Transkript
FORTBILDUNG
Gestationsdiabetes: höheres Risiko für Mutter und Kind
Diagnostik, Kontrollen und Interventionen bei Glukosestoffwechselstörungen in der Schwangerschaft
Gestationsdiabetes ist ein bedeutender Risikofaktor für die Entstehung metabolischer und kardiovaskulärer Erkrankungen. Bei betroffenen Patientinnen sollten rechtzeitig Diabetespräventionsmassnahmen sowie Lebensstilinterventionen eingeleitet werden. Denn nicht nur die Gesundheit der Mutter, sondern auch die des Kindes ist vom Glukosestoffwechsel in der Schwangerschaft betroffen, der die körperliche und kognitive Entwicklung bis ins Erwachsenenalter prägen kann.
Louise Fritsche
Gestationsdiabetes mellitus (GDM) ist definiert als eine Glukosetoleranzstörung, die erstmals in der Schwangerschaft auftritt. Ursache ist meist eine ungenügende Insulinsekretion bei schwangerschaftsphysiologischer Insulinresistenz. Zur Diagnose wendet man in Deutschland ein 2-stufiges Testverfahren an: Zwischen der 24. und 28. Schwangerschaftswoche (SSW) wird zu einer beliebigen Tageszeit ein Suchtest mit 50 g Glukose durchgeführt (vgl. Kasten). Wird nach 1 Stunde ein Blutglukosewert zwischen 135 mg/dl (7,5 mmol/l) und 200 mg/dl (11,11 mmol/l) gemessen, sollte zeitnah ein 2-stündiger oraler Glukosetoleranztest (oGTT) mit 75 g Glukose im nüchternen Zustand durchgeführt werden. Zur Diagnose eines GDM reicht das Überschreiten des Grenzwerts zu einem von 3 Messzeitpunkten (0 min: 92 mg/dl [5,11 mmol/l]; 60 min: 180 mg/dl [10 mmol/l]; 120 min: 153 mg/dl [8,5 mmol/l]). Die Diagnose GDM wird in der Regel vom Gynäkologen gestellt. Die Behandlung erfolgt durch Diabetologen und Diätassistenten nach den Leitlinien der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) (1).
MERKSÄTZE
� Gestationsdiabetes (GDM) ist eine Glukosetoleranzstörung, die erstmals in der Schwangerschaft auftritt.
� Frauen mit GDM haben ein erhöhtes Risiko für Typ-2Diabetes nach der Entbindung.
� Ein GDM prädisponiert für metabolisches Syndrom, kardiovaskuläre Erkrankungen, Nierenerkrankungen und Depressionen.
� Kinder von Müttern mit GDM entwickeln später häufiger Übergewicht und Diabetes.
� Frauen mit GDM sollten regelmässig an Gesundheitsvorsorgen teilnehmen.
8 bis 12 Wochen nach der Entbindung sollte ein Kontroll-oGTT erfolgen, um zu überprüfen, ob die Blutglukosewerte wieder im Normalbereich liegen. Zu diesem Zeitpunkt wird bei 1 bis 4 Prozent aller Patientinnen ein manifester Diabetes festgestellt (2), der sehr wahrscheinlich schon vor der Schwangerschaft bestand. Bei 12 bis 36 Prozent liegt zu diesem Zeitpunkt eine gestörte Glukosetoleranz vor (2). Der Post-partum-oGTT wird nur bei einem geringen Anteil der Patientinnen vorgenommen – häufig aufgrund von Zeitmangel bei den jungen Müttern, aber oft auch wegen der unklaren fachlichen Zuständigkeit: Die Patientinnen wissen meist nicht, ob der oGTT beim Gynäkologen, Diabetologen oder beim Hausarzt durchgeführt werden soll.
GDM als Risikofaktor
Obwohl sich bei den meisten Patientinnen die Glukosewerte nach der Entbindung wieder normalisieren, haben diese Frauen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Reihe von Krankheiten. An erster Stelle sind hier Glukosetoleranzstörungen und Typ-2-Diabetes mellitus (T2DM) mit seinem typischen Geno- und Phänotyp zu nennen (3). Das Risiko für T2DM ist für Frauen mit positiver GDM-Anamnese 7-mal höher als bei Frauen, die eine normale Glukosetoleranz in der Schwangerschaft hatten (4). Die kumulative Inzidenz für T2DM steigt in den ersten 5 Jahren nach der Entbindung stark an und erreicht dann ein Plateau (5). Diese Patientinnen haben in einer Folgeschwangerschaft ebenfalls ein hohes Risiko für ein Wiederauftreten des GDM (6). Patientinnen mit positiver GDM-Anamnese haben zudem ein höheres Risiko für die Entwicklung eines metabolischen Syndroms und kardiovaskulärer Erkrankungen. Hier zeigte eine neue Metaanalyse von Kramer et al. (7), bei der Studien mit insgesamt über 5,39 Millionen Frauen bewertet wurden, dass das relative Risiko in den 10 Jahren nach der Entbindung bei 2,31 liegt. Dabei ist auch bei Frauen, die keinen T2DM nach GDM entwickeln, das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen um 56 Prozent erhöht (7).
