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GYNÄKOLOGIE/UROLOGIE
Eisenmangel in der Schwangerschaft
Bei prä- und postnataler Unterversorgung drohen bleibende Hirnschäden
Eisen spielt über die Beteiligung an Sauerstoff- und Elektronentransport sowie an enzymatischer Aktivität eine zentrale Rolle für die Funktion sämtlicher Zellen. Während der Schwangerschaft erhöht sich der Eisenbedarf durch das steigende Blutvolumen sowie das Wachstum und die Entwicklung des Fetus massiv. Häufig wird dieser zusätzliche Bedarf über die Ernährung nicht hinreichend gedeckt. Ein aktueller Review gibt einen Überblick über Strategien zur Diagnose und Prävention von Eisenmangel bei Schwangeren und legt dar, welche Konsequenzen sich aus einer Unterversorgung mit Eisen für die neurokognitive Entwicklung des Fetus ergeben.
American Journal of Obstetrics & Gynecology
Aufgrund des während einer Schwangerschaft erhöhten Sauerstoffbedarfs des mütterlichen Organismus einschliesslich der Plazenta einerseits sowie des Fetus andererseits ist eine hinreichende Versorgung mit Eisen essenziell. Zeitgleich zum hohen Sauerstoffbedarf des Fetus, bedingt hauptsächlich durch dessen strukturelle Organentwicklung, ist Eisen zudem als Bestandteil von Zytochromen als Katalysator an der Bildung des Energieträgers Adenosintriphosphat (ATP) beteiligt. Insbesondere das Gehirn des menschlichen Fetus benötigt während seiner Entwicklung viel Sauerstoff: Etwa 60 Prozent des gesamten fetalen Sauerstoffverbrauchs gehen auf das Konto der zellulären Differenzierung von Neuronen und Glia, vor allem im Bereich von Hippocampus und Striatum, einschliesslich der Myelinisierungsprozesse. In Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen sind nahezu 45 Prozent aller Schwangeren von Eisenmangel betroffen, in einkommensschwächeren Ländern sogar annähernd 80 Prozent. Somit kann der Beginn einer Schwangerschaft grundsätzlich als Konstellation gelten, in der eine Unterversorgung mit Eisen droht. Eine Schwangerschaft steigert den Eisenbedarf des mütterlichen Organismus aus dreierlei Gründen:
MERKSÄTZE
� Eisenmangel während der Schwangerschaft kann beim Fetus zu massiven Störungen der Hirnentwicklung führen, deren Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter reichen.
� Hinsichtlich einer gesunden Hirnentwicklung von Kindern sollte statt einer alleinigen Fokussierung auf die postnatale Ernährung das Augenmerk vermehrt auf die pränatale oder sogar präkonzeptionelle Ernährung gelegt werden.
� Anzustreben sind daher Massnahmen zur Förderung einer gesunden Ernährung von Frauen mit Kinderwunsch sowie eine während der Schwangerschaft erfolgende engmaschige Kontrolle einer ausreichenden Versorgung mit Schlüsselnährstoffen wie etwa Eisen.
s Plasma- und Blutvolumen sind während der Schwangerschaft erhöht. Auf jedes zusätzlich synthetisierte Gramm an Hämoglobin entfällt ein Extrabedarf von 3,46 mg elementaren Eisens.
s Der Fetus benötigt ebenfalls Eisen, um Stoffwechselprozesse und die damit notwendigerweise einhergehende gesteigerte Sauerstoffversorgung aufrechterhalten sowie die relativ grossen endogenen Eisenspeicher, die in den ersten 6 Monaten nach der Geburt angezapft werden, auffüllen zu können.
s Auch die Plazenta als metabolisch höchst aktives Organ fungiert als Eisenspeicher, welcher gegebenenfalls eine temporäre maternale Eisenunterversorgung abpuffern kann.
