Transkript
BERICHT
Videosequenzen mit gespielten Emotionen als Test für soziale Kognition
Im falschen Film: Was du fühlst, das sehe ich nicht
Freude oder Trauer, Wut oder Angst – starke Gefühle stehen uns förmlich ins Gesicht geschrieben. Unser Umfeld erfasst die emotionale Lage, in der wir uns befinden, ohne dass wir auch nur ein Wort miteinander wechseln müssen. Mehr noch: Die Fähigkeit zur sozialen Kognition bildet sogar erst die Basis für Kommunikation und mithin für ein gesellschaftliches Miteinander. Doch es gibt Menschen, die solche nonverbalen Informationen nicht (mehr) verstehen. Verletzungen oder Erkrankungen, die sich auf bestimmte mit entsprechenden Funktionen befasste Hirnregionen auswirken, stören ihr Vermögen, Emotionen beim Gegenüber zu erkennen. Mit einem neu entwickelten Test will die Arbeitsgruppe um PD Dr. Marc Sollberger, Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER in Basel, hier künftig diagnostische und therapeutische Lücken schliessen.
Verschiedene neurodegenerative Krankheiten, wie etwa manche Demenzerkrankungen, oder auch Hirnverletzungen gehen einher mit Störungen oder dem Verlust der sozialen Kognition, also der Fähigkeit, Informationen im zwischenmenschlichen Kontext wahrzunehmen und zu verarbeiten. Ist die soziale Kognition beeinträchtigt, haben die Betroffenen Schwierigkeiten, ihre eigenen sozialen Beziehungen oder diejenigen anderer Personen untereinander zu verstehen. Es fällt ihnen dann schwer oder es ist ihnen sogar unmöglich, die Emotionen und das Verhalten ihres Gegenübers oder ihres Umfelds zu erfassen, zu deuten und daraus Rückschlüsse auf zugrunde liegende Gedanken und Absichten zu ziehen und mithin der Situation angemessen selbst adäquat (re-)agieren zu können. Mit anderen Worten: Soziale Kognition ist eine essenzielle Voraussetzung dafür, dass ein menschliches Individuum überhaupt fähig ist, mit anderen in Kontakt und einen Austausch zu treten. Dieser zentralen Funktion angemessen, sind tatsächlich weite Teile des Gehirns mit entsprechenden Aufgaben betraut. In den letzten Jahren gelang es der Neurowissenschaft nachzuweisen, dass hauptsächlich die rechte Gehirnhälfte sowie temporobasal und orbitofrontal gelegene Bereiche des Kortex Schauplätze emotional-kognitiver Prozesse sind. Mit diesen Erkenntnissen wird es zum einen möglich, Patienten mit degenerativen Erkrankungen oder Traumata, welche genau diese Hirnregionen betreffen, gezielt auf eventuell dadurch bedingte Störungen der sozialen Kognition hin zu untersuchen. Zum anderen lässt sich damit, ausgehend von bereits manifesten, die soziale Wahrnehmung betreffenden Defiziten, nach möglicherweise ursächlichen neurodegenerativen Erkrankungen fahnden, bei denen die zerstörerischen Prozesse, wie sich den Hirnforschern ebenfalls mehr und mehr erschliesst, in jeweils typischer Weise in bestimmten Gehirnregionen ihren Anfang nehmen.
