Transkript
STUDIE REFERIERT
Medikamente gegen Angststörungen
Welche Mittel sind effektiv und verträglich?
Um bei Patienten mit generalisierten Angststörungen die Symptome möglichst rasch in den Griff zu bekommen, wird häufig eine Erstlinientherapie mit Psychopharmaka begonnen – und nicht selten aufgrund von ausbleibendem Erfolg oder von Nebenwirkungen wieder abgebrochen. Eine aktuelle Metaanalyse hat die Wirksamkeit und Tolerabilität der verfügbaren Medikamente jetzt genauer unter die Lupe genommen.
Lancet
Generalisierte Angststörungen (GAS) zählen mit einer geschätzten Lebenszeitprävalenz von etwa 5,7 Prozent zu den häufigen Erkrankungen. Sie bleiben aber nicht selten undiagnostiziert, da die exzessive anhaltende Beunruhigung als Schlüsselsymptom entweder von Klinikern nicht entsprechend wahrgenommen oder aber von den Patienten nicht thematisiert wird. Zudem lenken die mit einer GAS einhergehenden körperlichen Symptome wie Kopfschmerz oder gastrointestinale Beschwerden das ärztliche Augenmerk häufig zunächst auf die Suche nach einer vermeintlich naheliegenden robusten medizinischen Ursache. Ist die Diagnose einer GAS tatsächlich gestellt, werden als erste Erfolg versprechende therapeutische Massnahme meist Psychopharmaka verschrieben. Allerdings haben Untersuchungen gezeigt, dass die Ansprechraten auf selektive Serotonin- (SSRI) beziehungsweise Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) bestenfalls zwischen 60 und 75 Prozent liegen. Gemäss einer Analyse der Daten eines britischen Registers mit knapp 30 000 von GAS Betroffenen bricht nahezu die Hälfte der Patienten nach durchschnittlich 3,7 Monaten eine medikamentöse Behandlung mit SSRI, trizyklischen Antidepressiva oder verwandten Wirkstoffen ab. Die Gründe dafür sind auch in den etwa mit herkömmlichen SSRI und SNRI häufig assoziierten Nebenwirkungen zu suchen, welche sexuelle Funktionsstörungen, Gewichtszunahme und Schlafprobleme umfassen. Neuere Substanzen wie der Serotoninmodulator/-stimulator Vortioxetin, das melatonerge Antidepressivum Agomelatin oder das serotonerge Antidepressivum Vilazodon zeigen diesbezüglich günstigere Eigenschaften.
Bis anhin grösste Vergleichsstudie
Trotz der Fülle der bestehenden Behandlungsoptionen ist das aus Studien verfügbare Wissen zur vergleichenden Wirksamkeit und Tolerabilität der einzelnen bei GAS infrage kommenden Substanzen gering. Eine britische Arbeitsgruppe hat nun den bis anhin wohl umfassendsten systematischen Literaturreview mit Metaanalyse zum Vergleich der derzeit für die Behandlung von GAS verfügbaren Medikamente vorgelegt. Insgesamt 89 im Zeitraum zwischen Januar 1998 und August 2016 publizierte randomisierte Studien mit 25 441 Patienten, die 22 verschiedenen aktiven Substanzen oder Plazebo zugewiesen worden waren, wurden in die Netzwerkanalyse eingeschlossen. Als primäre Endpunkte wurden die Effektivität, gemessen als durchschnittliche Veränderung (mean difference, MD) des Scores der HAM-A (Hamilton Anxiety Scale), und die Tolerabilität (Studienabbruch jedweder Ursache) der jeweiligen Substanzen definiert. Bei der Auswertung der Daten ergab sich jeweils für Duloxetin (MD: –3,13; 95%-Konfidenzintervall [KI]: –4,13 bis –2,13), Pregabalin (MD: –2,79; 95%-KI: –3,69 bis –1,91), Venlafaxin (MD: –2,69; 95%-KI: –3,50 bis –1,89) und Escitalopram (MD: –2,45; 95%KI: –3,27 bis –1,63) eine im Vergleich zu Plazebo höhere Wirksamkeit bei relativ guter Tolerabilität. Der stärkste Effekt auf den HAM-A-Score war unter Quetiapin (MD: –3,60; 95%-KI: –4,83 bis –2,39) zu beobachten, allerdings wurde dieser Wirkstoff von den Patienten gegenüber Plazebo nur sehr schlecht toleriert (Odds Ratio [OR]: 1,44; 95%-KI: 1,16–1,80). Mit Paroxetin und Benzodiazepinen ergaben
sich ebenfalls höhere Abbruchraten im Vergleich zu Plazebo. Mirtazepin, Sertralin, Fluoxetin und Buspiron konnten zwar ihre Wirksamkeit und gute Verträglichkeit nachweisen, jedoch ist die Aussagekraft dieser Resultate aufgrund der kleinen Stichproben begrenzt. Von den neueren Substanzen liess sich lediglich für Agomelatin eine im Vergleich mit Plazebo stärkere Wirksamkeit nachweisen, während Vilazadon sehr schlecht toleriert wurde. Im direkten Vergleich aktiver Substanzen zeigte sich unter Quetiapin, Duloxetin und Bupropion jeweils eine stärkere Reduktion der Angstsymptomatik als unter Tiagabin und für Quetiapin eine deutlichere Verbesserung als unter Vortioxetin (jeweils > 0,5 Punkte im HAM-AScore).
Medikamente individuell auswählen
Unter dem Strich zeigen die Ergebnisse
der Metaanalyse, dass zur Behandlung
von GAS eine Reihe brauchbarer Sub-
stanzen mit unterschiedlichen Wirk-
samkeits- und Tolerabilitätsprofilen zur
Verfügung steht, deren Auswahl indi-
viduell angepasst werden sollte. Das
Versagen einer medikamentösen Erst-
therapie sollte daher keinen Grund für
ein generelles Abrücken von einer phar-
makologischen Behandlungsstrategie
darstellen.
RABE s
Slee A et al.: Pharmacological treatments for generalised anxiety disorder: a systematic review and network meta-analysis. Lancet 2019; 393(10173): 768–777.
Interessenlage: Ein Teil der Autoren der referierten Metaanalyse deklariert finanzielle Beziehungen zu diversen Pharmafirmen.
382
ARS MEDICI 10 | 2019