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VERSAGEN UND INSUFFIZIENZ DES INTESTINUMS
Kurzdarmsyndrom: Physiologie und Pathophysiologie
Stephan Vavricka
Stephan Vavricka, Teresa Stelzer*
Unter dem Kurzdarmsyndrom (KDS) versteht man einen Funktionszustand, bei dem durch eine Reduktion der Resorptionsoberfläche die Fähigkeit des Darms, mit normaler Kost den Eiweissund Energiestatus sowie den Flüssigkeits- und Elektrolytstatus und dem Mikronährstoffstatus aufrechtzuerhalten, vorübergehend oder dauerhaft eingeschränkt ist (1). Die klinischen Beschwerden hängen weniger von der absoluten Restlänge des Darms als von weiteren Faktoren wie der Lokalisation des resezierten Abschnittes, der Art der Rekonstruktion, dem Grad der Adaptation des Restdarmes sowie dem allgemeinen chirurgischen, medizinischen und ernährungsmedizinischen Management ab.
Der normale menschliche Dünndarm eines Erwach-
senen ist 3 bis 8 Meter lang. Die Länge ist abhängig
davon, wie gemessen wird, das heisst radiologisch, in-
traoperativ oder post mortem mittels Autopsie, und
ob die Messung ab dem Pylorus oder dem Treitz’schen
Band erfolgt. Werden die Kerckring’schen Falten so-
wie ferner die Villi und Mikrovilli des Dünndarms
Teresa Stelzer * Gastroenterologie
miteinbezogen, ergibt sich eine Resorptionsfläche von mehr als 2 Millionen Quadratzentimeter (was grösser
Stadtspital Triemli, Zürich
als die Fläche eines Tennisplatzes ist) (2).
Beim Erwachsenen ist das KDS als eine Restlänge von
weniger als 200 Zentimetern Dünndarm definiert.
Die intestinale Funktion wird nach Verlust eines
Darmabschnitts im Allgemeinen zusätzlich determi-
niert durch die Länge der intestinalen
Resektion (abhängig auch von Alter
Syndrome du grêle court (SGC): physiologie et physiopathologie
und Körpergrösse), den Verlust des terminalen Ileums und der Ileozäkalklappe, den Verlust eines Teils oder des gesamten Kolons und eine etwaige Kon-
Mots clés: Syndrome du grêle court – clinique – adaptation – aspects physiopathologiques spéciaux – micro- et macronutriments
tinuitätsherstellung oder Diskontinuität der Darmabschnitte. Bei folgenden Situationen ist die Gefahr einer Dehydratation, einer generalisier-
Dans le SGC, la capacité de l‘intestin à maintenir, avec un régime alimentaire normal, le statut protéique et énergétique ainsi que le statut hydro-électrolytique et le statut en micronutriments, est passagèrement ou durablement limi-
ten Eiweissmalnutrition und multipler Ernährungsdefizite am grössten (3): • KDS mit endständigen Ileostomien und weniger als 115 cm Restdarm • KDS mit Jejunoileostomien oder Ileo-
tée. Les troubles cliniques dépendent de la
kolostomien mit weniger als 60 cm
localisation du segment réséqué, de la nature de
Dünndarm
la reconstruction, du degré d‘adaptation de l‘in-
• KDS mit weniger als 35 cm Restdünn-
testin restant ainsi que de la prise en charge gé-
darm.
nérale chirurgicale, médicale et nutritionnelle.
Vor allem bei Patienten ohne Kolon
und Ileozäkalklappe besteht ein erhöh-
tes Risiko für Lebererkrankungen und Sepsis. Einen weiteren wichtigen Prognosefaktor stellt die Abhängigkeit von enteraler und parenteraler Langzeiternährung dar (1). Eine genaue Abschätzung der Länge des verbleibenden Darms ist nur indirekt möglich. Idealerweise sollte in einem Operationsbericht neben der Länge des resezierten Abschnitts auch die abgemessene Restlänge des Darms ab dem Treitz’schen Band dokumentiert werden (4). Ursachen für das KDS und die medikamentöse Behandlung sind in Tabelle 1 und 2 zusammengefasst. Bei jüngeren Patienten finden sich häufiger Operationen nach chronisch entzündlichen Darmerkrankungen oder eine Darmschädigung nach Bestrahlung; bei älteren Patienten ist zum Beispiel die Mesenterialischämie häufiger (5).
