Transkript
ERNÄHRUNG UND KREBS
Ist Prävention möglich?
Einfluss der Ernährung auf das Krebsrisiko
Sabine Rohrmann, Nena Karavasiloglou, Giulia Pestoni
Foto: zVg
Eine Krebserkrankung ist nicht nur Zufall oder Pech (1). Migrationsstudien zeigen, dass sich das Krebsrisiko innerhalb einer Generation ändern kann, abhängig davon, wie sich die Lebensumstände im Auswanderungsland im Vergleich zum Ursprungland unterscheiden (2). Der folgende Beitrag beleuchtet den Einfluss der Ernährung auf das Krebsrisiko.
Sabine Rohrmann Nena Karavasiloglou
Giulia Pestoni
Foto: zVg
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Im Oktober 2021 wurde der 3. Schweizer Krebsbericht veröffentlicht, der zeigt, dass die Anzahl der an Krebs erkrankten Personen in der Schweiz seit Jahrzehnten deutlich zunimmt (3). Für die Periode 2013 bis 2017 wurden pro Jahr knapp 43 000 Krebsfälle diagnostiziert; für das Jahr 2021 werden etwas mehr als 48 000 Fälle erwartet (26 100 bei Männern und 22 200 bei Frauen). Dieser Anstieg ist vor allem auf demografische Veränderungen in der Schweizer Bevölkerung zurückzuführen, insbesondere die Zunahme der älteren Bevölkerung. Mit 17 360 Todesfällen im Jahr 2018 sind Krebserkrankungen nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache (4). Standen viele Jahrzehnte berufliche Expositionen als Krebsursachen im Fokus, hat sich immer mehr gezeigt, dass auch unser Lebensstil einen Einfluss auf das Risiko hat, an Krebs zu erkranken (5). Als eine der ersten Schätzungen zur Frage, welche Faktoren wie stark zur Entstehung von Krebserkrankungen beitragen, kamen Richard Doll und Richard Peto 1981 zu dem Schluss, dass 35% aller Krebserkrankungen auf Ernährungsfaktoren zurückzuführen sind; den Anteil des Rauchens schätzten sie auf 30% und den Einfluss beruflicher Expositionen auf lediglich 4% (2). Damals wie heute ist klar, dass die Risikofaktoren nach Krebsart sehr unterschiedlich sind (6). So wird ein Grossteil der Lungenkrebsfälle durch Rauchen erklärt, wohingegen Rauchen keinen starken Effekt auf die Entstehung von Prostatakrebs hat. Neuere Studien zeigen, dass Doll und Peto den Einfluss der Ernährung überschätzten. Tabelle 1 zeigt die Schätzungen zum Einfluss von Adipositas, Alkohol und verschiedenen Ernährungsfaktoren auf das Krebsrisiko in verschiedenen Ländern. Für die Schweiz gibt es derzeit keine solchen Schätzungen. Zusammengenommen tragen Ernährungsfaktoren nach den deutschen Schätzungen fast 8% zur Krebsentstehung bei (4,5% in den USA, 4,8% in Grossbritannien, 6,4% in Frankreich). Am stärksten wird der Effekt für Nahrungsfasern angenommen. Dazu kommt der Anteil des Alkohols mit 2 bis 8 Prozent. Der attributable Anteil für Adipositas wird auf 5,4 bis 7,8 Prozent geschätzt. In Tabelle 1 wird sichtbar, dass die Schätzungen je nach Land deutlich unterschiedlich ausfallen (7–11).