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FORTBILDUNG
Kasten:
Kasuistik: Dreifache Mutter mit Gestationsdiabetes
Eine 37-jährige Mutter mit Normalgewicht (Body-Mass-Index [BMI]: 21,4) entwickelt in ihrer dritten Schwangerschaft einen Gestationsdiabetes, der sich durch Ernährungsumstellung und Blutzuckerselbstkontrolle gut einstellen lässt. In der 39. Schwangerschaftswoche wird ihre Tochter durch geplante Sectio entbunden (Geburtsgewicht: 3100 g, Geburtslänge: 51 cm). Die APGAR*-Werte liegen 1, 5 und 10 min nach Entbindung bei jeweils 10. Im Rahmen einer Studie wurde 2 Jahre nach Entbindung ein oraler Glukosetoleranztest (oGTT) mit 75 g Glukose bei der Frau vorgenommen, der eine gestörte Glukosetoleranz (IGT) mit einem 2-h-Blutzuckerwert von 159 mg/dl (8,8 mmol/) zeigte. Die Patientin wurde mit einem 6-monatigen Lebensstilinterventionsprogramm (Ernährungsberatung, gesteigerte körperliche Aktivität) behandelt. Bei wiederholtem oGTT 6 Monate nach Start der Massnahme waren die Plasmaglukosewerte wieder im Normbereich, wodurch ihr Diabetesrisiko sank. Die Patientin hielt sich auch nach Studienende an die erlernte Lebensstiländerung, sodass die Plasmaglukosewerte auch 2 Jahre danach noch im Normalbereich lagen.
*APGAR-Score: Punkteschema zur Beurteilung des klinischen Zustands von Neugeborenen, vorgestellt 1952 von der Anästhesistin Virginia Apgar, wobei die einzelnen Buchstaben ihres Namens eine Erinnerungsstütze für die 5 verwendeten Kriterien (Atmung, Pulsfrequenz, Grundtonus, Aussehen, Reflex) bilden.
Ein früherer GDM beeinflusst ebenfalls das Risiko für Nierenerkrankungen. In einer Analyse der dänischen nationalen Geburtskohorte zeigten Frauen nach GDM mit höherer Wahrscheinlichkeit 9 bis 16 Jahre nach der Geburt eine erhöhte glomeruläre Filtrationsrate. Diese glomeruläre Hyperfiltration kann auf ein frühes Stadium einer Nierenschädigung hindeuten. Zusammengefasst kann ein GDM als Risikokonstellation für die metabolische und die kardiovaskuläre Zukunft von jungen Frauen angesehen werden (8). Neben dem erhöhten Risiko für körperliche Erkrankungen wird auch eine höhere Prävalenz von Depressionen bei Frauen mit GDMAnamnese berichtet. Eine aktuelle Übersichtsarbeit zeigt, dass das relative Risiko für Depressionen in methodisch sehr unterschiedlichen Studien zwar schwankt (0,8 [95%-Konfidenzintervall {KI}: 0,4–1,6] bis 4,62 [95%-KI: 1,26–16,96]), jedoch insgesamt von einem erhöhten Depressionsrisiko bei Patientinnen mit GDM ausgegangen werden kann (9).
Auswirkungen auf das Kind
Ein GDM beeinflusst nicht nur die Gesundheit der Mutter, sondern kann auch Auswirkungen auf die Gesundheit der Nachkommen im Kindes- und Erwachsenenalter haben. Hohe mütterliche Blutglukosewerte in der Schwangerschaft führen zu einer Hyperinsulinämie beim Fetus und über mutmasslich epigenetische Mechanismen der fetalen Programmierung vermehrt zu Übergewicht, eingeschränkter Glukosetoleranz und Diabetes bei den (erwachsenen) Nachkommen. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass die gefürchtete Makrosomie (d. h. ein Geburtsgewicht > 4000 g) heutzutage kaum noch auftritt, da bei annähernd allen Schwangeren ein Screening durchgeführt und ein GDM behandelt wird. Trotzdem
lassen sich längerfristige Auswirkungen einer Hyperglykämie in der Schwangerschaft, die ja schon vor der Diagnose GDM bestanden hat, nicht ausschliessen. Studien zeigten, dass die Kinder von Müttern mit mildem beziehungsweise behandeltem GDM im Vergleich zu Kindern, deren Mütter eine normoglykämische Schwangerschaft hatten, bei Geburt und in der frühen Kindheit zwar ein ähnliches Körpergewicht haben, dass jedoch ab der Pubertät der Zuwachs des Body-MassIndex (BMI) bei den GDM-exponierten Kindern signifikant höher ist (10). Der Einfluss eines GDM auf die Entwicklung der Nachkommen betrifft nicht nur die körperliche, sondern auch die neurokognitive Entwicklung der Nachkommen. Die Insulinresistenz des Gehirns, die durch hohe fetale Insulinspiegel verursacht werden könnte, wird als Ursache für eine veränderte Hirnentwicklung diskutiert (11). Registerstudien weisen auf eingeschränkte kognitive Leistungen bei Kindern und erwachsenen Nachkommen hin. Die Studienlage ist derzeit jedoch noch uneinheitlich (12), und es sind prospektive Studien nötig, welche die neurokognitive Entwicklung von Kindern untersuchen, bei denen der mütterliche Stoffwechsel in der Schwangerschaft eingehend charakterisiert ist.
