Transkript
FORTBILDUNG
Plädoyer für den frühen Einsatz von Insulin
Therapie des unzureichend kontrollierten Typ-2-Diabetes
Angesichts der mittlerweile zahlreich verfügbaren modernen Antidiabetika ist bei Patienten mit Typ-2-Diabetes der Einsatz von Humaninsulin in der Zweitlinientherapie nach Metformin in den Hintergrund getreten und erfolgt vielfach, wenn überhaupt, erst verzögert. Dabei kann durch frühzeitige Injektion des Pankreashormons eine effektive und kostengünstige Blutzuckerkontrolle erreicht werden, die Langzeitschäden vorbeugt, wie ein aktueller Kurzreview aus der Reihe «JAMA Insights» erläutert.
JAMA
Die jüngsten Leitlinien der American Diabetes Association (ADA) für die Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 empfehlen, im Anschluss an die Behandlung mit Metformin die Second-Line-Medikamente in Abhängigkeit vom Vorliegen kardiovaskulär und/oder renal bedingter Komorbiditäten sowie vom Risiko für Gewichtszunahme und Hypoglykämien auszuwählen. Zur Frage, wie die Behandlung, je nachdem wie weit der Hämoglobin-A1c-(HbA1c-)Wert des Patienten nach Beginn der Metformingabe über dem Zielwert liegt, variiert werden kann, existieren kaum Evidenz und Orientierungshilfen. Die Guidelines empfehlen für Patienten mit atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung (ASCVD), chronischer Nierenkrankheit (CKD) oder Herzinsuffizienz unabhängig vom HbA1c-Wert den Einsatz von SGLT2-Hemmern
MERKSÄTZE
� Aktuelle Guidelines empfehlen für die Second-Line-Therapie des Typ-2-Diabetes nach Metformin die Gabe von SGLT2-Hemmern, GLP-1-Rezeptor-Agonisten, DPP-4-Hemmern, Sulfonylharnstoffen oder Thiazolidinedionen.
� Der Beginn einer Insulintherapie steht gemäss Leitlinien dagegen eher am Ende eines jeden Therapiealgorithmus.
� Durch die Gabe von Insulin lässt sich im Vergleich zu Nicht-Insulin-Therapien generell eine stärkere HbA1c-Reduktion erzielen, und es bestehen Hinweise, die für eine Optimierung der Blutzuckerwerte bereits ab dem Zeitpunkt der Diabetesdiagnose sprechen.
� Auch angesichts der relativ kostspieligen modernen Antidiabetika sollten sich behandelnde Ärzte an das Potenzial einer frühzeitigen Insulintherapie erinnern und diese bei HbA1c-Werten ab 9 Prozent dringend in Erwägung ziehen.
(SGLT2 = sodium-glucose linked transporter 2) oder GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP = glucagon-like peptide) (GLP-1-RA). Für Patienten ohne ASCVD und CKD geht die Empfehlung zu DPP-(Dipeptidylpeptidase-)4-Hemmern oder Thiazolidinedionen, falls Hypoglykämierisiken minimiert werden sollen. Zu SGLT2-Hemmern und GLP-1-RA wird geraten, falls Gewichtsreduktion das primäre Ziel ist. Stellen die Therapiekosten eine Herausforderung dar, wird mehr Wert auf Sulfonylharnstoffe und Thiazolidinedione gelegt. All diese Empfehlungen gehen denen für den Beginn einer Insulintherapie voraus, welche eher am Ende eines jeden Therapiealgorithmus steht. Die allgemeine Ausprägung eines schlecht kontrollierten Diabetes, wie sie sich im HbA1c-Wert niederschlägt, stellt keinen Faktor für die empfohlenen Therapieentscheidungen dar, solange dieser Wert nicht mehr als 10 Prozent beträgt. Wie die meisten Leitlinien empfehlen auch die ADA-Guidelines für «viele nicht schwangere Erwachsene» HbA1c-Zielwerte von weniger als 7 Prozent, es sei denn, es besteht eine geringe Lebenserwartung oder eine Hypoglykämiewahrnehmungsstörung.