Drei Faktoren erklären diese Differenzen: • eine unterschiedliche Stärke des Zusammenhangs
zwischen einem Risikofaktor und einer Krebserkrankung (relatives Risiko) in einer Bevölkerung • eine unterschiedliche Prävalenz einer Exposition (d. h. des Risikofaktors) in einer Bevölkerung • eine unterschiedliche relative Häufigkeit der ein zelnen Krebsarten in einer Bevölkerung. Kommt eine Exposition in einer Bevölkerung häufiger vor, ist der attributable Anteil auch bei gleicher Risikoschätzung grösser, das heisst, es werden mehr Krebsfälle durch diese Exposition erklärt. Das Präventionspotenzial bei Männern ist deutlich grösser als bei Frauen, da die Prävalenz der Risikofaktoren bei Männer höher ist als bei Frauen (10, 11). Unterschiede gibt es zudem zwischen den einzelnen Krebsarten, da Risikofaktoren krebsartenspezifisch sind. Bislang wurden bereits Tausende von Studien zu den Zusammenhängen zwischen Ernährung und Krebsrisiko veröffentlicht. Der World Cancer Research Fund (WCRF) stellt gemeinsam mit dem American Institute for Cancer Research (AICR) die publizierten Forschungsergebnisse zum Thema Ernährung, Adipositas und Krebsrisiko zusammen, wertet diese mit Metaanalysen aus und bewertet die Zusammenhänge in standardisierter Art und Weise (12, 13). Tabelle 2 gibt einen Überblick zu ausgewählten Ergebnissen. WCRF und AICR schätzen die Evidenz als überzeugend ein, dass Übergewicht (Body-Mass-Index [BMI] 25–< 30 kg/m2) respektive Adipositas (BMI ≥ 30 k g m2) im Erwachsenenalter ein Risikofaktor für eine ganze Reihe von Krebsarten ist (Tabelle 2) (14). Der attributable Anteil wird je nach Studie auf 5,4–7,8% geschätzt (Tabelle 1). Je nach Krebsart ist dieser Anteil aber sehr unterschiedlich und für Endometriumkarzinom (35%) sowie für Leber- und Nierenkrebs mit je etwa 25% besonders hoch (7). Der Anteil der Bevölkerung mit Adipositas stieg über die letzten Jahrzehnte weltweit stetig an, so auch in der Schweiz (15). Das ist, neben einem Mangel an körperlicher Aktivität und genetischen Prädisposi tionen, auch auf eine zu hohe Energieaufnahme zurückzuführen. Neben einem generellen Konsum von zu vielen Lebensmitteln und damit zu viel Energie wird in letzter Zeit verstärkt der Konsum industriell hoch verarbeiteter Lebensmittel (UPF: ultra-processed
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Ernährung Zu viel Salz Zu viel rotes Fleisch Zu viel verarbeitetes Fleisch Zu wenig Früchte und Gemüse Zu wenig Nahrungsfasern Zu wenig Kalzium Alkohol Adipositas
Deutschland (7, 8)
0,3% 0,4% 2,0% 2,0% 3,0%
– 2,0% 7,0%
USA (9)
– 0,5% 0,8% 1,9% 0,9% 0,4% 5,6% 7,8%
Grossbritannien (10)
– – 1,5% – 3,3% – 3,3% 6,3%
Frankreich (11)
– 0,6% 1,3% 2,9% 1,4% 0,2% 8,0% 5,4%
Tabelle 1: Attributabler Anteil der Krebserkrankungen infolge von Adipositas, Alkohol und Ernährung (verschiedene Faktoren) in verschiedenen Studien
foods) diskutiert. Diese weisen meistens eine hohe Energiedichte auf und werden häufig in grossen Portionen verkauft und verzehrt. So tragen sie zur Entwicklung von Adipositas bei (14). Für die Schweiz konnten wir mit den Daten der ersten Schweizer Ernährungsbefragung menuCH einen Zusammenhang zwischen dem Verzehr von UPF und Adipositas bei Frauen, nicht aber bei Männern zeigen (16). Alkohol wurde im Jahr 2007 von der International Agency for Research on Cancer (IARC) als krebserregend beurteilt (17) und die Zusammenhänge zwischen Alkoholkonsum und dem erhöhten Risiko für Tumoren des Mund- und Rachenraums, der Speiseröhre, des Magens, der Leber, des Dickdarms und des Rektums sowie der Brust als überzeugend oder zumindest als wahrscheinlich eingestuft (14). Werden 50 g Alkohol pro Tag (etwa 3 alkoholische Getränke) mehr konsumiert, ist das mit einer Erhöhung des relativen Risikos um 50% für Brustkrebs und um 40% für Dickdarmkrebs verbunden (17). Für Tumoren im oberen Atmungs- und Verdauungstrakt geht Alkoholkonsum mit einer Verdopplung bis Verdreifachung des Risikos einher, wobei Rauchen die Effekte des Alkoholkonsums zu verstärken scheint. Im Gegensatz dazu ist der Konsum von Alkohol möglicherweise mit einem verringerten Nierenkrebsrisiko verbunden (14). Je nach Studie wird der attributable Anteil des Alkohols an der Krebsentstehung auf 2 bis 8% geschätzt (Tabelle 1), wobei dieser Anteil bei Männern aufgrund des höheren Alkoholkonsums deutlich stärker ausfällt als bei Frauen: So liegt der attributable Anteil für Tumoren des Mund- und Rachenraums für Männer bei 34% und für Frauen bei 6%. Ganz ähnlich ist das bei Plattenepithelkarzinomen der Speiseröhre (30% bei Männern, 5% bei Frauen), Dickdarmkrebs (8,4% bei Männern, 1,4% bei Frauen), Leberkrebs (14,1% bei Männern, 2,3% bei Frauen) und Kehlkopfkrebs (18,2% bei Männern, 3,0% bei Frauen) (8). In der Schweiz gibt es keine eigentlichen Empfehlungen bezüglich Alkoholkonsum, aber eine Orientierungshilfe der Eidgenössischen Kommission für Alkoholfragen, die nahelegt, dass gesunde erwachsene Männer maximal zwei Gläser und Frauen maximal ein Glas eines alkoholischen Getränkes pro Tag konsumieren und alkoholfreie Tage pro Woche einhalten sollten (18).