Klinischer (postoperativer) Verlauf und intestinale Adaptation
Resektionen von 50 bis 60 Prozent des Jejunums werden allgemein gut toleriert, während bereits bei einer Resektion von 30 Prozent des Ileums Beschwerden auftreten. Sind weniger als 60 cm Restdünndarm erhalten, muss von einem primären Auftreten von schweren Malabsorptionssyndromen ausgegangen werden (1). Nach ausgedehnten Resektionen ist die postoperative Adaptation des verbleibenden Dünndarms ein wichtiger Faktor, um eine entsprechende Versorgung mit Nährstoffen sicherzustellen. Ein guter Biomarker für die funktionelle Enterozytenmasse ist Citrullin im Plasma – Werte unter 5 µmol/l sind hinweisend für ein Darmversagen (1). Nach einer Darmresektion werden verschiedene Phasen der Anpassung durchlaufen, wobei die Zeitdauer
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je nach Art der Operation und der allgemeinen Konstitution variiert (6).
Phase I: Hypersekretionsphase In diesem Stadium stehen der intestinale Flüssigkeitsverlust sowie der Elektrolytverlust im Vordergrund. Der Zeitraum kann bis zu zwölf Wochen andauern – und meist ist eine parenterale Ernährung und Flüssigkeitssubstitution unumgänglich. Phase II: Adaptationsphase Wesentlich für die optimale Stimulation der Adaptation ist die orale und enterale Nährstoffzufuhr von Beginn an. Darunter kommt es zu einer Anpassung der Resorptionsfähigkeit des Restdarms (7). Dies geschieht durch Regeneration und Hyperplasie bei zudem verbesserter Durchblutung und damit verbesserter Resorption der Mukosa. Phase III: Erhaltungs- und Stabilisierungsphase Die maximale erreichte Anpassung des vorhandenen Dünndarms ist nun erfolgt. Diarrhö und Steatorrhö stabilisieren sich. Der Patient kann auf sein individuelles, langfristiges Ernährungsmuster umgestellt werden. Lässt sich ohne parenterale Ernährung keine ausgeglichene Energie- und Flüssigkeitsbilanz erreichen, liegt eine intestinale Insuffizienz vor. Dementsprechend ist mit einer dauerhaften parenteralen Ernährung zu behandeln.
nem KDS häufig (8). Grund dafür ist die Bildung von gastrointestinalen Hormonen vor allem in den proximaleren Dünndarmabschnitten (z.B. Cholezystokinin, Sekretin, gastroinhibitorisches Peptid [GIP] und Motilin), welche sowohl die Sekretionsprozesse als auch die Darmmotilität regulieren. Reduziert sich die Produktion von hemmenden Hormonen, kann dies zu einer gastralen Hypersekretion führen. Bei jejunaler Resektion kommt es häufiger zu einer gastralen Hypersekretion als bei ilealen Resektionen. Die gastrale Hypersekretion mit Hyperazidität des Magens führt zu einer Inaktivierung der Pankreasenzyme und gleichzeitiger Downregulation der exokrinen Pankreasfunktion. Da es aufgrund der fehlenden Rückresektion bei Verlust des terminalen Ileums auch zu einer Inaktivierung von Gallensäure kommt, kann dies zu einer Lipidmalassimilation führen. Zusätzlich wird damit die Resorption der fettlöslichen Vitamine (A, D, E, K) und damit auch die Aufnahme von Vitamin B12, Folsäure, Kalzium, Magnesium, Zink und Kupfer beeinträchtigt. Therapeutisch werden vor allem Arzneimittel aus der Gruppe der Protonenpumpenhemmer (und ggf. ergänzend H2-Blocker) eingesetzt. Durch die Erhöhung des Magen-pH-Werts kommt es zu einer Verringerung des oft hohen Flüssigkeits- sowie Natrium- und Chloridverlusts.
Spezielle pathophysiologische Aspekte des Kurzdarmsyndroms
Die Behandlung und Betreuung von Patienten mit KDS stellt mit seinen einhergehenden Komplikationen und Mangelerscheinungen eine grosse Herausforderung für die betreuenden Ärzte, Ernährungsberater und Pflegefachpersonen dar. Der interdisziplinäre Austausch ist daher zwingend erforderlich. Im Folgenden wird kurz auf einige klinische Symptome, die im Rahmen eines KDS auftreten können, eingegangen.