Postnataler Eisenstatus abhängig von fetaler Eisenbeladung
Auch bei Säuglingen und Kleinkindern besteht häufig ein Eisenmangel, welcher ähnlich hohe Inzidenzraten erreicht, wie sie oben für Schwangere in Abhängigkeit von deren Herkunftsland angegeben wurden. Die postnatale Unterversorgung mit Eisen wird mit der kurz- und langfristigen Entstehung von neuronalen Entwicklungsstörungen in Verbindung gebracht. Bis vor Kurzem wurde ein postnataler Eisenmangel noch einer Kombination aus Mangelernährung und Blutverlust aufgrund intestinaler Infektionen zugeschrieben. Inzwischen haben Studien allerdings gezeigt, dass vielmehr der Eisenstatus des Neugeborenen selbst, welcher seinerseits abhängig ist von der fetalen Eisenbeladung, zu grossen Teilen dafür verantwortlich ist. Das fetale Eisen verteilt sich dabei auf drei Kompartimente: Erythrozyten, Eisenspeicher (hauptsächlich in der Leber) und nicht hämgebundenes (Nichtspeicher-)Eisen im Gewebe. Ein wichtiges Prinzip des fetalen Eisenstoffwechsels ist, dass das Eisen vor allen anderen Kompartimenten einschliesslich des Gehirns priorisiert den Erythrozyten zugeführt wird. Deshalb repräsentiert eine Anämie eher das Endstadium des Eisenmangelprozesses und stellt keinen sensitiven Marker einer möglicherweise bestehenden Eisenunterversorgung des Gewebes inklusive eines Eisenmangels im Gehirn dar.
4 ARS MEDICI DOSSIER I | 2021
GYNÄKOLOGIE/UROLOGIE
Diagnostik des Eisenmangels bei Schwangeren
Traditionellerweise wird bei Patienten jeglichen Alters zur Bestimmung des Eisenstatus die Hämoglobinkonzentration herangezogen. Das liegt zum einen daran, dass sich weltweit ein sehr grosser Anteil an Anämien auf Eisenmangel zurückführen lässt, zum anderen aber auch an der leichten Verfüg- und Handhabbarkeit sowie den geringen Kosten dieses Tests. Sich aber zur Abklärung einer Eisenunterversorgung allein auf das Hämoglobinscreening zu verlassen, wird zunehmend kritisch gesehen. Denn aufgrund der priorisiert erfolgenden Einlagerung von Eisen in das Hämoglobinmolekül stellt eine auftretende Anämie bereits das Endstadium einer bestehenden Eisendysbalance dar. Die Hämoglobinkonzentration taugt deshalb nicht als sensitiver Maker, um frühe Stadien eines Eisenmangels zu einem Zeitpunkt zu detektieren, an dem dieser auf zellulärer Ebene bereits physiologische Effekte zeigt. Deshalb werden auch bei Schwangeren inzwischen vermehrt eisenspezifische Biomarker wie Serumferritin, die totale Eisenbindungskapazität in Prozent (%TSAT) und das Protein Hepcidin, negativer enzymatischer Hauptregulator der intestinalen Aufnahme von Eisen und dessen Freisetzung aus dem retikuloendothelialen System, als Parameter zur Aufdeckung eines Eisenmangels ausgewertet. Insbesondere Letzteres, also die Messung der Serumhepcidinkonzentration, könnte künftig die meisten Informationen darüber liefern, bei wem eine Eisensupplementierung sinnvoll ist und bei wem nicht. Patienten mit niedrigen Hepcidinspiegeln, welche auch häufig zu Beginn einer Schwangerschaft zu beobachten sind, benötigen aller Wahrscheinlichkeit nach Eisen und sprechen auf eine entsprechende Supplementation an.
Eisensupplementierung
Eisenmangel und Eisenmangelanämie sind nicht dasselbe: Unter Eisenmangel wird das Vorliegen eines Eisenungleichgewichts verstanden, bei dem die Versorgung mit Eisen nicht den Bedarf deckt. Als Eisenmangelanämie wird dagegen ein Zustand definiert, welcher durch eine aufgrund eines bestehenden Eisenmangels bedingte limitierte Hämoglobinsynthese gekennzeichnet ist, in deren Folge es zu einer Anämie kommt. Studien haben gezeigt, dass ein Eisenmangel während der Schwangerschaft, vor allem während des 1. und 2. Trimesters, mit einer erhöhten Sterblichkeit der Mütter sowie einem vermehrten Auftreten von Komplikationen wie geringes Geburtsgewicht, Frühgeburten und intrauterine Wachstumsretardierung einhergeht und dass sich diese Risiken durch Eisensupplementation minimieren lassen. Aufgrund der weltweit hohen Prävalenz von Eisenmangel (ca. 2 Mrd. von 7,5 Mrd. Menschen betroffen) und der Tatsache, dass Schwangerschaften selbst eine negative Eisenbilanz induzieren, gab es seitens der staatlichen Entscheidungsgremien Überlegungen, zumindest Schwangere mit einer universellen, standardmässigen Eisensupplementation zu versorgen. Ein solches Vorgehen wäre jedoch medizinisch nicht unproblematisch, da es Hinweise dafür gibt, dass schwangere Frauen ohne Eisenmangel, die eine Eisentherapie erhalten, ein höheres Risiko für eine Glukoseintoleranz tragen. Hier sind weitere ausreichend gepowerte Untersuchungen vonnöten, bevor entsprechende Richtlinien verabschiedet werden können.