Der Verzehr von verarbeitetem Fleisch wurde von der IARC in einer Evaluation 2015 als kanzerogen für den Menschen eingestuft, der Verzehr von rotem Fleisch als wahrscheinlich kanzerogen (19). WCRF und AICR stufen den Zusammenhang zwischen dem Verzehr von verarbeitetem Fleisch und dem Risiko für Dickdarmkrebs als überzeugend ein, für andere Krebslokalisationen und für rotes Fleisch sind die Zusammenhänge weniger überzeugend (Tabelle 2). Eine Metaanalyse kam zu dem Schluss, dass sich pro 50 g täglichem Mehrverzehr von verarbeitetem Fleisch das relative Dickdarmkrebsrisiko moderat um 18% erhöht (20). Schätzungen zum Beitrag von verarbeitetem bzw. rotem Fleisch zur Krebsinzidenz liegen bei 0,8 bis 2% für verarbeitetes und bei 0,4 bis 0,6% für rotes Fleisch (Tabelle 1). Für Deutschland wurde geschätzt, dass 12% aller Dickdarmkrebsfälle auf den zu hohen Konsum von verarbeitetem und/oder rotem Fleisch zurückzuführen sind (7). Die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung (SGE) empfiehlt, Fleisch (inkl. Geflügel und Fleischerzeugnisse) massvoll, das heisst lediglich 2 bis 3 Portionen pro Woche, zu konsumieren (21). Für Magenkrebs gelten mit Salz konservierte Lebensmittel als Risikofaktor (12). Insgesamt sind in Deutschland schätzungsweise zur 0,3% aller Krebsfälle, jedoch 8,7% alle Magenkrebsfälle auf einen übermässigen Salzkonsum zurückzuführen (7). Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) orientiert sich bei den Richtwerten für den Salzkonsum an der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und empfiehlt höchstens 5 g Salz pro Person und pro Tag (22). Noch nicht diskutiert in den in Tabelle 1 genannten Studien, aber von WCRF und AICR als Krebsrisikofaktor untersucht, wurde die glykämische Last; bisher wird der Zusammenhang mit einem erhöhten Risiko für Endometriumkarzinom als möglich angesehen (Tabelle 2). Aufgrund vielversprechender Ergebnisse aus Invitro- und frühen Fallkontrollstudien wurde den Früchten und dem Gemüse lange Zeit ein schützender Effekt in Bezug auf die Krebsentstehung zugesprochen. Grosse prospektive Studien zeigten aber, dass dieser Effekt deutlich schwächer als vermutet ist, was sich auch in der Evaluation von WCRF und AICR zeigt
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(Tabelle 2). Erwähnenswert ist hierbei, dass WCRF und AICR teils Evidenz für einen protektiven Effekt eines höheren Konsums von Gemüse oder Früchten sehen, teils aber Evidenz für eine Risikoerhöhung bei einem zu tiefen Verzehr. Stieg in der Studie European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition (EPIC) der Konsum von Obst und Gemüse um 200 g pro Tag, verringerte sich das Gesamtkrebsrisiko um 3% (95%-Konfidenzintervall: 1–4%) (23). Die in Tabelle 1 zitierten Studien schätzen das Krebspräventionspotenzial von Früchten und Gemüse auf etwa 2–3%. Die SGE empfiehlt den täglichen Verzehr von 3 Portionen Gemüse und 2 Portionen Früchten. Eine Portion Früchte oder Gemüse entspricht 120 Gramm (21).Der Konsum von Früchten und Gemüse erhöht die Aufnahme von Nahrungsfasern, was einen Teil des protektiven Effekts in Bezug auf das Dickdarmkrebsrisiko erklärt. Und WCRF und AICR stuften den inversen Zusammenhang zwischen der Aufnahme von Nahrungsfasern und dem Dickdarmkrebsrisiko als wahrscheinlich ein. Eine Metaanalyse,