Hyperazidität und Lipidmalassimilation Eine gastrale Hypersekretion, welche bis zu 6 bis 12 Monate postoperativ andauern kann, sieht man bei ei-
D-Laktatazidose Das lebensbedrohliche Krankheitsbild der D-Laktatazidose ist selten. Wenn, dann kommt es bei KDS mit noch vorhandenem Kolon vor (9). Pathophysiologisch kann aufgrund des Überangebots von nicht resorbierbaren Kohlenhydraten sowie einer veränderten Darmflora nur das L-Laktat im Stoffwechsel metabolisiert werden. Für das D-Laktat fehlt das Enzym zur Umwandlung in Pyruvat und akkumuliert. Das neurologische Syndrom kann sich in Verwirrung, Gedächtnisverlust, Gangunsicherheit und Sehstörungen äussern. Therapeutisch ist eine Einschränkung der Kohlenhydratzufuhr und eine Gabe von Antibiotika (zur Reduktion der anaeroben Bakterien im Kolon) empfohlen.
Tabelle 1:
Ursachen für das KDS beim Erwachsenen
Durchblutungsstörungen • Mesenterialvenenverschluss • Mesenterialvenenthrombose • Strangulation • Volvolus
Postoperative Zustände • Abdominelles Trauma mit Darmresektion • Jejunoilealer Bypass (bariatrischer Eingriff) • Gastroileale Anastomose • Ausgedehnte Tumorresektion
Bakterielle Fehlbesiedelung Durch das Fehlen der Ileozäkalklappe oder auch bei sehr kurzem Dünndarm kommt es, begünstigt durch eine Passagebeschleunigung, die im weiteren Verlauf die Resorptionskapazität vermindert, zu einer bakteriellen Überwucherung im Dünndarm und vermehrter bakterieller Translokation. Die Verabreichung nicht resorbierbarer Antibiotika ist hier Therapie der Wahl.
Entzündungen (ggf. in Kombination mit Operationen) • M. Crohn/Colitis ulcerosa • Nekrotisierende Enteritis • Strahlenenteritis • Jejunokolische Fistel
Immunologische Erkrankungen • Kollagene Sprue • Autoimmun-Enteropathie • Lymphom
(modifiziert nach [13])
Hyperoxaliurie und Oxalaturolithiasis Physiologischerweise bindet Oxalat im Darmlumen mit dem vorhandenen Kalzium einen unlöslichen Komplex. Bei einer Steatorrhö bilden sich aufgrund der erniedrigten Kalziumkonzentration im Darm sogenannte Kalziumseifen. Durch eine Hyperabsorption im Kolon kommt es in der Folge zu einer
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gesteigerten Ausscheidung von Oxalsäure im Urin. Dies kann durch Bildung von Oxalatsteinen zum Krankheitsbild der Oxalaturolithiasis führen (10). Bei Patienten mit reseziertem Kolon tritt dieser Effekt nicht auf (11).
Chologene Diarrhö Nach Resektion eines relevanten Anteils des terminalen Ileums kann es zu einer Störung der Gallensäurerückresorption kommen. Dies kann eine chologene Diarrhö bei noch vorhandenem Kolon auslösen. Therapeutisch werden Anionenaustauscherharze (z.B. Cholestyramin) eingesetzt. Bei starker Steatorrhö (> 20 g Fett/Tag) ist der Durchfall durch Fettsäuren bedingt, und Cholestyramin zeigt keine Wirkung (6).
Gallensteine Zudem kann es zu einer Ausbildung von Gallensteinen kommen – vor allem von Cholesterolsteinen (12). Neben einer Veränderung der Gallenzusammensetzung spielt auch die Abnahme des Gallensäurepools durch fehlende Rückresorptionsfähigkeit des terminalen Ileums sowie die fehlende hormonelle Stimulation der Gallenblasenkontraktion mit Bildung von Sludge eine Rolle. Dieses Risiko ist im Gegensatz zum Risiko für Nierensteine unabhängig davon, ob das Kolon noch vorhanden ist.
Lebersteatose Postoperativ kann es zum Bild einer Lebersteatose kommen. Diese ist meist asymptomatisch und zudem reversibel. Wichtige Gründe hierfür sind neben der Beeinträchtigung der hepatischen Triglyzeridsekretion auch eine hohe Kohlenhydratzufuhr (10). Zudem kann aber auch eine langzeitige parenterale Ernährung eine nicht alkoholische Steatohepatitis verursachen, die im weiteren Verlauf zur Leberzirrhose und Ausbildung eines hepatozellulären Karzinoms führen kann.