Soziale Kognition bis jetzt kaum untersucht
Dies ist auch der Punkt, an dem Marc Sollberger in der Memory Clinic FELIX PLATTER mit seinem aktuellen Projekt ansetzt. Zusammen mit seiner Arbeitsgruppe will der Leitende Arzt und Neurologe eine aussagekräftige Testbatterie zur Erfassung der sozialen Kognition entwickeln, welche als diagnostisches Tool zunächst die bei Patienten mit bekannten neurodegenerativen Erkrankungen oder Hirnverletzungen bestehenden Defizite im Bereich der Emotionserkennung und Perspektivenübernahme aufspüren und quantifizieren helfen soll, um womöglich adäquat therapeutisch beziehungsweise rehabilitativ gegensteuern zu können. In einem weiteren Schritt könnte es dann in der Zusammenschau solcher Testergebnisse mit anderen, etablierten Untersuchungsverfahren möglich werden, weitere und letztlich hinreichende Anhaltspunkte zu erhalten, um eine beginnende Hirnerkrankung im noch frühen Stadium zu entdecken und differenzialdiagnostisch einzugrenzen. Im Moment werden die Aspekte der sozialen Kognition klinisch nicht untersucht, denn es sind schlichtweg keine entsprechenden geeigneten Tests verfügbar. Doch welche Fähigkeiten sind es genau, die hierbei geprüft werden sollen, und wie lassen sich in einem so individuell geprägten Feld wie dem der menschlichen Emotionen überhaupt allgemeingültige Parameter ableiten? Noch dazu, wenn die in diesem Zusammenhang auftretenden Symptome nicht spezifisch für eine bestimmte neurodegenerative Erkrankung sind, sondern Übereinstimmungen etwa mit denjenigen bei psychischen Erkrankungen wie depressiven oder bipolaren Störungen und Schizophrenie oder Entwicklungsstörungen wie Autismus zeigen. Um in ein aus derart ineinander übergehenden Appartements bestehendes Theoriegebäude überhaupt tragfähige Balken einziehen zu können, müssen auch Sollberger und seine Kollegen ihren Fokus zunächst verengen. Unter den verschiedenen Teilgebieten der
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NACHGEFRAGT
PD Dr. med. Marc Sollberger Leitender Arzt Neurologie, Memory Clinic Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER Burgfelderstrasse 101 4055 Basel E-Mail: marc.sollberger@felixplatter.ch
Fünf Fragen an PD Dr. Marc Sollberger, Projektleiter der Basler TASIT-Studie
ARS MEDICI: Was ist soziale Kognition, und warum ist es sinnvoll, sie zu messen? Marc Sollberger: Im weitesten Sinne ist soziale Kognition die Fähigkeit von Menschen, Gefühlsausdrücke bei ihrem Gegenüber wahrzunehmen und einzuordnen, wobei man diverse Teilaspekte unterscheidet. So werden Störungen der sozialen Kognition gemäss DSM-5 etwa drei Hauptbereichen zugeteilt: Neben dem Erkennen der Emotionen können auch die sogenannte Perspektivenübernahme, also das Vermögen, sich in jemand anderes hineinzuversetzen, und das Verhalten betroffen sein. Es gibt bestimmte neurodegenerative Hirnerkrankungen, psychiatrische Störungen und Schädel-Hirn-Traumata, bei denen die soziale Kognition stärker als bei anderen Erkrankungsformen und Verletzungen beeinträchtigt ist, und die Betroffenen leiden mehr oder weniger stark darunter. Da man inzwischen zum einen die funktionalen Zuständigkeiten der einzelnen Hirnregionen recht gut kennt und zum anderen auch weiss, welche Krankheiten sich in welchen Bereichen des Gehirns zuerst manifestieren, kann die Untersuchung der sozialen Kognition wertvolle Hinweise zur Früherkennung und zur Differenzialdiagnose solcher Störungen geben. Bis anhin wird die soziale Kognition aber gar nicht untersucht, denn es existieren keine geeigneten Tests und somit keine vergleichbaren entsprechenden Messgrössen. Man muss sich daher in diesem Zusammenhang hauptsächlich auf Verhaltensbeobachtungen und Angehörigenbefragungen stützen.
Was ist die Motivation beziehungsweise das Ziel Ihres Projekts? Wir wollen ein praxistaugliches Instrument entwickeln, mit dem es möglich sein soll, Patienten zu untersuchen, die mit entsprechenden Auffälligkeiten etwa vom Hausarzt in eine neuropsychologische Fachklinik überwiesen werden mit der Frage, ob, und wenn ja, warum, bei ihnen eine neurologische Störung vorliegt. Und weiter soll der Test es ermöglichen zu prüfen, ob bestimmte Hirnregionen verändert sind,
um somit sowohl wertvolle diagnostische als auch therapeutische Hinweise zu erhalten.
Was wird Ihr Test hoffentlich einmal besser können als bereits etablierte? Das Tool, welches wir jetzt auf der Grundlage der im angelsächsischen Sprachraum bereits zur Untersuchung der sozialen Kognition eingesetzten umfangreichen Testbatterie entwickeln, wird als deutschsprachiges Instrument völlig neu sein. Dabei haben wir, ausgehend vom TASIT, jedoch nicht die gesamte Batterie übernommen, sondern durch gezielte Änderungen und Auswahl von Inhalten versucht, die Qualität und die klinische Praktikabilität des Tests zu verbessern. Denn das beste Instrument nützt nichts, wenn es sich in der Klinik aus Zeitgründen nicht einsetzen lässt. Mit unseremTool soll es künftig möglich werden, bestimmte Hirnregionen zu prüfen, welche bis anhin mit anderen Tests nicht erfasst werden.