die 25 prospektive Kohortenstudien einschloss, zeigte eine Senkung des relativen Darmkrebsrisikos um 10% bei einer Mehraufnahme von 10 g Nahrungsfasern pro Tag (24). Wichtig sind neben Nahrungsfasern aus Gemüse und Früchten auch jene aus Getreiden und Vollkornprodukten. Die Schätzungen zum Präventionspotenzial reichen von 0,9–3,3% aller Krebsfälle (Tabelle 1). Das BLV empfiehlt die Aufnahme von mindestens 30 g pro Tag als Richtwert für die Zufuhr von Nahrungsfasern bei Erwachsenen (25). WCRF und AICR halten einen risikosenkenden Effekt des Konsums von Kaffee auf das Risiko für Endometrium- und Leberkrebs für wahrscheinlich (Tabelle 2). Milch und Milchprodukte und die damit assoziierte Kalziumaufnahme zeigen widersprüchliche Ergebnisse je nach Krebslokalisation: Während ein wahrscheinlicher protektiver Effekt eines hohen Verzehrs auf das Risiko für Dickdarmtumoren gesehen wird, geht eine hohe Kalziumaufnahme möglicherweise mit einem erhöhten Prostatakrebsrisiko einher
Adipositas1 Alkohol2
Rotes Fleisch Verarbeitetes Fleisch3 Mit Salz konservierte
Lebensmittel Glykämische Last Nicht stärkehaltige Gemüse Tiefer Konsum nicht stärkehaltiger
Lebensmittel Früchte4
Tiefer Konsum von Früchten Milch und Milchprodukte bzw. kalziumreiche Lebensmittel5
Kaffee
überzeugendes vermindertes Risiko wahrscheinliches vermindertes Risiko eingeschränkte Evidenz – vermindertes Risiko eingeschränkte Evidenz – erhöhtes Risiko wahrscheinliches erhöhtes Risiko überzeugendes erhöhtes Risiko
Mund, Pharynx, Larynx (2016–18)
Speiseröhre (2016)
Lunge (2017)
Magen (2016)
Pankreas (2012)
Leber (2015)
Dickdarm (2017)
Brust, prämenopausal (2017)
Brust, postmenopausal (2017)
Endometrium (2013)
Prostata (2014)
Nieren (2015)
1 Überzeugende Evidenz nur für Adenokarzinom der Speiseröhre. Wahrscheinliche Evidenz nur für Kardiakarzinom des Magens. Überzeugende Evidenz für einen risikoerhöhenden Effekt nur für postmenopausalen Brustkrebs. Wahrscheinlich protektiver Effekt für prämenopausalen Brustkrebs. Wahrscheinlich risikoerhöhender Effekt nur für fortgeschrittene Prostatatumoren.
2 Für Speiseröhre nur für Plattenepithelkarzinom. Für Leber und Magen nachgewiesen für Alkokolverzehr über 45 Gramm pro Tag (3 alkoholische Getränke pro Tag). Für Dickdarm-Rektum erhöhtes Risiko überzeugend für mehr als 2 alkoholische Getränke pro Tag. Für Brustkrebs überzeugend nur postmenopausal, wahrscheinlich prämenopausal. Für Nieren nachgewiesen für Alkokolverzehr bis 30 Gramm pro Tag (2 alkoholische Getränke pro Tag).