Osteopathie Patienten mit KDS haben ein erhöhtes Risiko sowohl für Osteomalazie als auch für Osteopenie bis hin zum Vollbild der Osteoporose. Zudem besteht ein Risiko für einen sekundären Hyperparathyreoidismus. Ursächlich ist die teilweise bereits zuvor bestehende Immobilisation, aber auch die Azidose, ein Vitamin-DDefizit und Malabsorption tragen hierzu bei. Aus diesem Grund sollte in solchen Fällen alle 1 bis 2 Jahre eine Osteodensitometrie durchgeführt werden (6).
Tabelle 2:
Eingesetzte Medikamente bei Patienten mit KDS
Gruppe Antidiarrhoika H2-Blocker Protonenpumpeninhibitoren Pankreasenzyme Somatostatinanaloga Antibiotika Synthetisch konjugierte Gallensäuren Wachstumsfaktoren
Wirkung Erhöhung der intestinalen Transitzeit Verminderung der Magensäuresekretion Verminderung der Magensäureresekretion Verbesserung der Verdauung Verminderung der sekretorischen Diarrhö Verminderung einer bakteriellen Fehlbesiedelung Erhöhung der Fettresorption Erhöhung der Nährstoffresorption
(modifiziert nach [14])
Literatur: 1. O’Keefe SJD, Buchman AL, Fishbein TM, Jeejeebhoy KN, Jeppesen PB, Shaffer J: Short bowel syndrome and intestinal failure: consensus definitions and overview. Clin Gastroenterol Hepatol Off Clin Pract J Am Gastroenterol Assoc. 2006; 4 (1): 6–10. 2. Short bowel syndrome. In: Sleisenger MH, Fordtran JS, Feldman M Brandt, Lawrence J, Friedman LS. Sleisenger & Fordtran’s Gastrointestinal and liver disease pathophysiology, diagnosis, management. Philadelphia, PA: Saunders-Elsevier; 2010. 3. Jeppesen PB, Mortensen PB: Intestinal failure defined by measurements of intestinal energy and wet weight absorption. Gut. 2000; 46 (5): 701–706. 4. Horbach T: Kurzdarmsyndrom. Der Chirurg. 2006; 77 (12): 1169–1181. 5. Nightingale J, Woodward JM: Small Bowel and Nutrition Committee of the British Society of Gastroenterology. Guidelines for management of patients with a short bowel. Gut. 2006; 55 Suppl 4: iv1–12. 6. Leuenberger M, Siewert S, Meier R, Stanga Z: Das Kurzdarmsyndrom: Eine interdisziplinäre Herausforderung. Aktuelle Ernährungsmedizin. 2006; 31 (5): 235–242. 7. Tappenden KA: Mechanisms of enteral nutrient-enhanced intestinal adaptation. Gastroenterology. 2006; 130 (2 Suppl 1): S93–99. 8. Williams NS, Evans P, King RF: Gastric acid secretion and gastrin production in the short bowel syndrome. Gut. 1985; 26 (9): 914–919. 9. Hudson M, Pocknee R, Mowat NA: D-lactic acidosis in short bowel syndrome – an examination of possible mechanisms. Q J Med. 1990; 74 (274): 157–163. 10. Nightingale J: Hepatobiliary, renal and bone complications of intestinal failure. Best Pract Res Clin Gastroenterol. 2003; 17 (6): 907–929. 11. Edler J, Eisenberger AM, Hammer HF, Hütterer E, Pfeifer J: Behandlung des Kurzdarmsyndroms, Teil 1: Pathophysiologische Grundlagen und Symptome. J Für Gastroenterol Hepatol Erkrank. 2003; 1 (2): 19–23. 12. Nightingale J, Lennard-Jones JE, Gertner DJ, Wood SR, Bartram CI: Colonic preservation reduces need for parenteral therapy, increases incidence of renal stones, but does not change high prevalence of gall stones in patients with a short bowel. Gut. 1992; 33 (11): 1493–1497. 13. Leiss O: Diätetische und medikamentöse Therapie des Kurzdarmsyndroms. Z Für Gastroenterol. 2005; 43 (7): 661–675. 14. Matarese LE, Steiger E: Dietary and medical management of short bowel syndrome in adult patients. J Clin Gastroenterol. 2006; 40 Suppl 2: S85–93.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Stephan Vavricka Leiter Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie Stadtspital Triemli Birmensdorferstrasse 497 8063 Zürich E-Mail: stephan.vavricka@triemli.stzh.ch
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