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EDITORIAL
Prophylaxe und Therapie von Krebskrankheiten – Rolle der Ernährung
Das Thema dieser Ausgabe ist für Lebenserwartung und Lebensqualität eines grossen Bevölkerungsanteils von höchster Bedeutung und miteinander verzahnt. Krebs ist eine sehr häufige Diagnose des älteren Menschen. Gemäss dem 3. Bericht der Schweizerischen Krebsliga (1) erkranken über 42 000 Menschen in der Schweiz jährlich an Krebs, etwas mehr Männer als Frauen, mit der höchsten Inzidenz im Alter zwischen 65 und 75 Jahren. An Krebs sterben rund 17 000 Menschen jährlich, womit diese Erkrankung die zweithäufigste Todesursache, nach den kardiovaskulären Erkrankungen mit rund 20 000 Fällen, darstellt (2). Die Überlebensrate bei Krebs 5 Jahre nach der Diagnose beträgt rund 66 Prozent, was einerseits die besseren Heilungschancen zeigt, aber andererseits darauf hinweist, dass Krebs zu den chronischen Erkrankungen im höheren Lebensalter gezählt werden muss. Gemäss dem Bericht der Eidgenössischen Ernährungskommission (EEK) zur Ernährung im Alter aus dem Jahr 2018 und gemäss dem Management Summary (3) ist die richtige Ernährung im Alter eine grosse Herausforderung. Grund dafür ist der stark gewachsene Anteil der Senioren in der Bevölkerung mit über 5 Prozent 80-Jährigen, verbunden mit einem Anstieg der Pflegebedürftigkeit. Eine weitere Herausforderung ist, die Malnutrition im Alter zu verhindern. Die Häufigkeit der Mangelernährung in der Schweiz ist bei hospitalisierten Patienten altersbedingt und liegt bei den 65- bis 84-Jährigen bei rund 22 Prozent (5); in diesem Alter sind Krebserkrankungen sehr häufig. Die gesunde Lebenserwartung liegt bei rund 68 Jahren, also dort, wo Krebs häufig diagnostiziert wird. Krebs ist eine komplexe Erkrankung mit vielfältigen Wechselwirkungen von genetischer Veranlagung und Umweltfaktoren, wie das in einem Research-Topic in «Front Nutrition» mit verschiedenen Beiträgen angesprochen wird (4). Gemäss dieser Publikation führt die Krebserkrankung bei 40 bis 80 Prozent der Patienten zu Unterernährung. Die resultierende Mangelernährung ist das Ergebnis verschiedener Einflussgrössen wie reduzierte Nährstoffabsorption, Veränderung des Appetits, Nahrungszufuhr, metabolische Veränderung, Krebsbedingte Immunreaktionen und Entzündung. Die notwendige multimodale Ernährungsintervention zusammen mit dem Krankheitsmanagement verantwortet das klinische, patientenindividuelle Ergebnis. Die krankheitsassoziierte Mangelernährung bei Krebs ist bei einem Fünftel der Patienten die Todesursache. Deshalb ist die frühzeitige Erkennung der Malnutrition oder des Risikos dafür mit einer entsprechend sensiblen Erfassung so bedeutsam, wie das im Beitrag zum
Ernährungsscreening von der Arbeitsgruppe von Prof. Zeno Stanga dargestellt wird. Er zeigt, dass es für den onkologischen Patienten noch keinen Goldstandard gibt, der alle wichtigen Parameter für Mangelernährungsdetektion und Outcome valide erfasst, und unterstreicht die Bedeutung und die Notwendigkeit der Kenntnis und der Limiten der verschiedenen Methoden zur Erfassung der Mangelernährung dieser Patientengruppe. Die Behandlung der Mangelernährung hat bei Spitalpatienten einen signifikanten Einfluss auf das Überleben, unabhängig von ihrer Diagnose, wie das in der EFFORT-Studie prospektiv und randomisiert gezeigt wurde (6). Das gilt in besonderer Weise für Krebspatienten, wie der Beitrag «Auch Krebspatienten profitieren von Ernährungstherapie» über eine 2021 publizierte Subanalyse dieser EFFORT-Studie zeigt und wie ebenfalls im Interview mit Prof. Philipp Schütz in dieser SZE-Nummer präsentiert wird. Es bleiben trotz der Erkenntnis, dass die Ernährungstherapie zur Tumortherapie gehört, noch viele Fragen offen, wie eine optimale Ernährungstherapie für den Tumorpatienten zu erfolgen hat. Umgekehrt stellt sich die Frage, ob die Ernährung und die Begleitfaktoren wie Übergewicht Risikofaktoren für Krebs sind und eine entsprechende Ernährungsprävention ermöglichen, wie das Prof. Sabine Rohrmann und ihre Co-Autorinnen in ihrem Beitrag darstellen. Der Artikel von PD Dr. Florian Strasser zum Thema «Essen und nicht essen» nimmt das aktuelle Thema der Diäten für Krebspatienten auf. Das ist bedeutsam, da Patienten in dem meist langen Krankheitsverlauf einen eigenen Beitrag zur Krebsbekämpfung leisten möchten und dabei die wichtige Interaktion Ernährung-Erkrankung-Therapie als Möglichkeit für einen persönlichen Beitrag sehen. Dieser Aspekt kann sehr individuell vom Patienten getragen werden und potenziell einen wichtigen Stellenwert einnehmen, der die Lebensqualität und die persönliche Empfindung beeinflusst. Da viele Fragen dazu bestehen und die Evidenz für die diskutierten Diäten für Primär- und Sekundärprävention schwierig ist, hilft dieser Übersichtsartikel sicher bei der aktuellen Standortbestimmung, die in der Betreuung und Beratung hinsichtlich Ernährung dieser Patienten hilfreich ist. So bleibt zu hoffen, dass diese SZE-Ausgabe unseren Leserinnen und Lesern ein aktuelles und wichtiges Thema, nämlich die Onkologie und die Ernährung, näher zu bringen vermag. Stefan Mühlebach
Stefan Mühlebach Prof. em. Dr. pharm, Dr. h.c., Spitalapotheker FPH Universität Basel Institut für Klinische Pharmazie & Epidemiologie / Spitalpharmazie Spitalstrasse 26 4031 Basel E-Mail: stefan.muehlebach@unibas.ch
1. https://www.rosenfluh.ch/qr/krebsliga-zahlen-fakten 2. https://www.rosenfluh.ch/qr/ bfs-spezifische-todesursachen 3. https://www.rosenfluh.ch/qr/bfsernaehrung-alter 4. https://www.rosenfluh.ch/qr/frontiersin-cancer-wasting 5. Imoberdorf R et al. Schweiz Med Forum 2014;14(49):932-936 6. Schuetz P et al. Individualised nutritional support in medical inpatients at nutritional risk: a randomised clinical trial. Lancet. 2019;393:2312-2321
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 1|2022 1