3 Für Speiseröhrenkrebs nur Plattenepithelkarzinom. 4 Bei Speiseröhrenkrebs nur ein Zusammenhang mit Plattenepithelkarzinom. Bei Magenkrebs inverser Zusammenhang mit dem Konsum von Zitrusfrüchten. 5 Bei kolorektalen Tumoren nur ein Zusammenhang mit Milch und Milchprodukten. Bei postmenopausalem Brustkrebs nur ein Zusammenhang mit kalziumreicher Ernährung.
Tabelle 2: Zusammenhänge zwischen Ernährungsfaktoren und Krebs, die vom World Cancer Research Fund und vom American Institute of Cancer Research mit überzeugender, wahrscheinlicher oder eingeschränkter Evidenz bewertet wurden
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(Tabelle 2). Möglicherweise fördern hohe Kalziumkonzentrationen im Dickdarm eher die Ausdifferenzierung von Epithelzellen, während sie in der Prostata eher zur Proliferation von Zellen führen (26). Bisher haben lediglich Islami et al. das Präventionspotenzial einer ausreichenden Kalziumaufnahme abgeschätzt (0,4% aller Krebsfälle in den USA; Tabelle 1).
Methodologische Aspekte epidemiologischer Studien
Der Wert epidemiologischer Studien zur Klärung der Frage, welche Zusammenhänge zwischen dem Verzehr bestimmter Lebensmittel und dem Risiko für chronische Krankheiten bestehen, wird mitunter kontrovers diskutiert (27, 28). WCRF und AICR haben ein Bewertungssystem erstellt, anhand dessen alle Zusammenhänge evaluiert werden (14). Doch selbst mit einem rigiden Bewertungssystem sind die Einstufungen nicht unumstritten. In der Ernährungsepidemiologie wird oft die Frage gestellt, inwieweit Beobachtungsstudien zur Beantwortung kausaler Zusammenhänge geeignet sind. Da die Evidenz randomisierter, kontrollierter Interventionsstudien als höher eingestuft wird, stehen einige Wissenschaftler auf dem Standpunkt, dass die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Krebsrisiko mit Interventionsstudien anstatt mit Beobachtungsstudien beantwortet werden sollten (29–31). Dieser Standpunkt wird auch
dadurch begründet, dass Interventions- und Beobachtungsstudien zum Teil unterschiedliche Ergebnisse liefern. Jedoch zeigen kürzlich veröffentlichte Studien, dass die Diskrepanz zwischen Interventionsund Bobachtungsstudien auf Unterschiede in Fragestellung, Studienbevölkerung und Studiendesign zurückzuführen ist (32, 33). Zudem stellt sich die Frage, inwieweit grosse und langfristige Interventionsstudien mit dem Ziel, komplexe Zusammenhänge zwischen Ernährung und chronischen Erkrankungen zu untersuchen, realistisch sind (28). Das gilt besonders für Krankheiten mit einer langen Latenzzeit, zum Beispiel Krebs. Im Gegensatz dazu würden grosse Kohortenstudien mit wiederholten Ernährungserhebungen erlauben, den langfristigen Einfluss der Ernährung auf die Entwicklung chronischer Erkrankungen besser zu erfassen. Interventionsstudien und Beobachtungstudien sollten vielmehr komplementär genutzt werden, um ergänzende Evidenz zu liefern (32, 33).
Schussfolgerungen
Ernährung und Übergewicht/Adipositas erklären fast einen Fünftel aller Krebserkrankungen. Das Präventionspotenzial ist am grössten für Tumoren des Verdauungstrakts, aber auch für Brust- und Prostatatumoren, für weitere häufige Krebserkrankungen besteht ein gewisses Präventionspotenzial.
Nena Karavasiloglou, PhD, RD1,2 Dr. Giulia Pestoni,1,3 Prof. Sabine Rohrmann,1,2 1 Abteilung Epidemiologie Chronischer Krankheiten, Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention, Universität Zürich 2 Krebsregister der Kantone Zürich, Zug, Schaffhausen und Schwyz 3 Ernährungsforschung, Departement Gesundheit, Fernfachhochschule Schweiz Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Sabine Rohrmann Abteilung Epidemiologie Chronischer Krankheiten Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention Universität Zürich Hirschengraben 84 8001 Zürich Telefon: 044-634 52 56 E-Mail: sabine.rohrmann@uzh.ch Interessenskonflikte: keine Referenzen in der Onlineversion des Beitrags unter www.rosenfluh.ch/ernaehrungsmedizin-2022-01
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