Transkript
FORTBILDUNG
Prädiabetes und Polyneuropathie
Ein unterschätztes Problem
Eine Patientin berichtet in der hausärztlichen Sprechstunde über ein unangenehmes Brennen in den Füssen und Unterschenkeln beim Einschlafen, was an die Symptome einer distal-symmetrischen Polyneuropathie erinnert. Im Labor zeigt sich ein HbA1c von 5,9 Prozent (Norm: < 5,7%). Formal entspricht dieser Wert einer prädiabetischen Stoffwechsellage. Das hat für diese Patientin sowie generell in der hausärztlichen Praxis weitreichende Konsequenzen, auf die wir hier in dieser Übersichtsarbeit aus neurologischer Perspektive eingehen. Daniel Eschle Typische Symptome einer distal-symmetrischen Polyneuropathie (PNP) sind nächtlich betonte Missempfindungen mit strumpfförmiger Verteilung in Kombination mit abgeschwächten Achillessehnenreflexen sowie einem reduzierten Vibrationssinn an den Grosszehen, der mit der Rydel-SeifferStimmgabel gemessen wird (1) (Abbildung 1 und 2). Wenn die Symptome sicher seit mehr als acht Wochen stabil sind und nicht mit einem alltagsrelevanten motorischen Defizit einhergehen, liegen keine Red flags vor, und weitere Abklärungen ohne neurologisches Konsil sind im ambulanten Setting möglich. Es herrscht aber eine gewisse Uneinigkeit unter Neurologen, ob nicht doch alle Personen mit PNP-Verdacht mittels Messung der Nervenleitgeschwindigkeiten abgeklärt werden sollten (2). In Tabelle 1 sind einige Red flags aufgeführt, die anerkanntermassen einer neurologischen Abklärung bedürfen. MERKSÄTZE Sowohl Typ-2-Diabetes mellitus als auch Prädiabetes sind relevante Risikofaktoren für die Entwicklung einer distalsymmetrischen Polyneuropathie (PNP), die mit quälenden Schmerzen sowie einem erhöhten Ulkus- und Amputationsrisiko einhergehen kann. Eine einmal etablierte PNP ist meist nicht mehr reversibel. Diabetesleitlinien schweigen mehrheitlich, wenn es um das weitere Prozedere geht bei einer PNP, die «nur» auf einem Prädiabetes beruht. Da es sich um eine typische mikrovaskuläre Komplikation handelt, sollten aber alle Massnahmen, wie sie für «volle» Diabetiker empfohlen werden, zur Anwendung kommen. Prädiabetes ist nicht trivial, da zum Beispiel auch von einer erhöhten kardiovaskulären Morbidität und Mortalität auszugehen ist. Ätiologische Abklärungen bei einer PNP Es gibt sicher etwa hundert Ursachen für eine PNP. Konzentrieren Sie sich zunächst auf das Häufige bei der PNP-Abklärung, und gehen Sie kostenbewusst vor (Tabelle 1). Neben genetischen PNP-Formen, bei denen eher motorische und weniger sensible Symptome dominieren, sollten Sie ätiologisch zuerst an MINI denken (3). MINI steht für medikamentöstoxische oder metabolische, immunologische, neoplastische und infektiöse Ursachen (Tabelle 2). Bei unserer Patientin waren keine Medikamente im Spiel, die ein früheres oder ein zukünftiges PNP-Risiko bergen. Gemäss der einschlägigen Literatur wurde ein Laborscreening zur Suche der häufigsten PNP-Risikofaktoren durchgeführt. Auffällig war letztlich nur das leicht erhöhte HbA1c von 5,9 Prozent (Norm: < 5,7%). Formal entspricht dieser Wert einer prädiabetischen Stoffwechsellage, siehe Tabelle 3. Ist das hier relevant? Was ist Prädiabetes? Die eigentliche «Zuckerkrankheit» betrifft etwa 5 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz (4). Bei ≥ 90 Prozent der Fälle handelt es sich um einen Typ-2-Diabetes mellitus (DM-2), der sich mit einer zunehmenden Insulinresistenz über viele Jahre hinweg schleichend