Welche Patienten werden von Ihrem Test einmal profitieren können? Zum einen Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma, bei denen typischerweise mit temporobasalen und orbitofrontalen Regionen genau diejenigen Hirnbereiche betroffen sind, die für die Emotionserkennung zuständig sind. Bei ihnen kann man aus den Testergebnissen möglicherweise wertvolle Hinweise für die Angehörigen und das Pflegepersonal ableiten oder aber auch wichtige Erkenntnisse gewinnen, um eventuell therapeutisch beziehungsweise rehabilitativ gezielt gegensteuern zu können. Zum anderen wird es bei Patienten mit Auffälligkeiten im Bereich der sozialen Kognition vielleicht möglich, über die exaktere Erfassung der Defizite differenzialdiagnostisch Rückschlüsse auf die jeweils zugrunde liegende neurodegenerative oder psychiatrische Störung zu ziehen.
Wird auch der Hausarzt den BASIT nutzen können? Der BASIT wird nicht der Weisheit letzter Schluss sein, sondern ein erster wichtiger Schritt in Richtung einer möglichst realitätsnahen Erfassung von Kernaspekten der sozialen Kognition. Sein Einsatzgebiet werden aber hauptsächlich spezialisierte Fachkliniken beziehungsweise Memory Clinics sein, wo zahlreiche weitere ergänzende Untersuchungsmodalitäten bekannt und verfügbar sind. Bei isolierter Anwendung durch den Hausarzt, der ja gar nicht die Zeit haben dürfte, entsprechende Symptome umfassender abzuklären, wäre die Aussagekraft des BASIT letztlich wohl doch zu gering.
Das Interview führte Ralf Behrens.
sozialen Kognition beschränken sie sich dabei auf die Emotionserkennung und die sogenannte Theory of Mind, also die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, das heisst, sich in die Gefühlswelt von jemand anderem hineinversetzen zu können.
Vom TASIT zum BASIT
Als Basis ihres Projekts dient den Basler Neurowissenschaftlern der 2002 von McDonald et al. vorgestellte sogenannte TASIT (The Awareness of Social Inference Test), welcher zur Untersuchung von beeinträchtigter sozialer Kognition ursprünglich bei Patienten mit Schädel-Hirn-Traumata entwickelt und im angloamerikanischen Sprachraum zu diesem Zweck auch bereits erfolgreich eingesetzt wurde. So hat sich dieser Test als geeignet erwiesen, um in diesem Bereich Unter-
schiede zwischen Patientengruppen verlässlich herauszuarbeiten. Am Rheinknie will man nun etwas Vergleichbares für den deutschsprachigen Raum kreieren: einen Test, der straffer, kompakter und zugleich sensitiver und damit letztlich in der Praxis noch besser anwendbar ist. Kern sowohl des TASIT als auch seines nun in Basel entstehenden Ablegers (BASIT) sind kurze Filmsequenzen (Dauer: 30–45 s) – von professionellen Schauspielern in Szene gesetzte, mit diversen Emotionen aufgeladene zwischenmenschliche Situationen, wie sie sich auch im Alltag ereignen können. Aufgabe der in die Entwicklungsphase des Projekts involvierten zahlreichen gesunden Probanden (n = 240, m/w, Alter 35 bis > 80 Jahre) wie auch der späterhin zu untersuchenden Patienten ist es, die mimisch, gestisch und stimmlich zum Ausdruck gebrachten Emotionen zu erkennen und verschiedene Fragen dazu zu be-
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antworten. Ausserdem plant das Team um Sollberger, diverse fotografische Darstellungen von Gesichtern in die Testbatterie einzubauen, welche ihrerseits verschiedene typische Gefühlsregungen ausdrücken.