Insulin oft zu spät eingesetzt
Mithilfe eines umfangreichen Reviews mit Daten von insgesamt fast 79 000 Diabetes-Typ-2-Patienten lassen sich die durch die jeweilige Therapie erreichbaren HbA1c-Zielwerte anhand der Ausgangswerte vorhersagen, wobei sich durch die Gabe von Insulin im Vergleich zu Nicht-Insulin-Therapien unabhängig vom Ausgangswert generell eine geringfügig stärkere HbA1c-Reduktion erzielen lässt. Unabhängig von den ADA-Empfehlungen ist nach Ansicht der Autoren des hier referierten Reviews seit mehreren Jahrzehnten klinisch ein Festhalten an einem erst verzögert einsetzenden Diabetesmanagement mittels Insulins zu beobachten. Wie eine Studie zeigte, wiesen Patienten, denen eine initiale Insulintherapie verschrieben wurde, im Schnitt sehr hohe HbA1c-Werte von 10,1 Prozent auf. Dabei bestehen durchaus Hinweise, die für eine Optimierung der Blutzuckerwerte bereits ab dem Zeitpunkt der Diabetesdiagnose spre-
ARS MEDICI 21 | 2020
669
FORTBILDUNG
chen. So kann bei HbA1c-Werten von mehr als 9 Prozent eine unverzügliche, zum Zeitpunkt der Erstdiagnose und noch vor Metformingabe einsetzende intensive Insulintherapie die Betazellfunktion verbessern und sogar zu einer Diabetesremission führen. Bei auf Werte oberhalb von 8,5 Prozent ansteigendem HbA1c nehmen diabetesbedingte mikrovaskuläre Komplikationen stark und asymptomatisch zu. Jede Verringerung des HbA1c um 1 Prozent war in einer Beobachtungsstudie mit einer Risikoreduktion um 21 Prozent für jegliche diabetesbezogene Endpunkte assoziiert. Die Gabe von Insulin kann daher insgesamt bei Patienten mit sehr hohen HbA1c-Werten unabhängig von deren ASCVD- beziehungsweise CVD-Risiko die Komplikationslast deutlich vermindern. Durch eine sofortige und effektive Senkung der Hyperglykämie mithilfe von Basalinsulin, gegebenenfalls in Kombination mit einem GLP-1-RA, lassen sich das aktuelle metabolische Risiko und mithin die assoziierten Spätfolgen nachhaltig reduzieren.
Humanes Insulin ist kostengünstig und effektiv
Falls die relativ hohen Kosten für Insulinanaloga im Einzelfall gegen eine entsprechende Therapie sprechen, können mit den vergleichsweise günstigen NPH-Insulinen (NPH = neutrales Protamin Hagedorn) ebenfalls gute Resultate erzielt werden. Ziel ist es, die grosse Zahl derjenigen Patienten zu senken, die HBA1c-Werte von mehr als 9 Prozent aufweisen. Für Patienten mit bekannter ASCVD oder CKD, die bereits Metformin erhalten und unsicher sind, ob sie Insulin nehmen sollen, kommen GLP-1-RA oder SGLT2-Hemmer aufgrund der relativ hohen Kosten dieser Arzneien häufig nicht infrage. Hier können für Patienten mit HbA1c-Werten von 9 oder 9,5 Prozent unter Metformin Bedtime-NPH-Insulin und eine morgendli-
che Dosis Pioglitazon oder eines Sulfonylharnstoffs die kli-
nisch effektivere (bessere Blutzuckerkontrolle, bessere mikro-
vaskuläre Ergebnisse) und kosteneffizientere Wahl darstellen.
Nachteile eines solchen Regimes sind allerdings das Hypo-
glykämierisiko und die Notwendigkeit des Injizierens von
Insulin anstelle des Einnehmens von Tabletten.
Moderne Insulinanaloga und neuere Antidiabetika sind für die
Patienten zum Teil nicht mehr bezahlbar. Dies gilt vor allem
für das Gesundheitssystem in den USA, wo Kliniker natürlich
dennoch vor der Herausforderung stehen, patientenorientierte
Therapieentscheidungen treffen und die Krankheitslast durch
Diabetes und damit verbundene Komplikationen senken zu
müssen. Hier kann das Erkennen von individuellen Situatio-
nen, in denen die Gabe von Humaninsulin als alternative,
kostengünstige Therapieoption vertretbar und vernünftig ist,
einen Ausweg weisen. In Erwartung des demnächst zu feiern-
den 100-jährigen Jubiläums der Entdeckung von Insulin raten
die Review-Autoren behandelnden Ärzten, sich auf das Poten-
zial dieser altbewährten und nach wie vor sehr wirksamen
Substanz zu besinnen. Anders als in den Leitlinien empfohlen,
sollte die Gabe von Basalinsulin nicht erst bei HbA1c-Werten
von 10, sondern bereits bei 9 Prozent zwingend ins Auge ge-
fasst werden, so ihr Fazit.
s
Ralf Behrens
Hirsch IB, Gaudiani LM: Using insulin to treat poorly controlled type 2 diabetes in 2020. JAMA 2020, May 22; DOI: 10.1001/jama.2020.1303.
Interessenlage: Die Autoren des referierten Reviews deklarieren, Beratungshonorare und Forschungsunterstützung von diversen Pharma- und Medizintechnikfirmen erhalten zu haben beziehungsweise im Besitz von Aktienbezugsrechten bei entsprechenden Unternehmen zu sein.
670
ARS MEDICI 21 | 2020