Kurz- und Langzeiteffekte des Eisenmangels auf
die Gehirnentwicklung
Im Falle einer milden Eisendefizienz der Schwangeren wird
priorisiert der Fetus mit Eisen versorgt. Ein moderater oder
schwerer Eisenmangel dagegen betrifft die gesamte Einheit
aus fetalem und mütterlichem Organismus inklusive Pla-
zenta, was signifikante kurz- und langfristige Konsequenzen
für den Fetus mit sich bringt. Ähnliche Folgen drohen auch
den Feten von zwar selbst nicht von Eisenmangel betroffe-
nen, dafür aber mit anderen die fetale Eisenversorgung po-
tenziell kompromittierenden Risikofaktoren (Hypertonie,
Rauchen, Diabetes mellitus, Zwillingsschwangerschaft) vor-
belasteten Müttern. Die Folgen eines solchen Eisenmangels
für den Fetus lassen sich in drei Kategorien unterteilen:
s unmittelbares Risiko für Fehlentwicklungen des fetalen
Gehirns
s Risiko für eine längerfrístig beeinträchtigte Gehirnent-
wicklung und neurokognitive Dysfunktion beim Neuge-
borenen bis ins Kleinkindalter (trotz eines nach der Ge-
burt nicht mehr bestehenden Eisenmangels)
s postnataler Eisenmangel im Säuglings- und Kleinkind-
alter mit assoziierten Folgeschäden bei der Neuroent-
wicklung (verlangsamte Informationsverarbeitung, ver-
minderte motorische Funktion, Störungen des
Sozialverhaltens), die langfristig zu bis ins Erwachsenen-
alter anhaltenden neurologischen Problemen inkl. De-
pression und Angststörungen führen können
Zu den erwähnten neuronalen Folgeschäden in der Entwick-
lung des Fetus unter Eisenmangel kommt es, da Eisen nicht
nur als essenzieller Baustein für das korrekte Funktionieren
sämtlicher Zellen und mithin auch der Nervenzellen benötigt
wird, sondern weil es auch über eisenhaltige Enzyme (Tyro-
sinhydroxylase, Tryptophanhydroxylase) direkt in die Pro-
zesse der Neurotransmittersynthese und auch der Myelinisie-
rung von Nervenzellen involviert ist. Studien an präklinischen
Modellen belegen seit mehreren Jahrzehnten, dass ein in der
Phase zwischen Mitte der Schwangerschaft und 3 Jahren post-
natal bestehender Eisenmangel zu Änderungen der Konzen-
trationen von Neurotransmittern, ihrer Rezeptoren und ihrer
Wiederaufnahmemechanismen führt, welche auch nach Wie-
derauffüllen der Eisenspeicher bis ins Erwachsenenalter an-
dauern und dann in massiven Verhaltensstörungen resultieren
können. Zudem scheinen die beschriebenen Langzeiteffekte
des Eisenmangels in ihrer Ursache nicht nur auf sensible kriti-
sche neuronale Entwicklungsphasen beschränkt zu sein, son-
dern auch eine epigenetische Komponente zu haben.
Insofern kann das Sicherstellen einer gesunden fetalen Er-
nährungssituation, insbesondere hinsichtlich der Eisenver-
sorgung, nach Meinung des Reviewautors als Investition in
die mentale Gesundheit der nächsten Generation und in den
Fortbestand der Gesellschaft angesehen werden.
s
Ralf Behrens
Quelle: Georgieff MK: Iron deficiency in pregnancy. Am J Obstet Gynecol 2020; 223(4): 516–524.
Interessenlage: Der Autor des referierten Reviews hat keinerlei Interessenkonflikte deklariert.
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