi: 10.1002/oby.22726 10. Van Strien T et al.: Causes of emotional eating and matched treatments of obesity. Current Diabetes Reports 2018; 18: 35. 11. Pursey KM, Stanwell P, Gearhardt A et al.: The Prevalence of Food Addiction as Assessed by the Yale Food Addiction Scale: A Systematic Review Nutrients. 2014; 6: 4552-4590. doi:10.3390/nu6104552. 12. Van Strien T et al.: Cortisol reactivity and distress-induced emotional eating. Psychoneuroendocrinology 2013; 38: 677–684. 13. Tryon MS, DeCant R, Laugero KD.: Having your cake and eating it too. A habit of comfort food may link chronic social stress exposure and acute stress-induced cortisol hypo-responsiveness. Physiol Behav 2013; 114-115: 32–37. 10.1016/j.physbeh.2013.02.018 14. Seeman TE, Singer BH, Rowe JW, Horwitz RI et al.: Price of adaptation – allostatic load and its health consequences: MacArthur studies of successful aging. Arch Intern Med 1997; 157: 2259–2268.
Hinweise für die Praxis: Hier kann man die betroffene Patientin durch das Führen eines Therapietagebuchs und natürlich mit der Besprechung desselben unterstützen, und zwar mit folgender (möglichst schriftlicher) Anweisung: Schreiben Sie jeden Tag kurz am Abend vor dem Schlafengehen auf:
GYNÄKOLOGIE 4/2021
11