Zusammenfassung
Frauen mit positiver GDM-Anamnese haben ein erhöhtes
Risiko, eine Glukosetoleranzstörung und einen T2DM zu
entwickeln. Zudem ist das Risiko für kardiovaskuläre und
renale Erkrankungen erhöht, auch schon bei jungen Frauen.
Man sollte die Patientinnen ermutigen, an regelmässigen
Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen teilzunehmen. Eine
regelmässige Kontrolle der Nüchternglukose- und der HbA1c-
Werte ist wichtig, um eine negative Entwicklung des Glukose-
stoffwechsels zu erkennen und gegebenenfalls gegensteuern
zu können. Eine Lebensstiländerung mit Fokus auf Gewichts-
reduktion (13), Erhöhung der körperlichen Aktivität und
gesunde Ernährung kann das Risiko für T2DM signifikant
senken (14). Unterstützend lassen sich heute Smartphone-
Apps (15) und Internetprogramme (16) einsetzen, sodass die
Umsetzung für Frauen mit kleinen Kindern gut machbar ist.
Bei der Erhebung der Familienanamnese sollte man nach
einem GDM der Mutter fragen und das Wissen darüber in die
Betreuung einfliessen lassen. Mit solchen relativ einfach um-
zusetzenden Massnahmen könnte man in der Hochrisiko-
gruppe der Frauen nach einem GDM das Risiko für GDM-
Langzeitfolgen reduzieren.
s
Dr. rer. nat. Louise Fritsche Institut für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen des Helmholtz-Zentrums München an der Universität Tübingen D-72076 Tübingen
Interessenlage: Die Autorin hat keine deklariert.
Dieser Artikel erschien zuerst in «doctors today» 1/2021. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.
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Literatur: 1. Schäfer-Graf U et al.: Gestationsdiabetes mellitus (GDM), Diagnostik,
Therapie und Nachsorge. Diabetol Stoffwechs. 2018;13:S174-S184. 2. Tovar A et al.: Postpartum screening for diabetes among women with a
history of gestational diabetes mellitus. Prev Chronic Dis. 2011;8(6):A124. 3. Fritsche L et al.: Genetic variation in TCF7L2 rs7903146 and history of
GDM negatively and independently impact on diabetes-associated metabolic traits. Diabetes Res Clin Pract. 2018;146:251-257. 4. Bellamy L et al.: Type 2 diabetes mellitus after gestational diabetes: a systematic review and meta-analysis. Lancet. 2009;373:1773-1779. 5. Kim C et al.: Gestational diabetes and the incidence of type 2 diabetes. Diabetes Care. 2002;25:1862-1868. 6. Kim C et al.: Recurrence of gestational diabetes mellitus: a systematic review. Diabetes Care. 2007;30:1314-1319. 7. Kramer CK et al.: Gestational diabetes and the risk of cardiovascular disease in women: a systematic review and meta-analysis. Diabetologia. 2019;62:905-914. 8. Retnakaran R: Glucose tolerance status in pregnancy: a window to the future risk of diabetes and cardiovascular disease in young women. Curr Diabetes Rev. 2009;5:239-244. 9. Arafa A, Dong JY: Gestational diabetes and risk of postpartum depressive symptoms: a meta-analysis of cohort studies. J Affect Disord. 2019;253:312-316. 10. Crume TL et al.: The impact of in utero exposure to diabetes on childhood body mass index growth trajectories: the EPOCH study. J Pediatr. 2011;158:941-946. 11. Kullmann S et al.: Brain insulin resistance at the crossroads of metabolic and cognitive disorders in humans. Physiol Rev. 2016;96:1169-1209. 12. Fraser A, Lawlor DA: Long-term health outcomes in offspring born to women with diabetes in pregnancy. Curr Diab Rep. 2014;14:489. 13. Ferrara A et al.: The comparative effectiveness of diabetes prevention strategies to reduce postpartum weight retention in women with gestational diabetes mellitus: the Gestational Diabetes’ Effects on Moms (GEM) cluster randomized controlled trial. Diabetes Care. 2016;39:65-74. 14. Guo J et al.: Postpartum lifestyle interventions to prevent type 2 diabetes among women with history of gestational diabetes: a systematic review of randomized clinical trials. J Womens Health. 2016;25:38-49. 15. Potzel A et al.: Prävention des Typ-2-Diabetes nach Schwangerschaftsdiabetes. Diabetes Aktuell 2019;17:98-100. 16. Nicklas JM et al.: A web-based lifestyle intervention for women with recent gestational diabetes mellitus: a randomized controlled trial. Obstet Gynecol. 2014;124:563.
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