Filmsequenzen mit emotionalen Inhalten unterschiedlicher Intensitäten
Damit sein Test in der klinischen Routine irgendwann einmal die emotionale kognitive Performance der untersuchten Patienten möglichst noch empfindlicher erfassen und differenzieren kann als der TASIT, hat sich Sollberger einen speziellen Kniff ausgedacht: Für jede zu testende Emotion wurden drei verschiedene filmische Sequenzen gedreht, in denen die betreffende Gefühlsregung jeweils mit unterschiedlicher Intensität (schwach, mittel, stark) dargestellt wird. Anhand der Testergebnisse der Probanden, welche jeweils randomisiert nur eine einzige Sequenz vorgespielt bekamen, erfolgten dann eine statistische Auswertung und eine Normalisierung der Sequenzen, deren Zweck es war, genau diejenigen Intensitäten herauszufiltern, die für die meisten der gesunden Testpersonen noch eindeutig der jeweiligen Emotion zuordbar waren. Der TASIT arbeitet dagegen eher mit hohen Intensitäten, die dadurch aber vielleicht für die Patienten zu einfach zu erkennen sind. Den bereits bei Gesunden bestehenden individuellen Unterschieden im Bereich der Emotionserkennung versuchten Sollberger und seine Kollegen durch zusätzliche Untersuchungen der rekrutierten Probanden hinsichtlich ihrer Persönlichkeitsstruktur, möglicherweise vorliegender kognitiver beziehungsweise depressiver Störungen oder auch autistischer Züge zu begegnen. Diese und andere mögliche Einflussgrössen oder -faktoren wie auch Alter und Geschlecht wurden in die Analyse und die Validierung der Testresultate eingerechnet. Aufgrund der sozusagen schwellennahen Präsentation der Gefühlsäusserungen glauben die Basler Forscher, dass mit ihrem Test eine schärfere Differenzierung sowohl zwischen diversen neurodegenerativen Erkrankungen oder Hirnverletzungen als auch zwischen verschiedenen Schweregraden einer vorliegenden emotional-kognitiven Beeinträchtigung möglich wird. Ein Problem vieler bis anhin zur Untersuchung
kognitiver Leistungen verfügbarer Tests besteht darin, dass sie mit ihrer Komplexität zwar häufig recht valide sind, aber in der klinischen Praxis aufgrund von Zeitmangel zu selten eingesetzt werden. Indem der BASIT bewusst eher kurz gehalten sein wird (nur wenige Sequenzen bzw. Bilder; Dauer: insgesamt 10–15 min), soll er diesem Dilemma Abhilfe schaffen. Sollberger erwartet aufgrund der im Test präsentierten relativ unterhaltsamen Inhalte zudem eine hohe Akzeptanz bei den Patienten.
Von Probanden zu Patienten
Bis es so weit ist, stehen den Schweizer Forschern nach den inzwischen nahezu abgeschlossenen Phasen der Entwicklung und der Kalibrierung der Testinhalte nun noch umfangreiche Probedurchläufe mit Patienten ins Haus, um die Praxistauglichkeit ihrer Idee zu bestätigen. Anwender des fertigen BASIT werden laut Sollberger dann sicher hauptsächlich neurologische Kliniken oder spezialisierte Memory Clinics sein, wo die entsprechende Expertise und vielfältige Möglichkeiten bestehen, Hirnverletzte, Patienten mit bereits diagnostizierten neurodegenerativen Erkrankungen, nach Schlaganfall oder aber solche, die etwa durch den Hausarzt mit Verdacht auf neuropsychologische Defizite ambulant zugewiesen wurden, kurz, aber dennoch umfassend abzuklären. Der BASIT, so die Hoffnung und zugleich Überzeugung der Basler Forscher, wird hinsichtlich einer verbesserten Diagnostik wie auch Therapie dieser Menschen einen wichtigen, aber keinesfalls allein erschöpfenden Beitrag leisten und im Kontext mit den Erkenntnissen aus anderen, bereits etablierten kognitiven Testbatterien erst sein ganzes Potenzial entfalten. s
Ralf Behrens
Literatur: McDonald S et al.: New frontiers in neuropsychological assessment: assessing social perception using a standardised instrument, The Awareness of Social Inference Test. Aust Psychol 2012; 47: 39–48. Henry JD et al.: Clinical assessment of social cognitive function in neurological disorders. Nat Rev Neurol 2016; 12(1): 28–39. The German Version of the Awareness of Social Inference Test. https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT03450356
SWISSMEDIC NEWS
Zulassung neuer Wirkstoffe
Emgality® 120 mg Injektionslösung im Fertigpen (Galcanezumab) Indikation: Prophylaktische Behandlung der Migräne bei Erwachsenen, sofern diese indiziert ist.
Spherox® 10 bis 70 Sphäroide/cm2 Suspension zur Implantation
(Sphäroide aus humanen autologen matrix-assoziierten Chondrozyten), Spritze
Indikation: Reparatur symptomatischer Gelenkknorpeldefekte der Femurkondyle und der Patella des Knies-(ICRS-[International
Cartilage Regeneration & Joint Preservation Society-]Grad III oder IV) mit Defektgrössen von 2 cm2 bis zu 10 cm2 bei Erwachsenen,
die nur inadäquat auf konservative (nicht operative) Behandlungsmethoden angesprochen haben.
red s
Quelle: Swissmedic Journal 3/19, www.swissmedic.ch
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