anbahnt (5). Aufgrund dieser Pathophysiologie wurde ein prädiabetisches Zwischenstadium definiert, das mit einem erhöhten Risiko für einen späteren DM-2 samt Komplikationen einhergeht. Aufgrund seiner komplett anderen Pathophysiologie ist ein «Prädiabetes» beim Typ-1-Diabetes mellitus kein Thema. Es gibt mehrere Parameter, die im Labor auf die Kategorie «Prädiabetes» hinweisen: 1. erhöhte Nüchternglukose; 2. erhöhtes HbA1c und/oder 3. ein auffälliger 2-h-OGGT (oraler Glukosetoleranztest) (6, 7). Diese unterscheiden sich nicht nur bezüglich Aufwand bei der Bestimmung, sondern sind auch bezüglich Sensitivität sowie Spezifität verschieden und identifizieren unterschiedliche Patientengruppen (8). Zudem verwendet nicht jede 208 ARS MEDICI 6 | 2019 FORTBILDUNG Abbildung 1: Stimmgabel nach Rydel-Seiffer zur Quantifizierung des Vibrationssinns (Pallästhesie) in Achtelschritten. (Foto: Deutsche Gesellschaft für Neurologie DGN). Fachgesellschaft die gleichen Grenzwerte für den noch normalen HbA1c-Wert und die Nüchternglukose. Vor diesem Hintergrund kann die Zahl der als «prädiabetisch» eingestuften Personen von Studie zu Studie erheblich variieren. Welchen «cut-off» verwendet Ihre Laborsoftware? Pathologische Werte für HbA1c, Nüchternglukose, Spontanglukose oder 2-h-OGTT sollten idealerweise durch einen zweiten Parameter bestätigt oder ergänzt werden. Bei einem HbA1c von 5,9 Prozent (wie in der Fallvignette) braucht es einen 2-h-OGTT als Bestätigungstest aus verschiedenen Gründen. Einerseits ist bei der HbA1c-Bestimmung eine Abweichung von ± 6 Prozent erlaubt, sodass der «wahre» HbA1c-Wert im Bereich von 5,5 bis 6,3 Prozent liegen könnte und somit unter Umständen noch normal wäre. Andererseits gibt es mit zunehmendem Alter eine Tendenz zu höheren Vibrationssinn (in 1/8-Schritten) +,-./0.12" '345,6,2." *" *" Abbildung 2: Physiologische Abnahme der Vibrations)" )" empfindung (Pallästhesie) im Alter, gemessen an der (" (" Grosszehe mit der Stimmgabel nach Rydel-Seiffer, die in '" '" Achtelschritten misst. Die Gerade errechnet sich mittels der Formel aus der Standardpublikation zu diesem &" &" Thema (1): Ein übermässig reduzierter Vibrationssinn %" %" geht mit einem erhöhten Ulkus- und Amputationsrisiko $" $" einher. #" #" !" !" $!" %!" &!" '!" (!" )!" *!" Alter (in Jahren) Tabelle 1: Anamnese, Klinik und Labor bei Polyneuropathie (PNP) Anamnese («symptoms»): meist bilateral strumpfförmige Missempfindungen an den Füssen bis in die Unterschenkel mit Charakterisierung als Brennen, Taubheit oder Ameisenlaufen mit nächtlicher Betonung und teilweise mit Schlafstörungen. Wichtig: Nicht alle PNP sind tatsächlich symptomatisch, was sie nicht weniger problematisch macht im Hinblick auf das Ulkus- und Amputationsrisiko. Klinik («signs»): typischerweise abgeschwächte Achillessehnenreflexe mit herabgesetztem Vibrationssinn (Stimmgabel auf der Grosszehe), herabgesetzter Berührungsempfindung (Wattebausch), Thermhypästhesie (kühles Metall nicht erkannt), Hypalgesie (Zahnstocher), fehlerhaftem Lagesinn der Grosszehen und/oder fehlender Druckempfindung eines 10-g-Monofilaments an ≥ 1 Stelle. Monofilamenttest: auf nicht verhornter Haut plantar an der Grosszehe sowie auf Höhe der Metatarsalköpfchen I und III und V applizieren («protektive» Sensibilität). Labor zum Ausschluss anderer häufiger PNP-Ursachen nebst einer (prä-)diabetischen Stoffwechsellage: Blutbild, Kreatinin, BSG, TSH, Vitamin B12, Folsäure, Alanin-Aminotransferase (ALAT), Gamma-GT und Immunfixation. Überweisung an Neurologen sinnvoll bei zusätzlichen zentralen Zeichen, Erstmanifestation an den Händen sowie bei sich rapid entwickelnder (< 8 Wochen), potenziell paraproteinämischer, einer polytopen oder asymmetrischen, einer dominant motorischen, einer ätiologisch unklaren PNP und/oder bei Verdacht auf eine genetisch determinierte (hereditäre) PNP. Quelle: 20 HbA1c-Werten, ohne dass automatisch eine Glukosestoffwechselstörung dahintersteckt (9). Gefährdete Patienten noch früher erfassen ... Es gibt eine Gruppe von Diabetologen, die dafür plädieren, dass potenziell diabetesgefährdete Patienten mit einer Variante des oralen Glukosetoleranztests noch früher erfasst werden sollen, bei der nicht nur der Blutzucker nach 2 Stunden (2-h-OGTT), sondern auch der Wert nach 1 Stunde (1-hOGTT) gemessen wird (10). Aus verschiedenen Verlaufsbeobachtungen ist bekannt, dass ein Glukosewert ≥ 8,6 mmol/l im 1-h-OGTT mehr Personen erfasst, die später einen DM-2 (samt Komplikationen) entwickeln. Andere Glukoseparameter wie beispielsweise das HbA1c sind nicht gleichermassen sensitiv. ... und behandeln? Beim DM-2 verursachen vor allem die makro- und mikrovaskulären Komplikationen immense persönliche und ökonomische Kosten. Daher stellt sich die Frage, ob nicht verschiedene Lifestyle- oder medikamentöse Interventionen angeboten werden könnten, um die Entwicklung vom Prädiabetes zum vollen DM-2 (mit seinen Komplikationen) zu verhindern. Die Antwort lautet theoretisch ja, wie in Studien nachgewiesen werden konnte (11). Dabei erwiesen sich LifestyleModifikationen als noch wirksamer als eine Therapie mit Metformin (im Vergleich zur Kontrollgruppe). In der Praxis erwies sich aber die Adhärenz bei lifestylemodifizierenden Massnahmen als besonders hohe Hürde (12). Überdies gibt ARS MEDICI 6 | 2019 209 FORTBILDUNG Tabelle 2: Häufige Ursachen einer Polyneuropathie (PNP) gemäss MINI Metabolische sowie medikamentös-toxische Faktoren L Als die häufigste PNP-Ursache ist der Diabetes mellitus anzusehen, insbesondere der Typ 2. Auch dessen Vorstufen können bereits zu einer PNP führen! L Daneben ist übermässiger Alkoholkonsum häufig sowie ein Mangel an Vitamin B12. L Auch an Malnutrition denken, zum Beispiel bei entzündlichen Darmerkrankungen, unbehandelter Zöliakie oder nach bariatrischen Eingriffen. L Medikamente mit PNP-Risiko sind unter anderem Amiodaron, Bortezomib, Colchicin, gewisse HIV-Medikamente, Isoniazid, Leflunomid, Metronidazol, Phenytoin, Platinpräparate, Taxane, Thalidomid oder Vincristin. Immunologische Faktoren L In diese Kategorie gehören die «akute» PNP in Form eines Guillain- Barré-Syndroms (GBS), die chronische inflammatorische demyelinisierende PNP (CIDP) oder die seltene multifokale motorische Neuropathie (MMN). Neoplastische Ursachen L Paraproteine – meist handelt es sich um eine monoklonale Gammo- pathie unklarer Signifikanz (MGUS) – können mit einer PNP assoziiert sein (müssen aber nicht). L Eindeutig ist die Situation lediglich bei Nachweis eines IgM-Paraproteins. L Es ist etwas akademisch, ob man gemäss der MINI-Einteilung die paraproteinämischen PNP zur Kategorie «neoplastisch» oder «immunologisch» zählt. Infektiöse Ursachen L Weltweit ist Lepra eine wichtige PNP-Ursache. Ansonsten kommt es teilweise zu einer PNP bei HIV-Infektionen, chronischen viralen Hepatitiden sowie Infektionen mit dem West-Nil- oder Zika-Virus. Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ausgeklammert sind hier unter anderem die genetischen PNP-Formen, bei denen eher motorische und weniger sensible Symptome dominieren. Quelle: (3). es wirtschaftliche Bedenken, alle Prädiabetiker zu behandeln (13). Über den Daumen gepeilt könnte etwa ein Drittel aller Erwachsenen als Prädiabetiker eingestuft werden (14). Ferner beträgt das Lebenszeitrisiko für eine 45-jährige prädiabetische Person (15), einen Diabetes zu entwickeln, fast 75 Prozent! Sollte eine so grosse Bevölkerungsgruppe demnach behandelt werden, oder soll man sich auf besonders vulnerable Gruppen beschränken? Als besonders vulnerabel gelten dabei unter anderem Patienten mit positiver Familienanamnese für DM-2, mit früherem Gestationsdiabetes, einer genetischen Diabetesveranlagung durch Herkunft (z.B. Asien, Lateinamerika), BMI ≥ 25 kg/m2 und/oder stark bauchbetonter Adipositas (16). Prädiabetes und PNP-Risiko Je mehr «HbA1c-Jahre» akkumuliert werden, desto grösser wird die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer PNP kommt, die nicht nur die Lebensqualität beeinträchtigen kann – wenn beispielsweise neuropathische Schmerzen vorliegen – sondern auch mit einem erhöhten Amputationsrisiko einhergeht (17). Die Assoziation zwischen DM-2 und PNP (diabetischer Neuropathie) ist schon lange bekannt, und eine PNP liegt oft bereits zum Zeitpunkt der Diabetesdiagnose vor. Mit zunehmender Dauer des DM-2 nimmt die PNP-Prävalenz zu: Partanen et al. fanden initial eine PNP-Prävalenz von 8,3 Prozent bei DM-2-Patienten und 2,1 Prozent bei den Kontrollen (18). 10 Jahre später waren es 41,9 respektive 5,8 Prozent. PNP-Screening auch bei bekanntem DM-2? Viele DM-2-Patienten wissen nicht, dass sie an einer PNP leiden (19). Die diabetische Neuropathie gehört zu den häufigsten PNP-Ursachen in unseren Breitengraden (20). Selbst bei einer «stummen» PNP ohne neuropathische Schmerzen ist die protektive Sensibilität herabgesetzt und das Risiko eines diabetischen Fussulkus erhöht (21). Aber DM-2-Betroffene können auch an anderen, nicht diabetischen Polyneuropathien erkranken, sodass das übliche PNP-Screening selbst bei bekannter DM-2-Diagnose noch sinnvoll ist (22). Häufiges Beispiel: Neuropathie infolge Vitamin-B12-Mangel unter Metformintherapie (23). Tabelle 3: Diagnose des Diabetes mellitus und seiner Vorstufen gemäss DDG HbA1c Nüchternglukose 2-h-OGTT normal < 5,7% < 5,6 mmol/l < 7,8 mmol/l Prädiabetes 5,7 bis < 6,5% 5,6–6,9 mmol/l 7,8–11,0 mmol/l Diabetes mellitus ≥ 6,5% ≥ 7,0 mmol/l ≥ 11,1 mmol/l Eine Spontanglukose ≥ 11,1 mmol/l ist ebenfalls ein Diabetesdiagnosekriterium. Pathologische Werte für HbA1c, Nüchternglukose, Spontanglukose oder 2-h-OGTT sollten idealerweise durch einen zweiten Parameter bestätigt oder ergänzt werden. 2-h-OGTT: 2-Stunden-Wert im oralen Glukosetoleranztest (Einnahme von 75 g Glukose nüchtern und Blutzuckermessung zum Zeitpunkt 0 sowie nach 2 Stunden). Alle Werte sollten venös gemessen werden. Im Klinik- und Praxisalltag erfolgt meist einfachheitshalber eine kapilläre Glukosemessung, was aufgrund der eingeschränkten Messpräzision formal nicht korrekt ist. Quelle: Normwerte der DDG (Deutsche Diabetes Gesellschaft) gemäss (6). Gleiche Normwerte in der Schweiz (Schweizerische Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie, SGED) (7). 210 ARS MEDICI 6 | 2019 FORTBILDUNG Es gibt gute epidemiologische Evidenz, dass bereits Diabetesvorstufen zu Komplikationen wie einer PNP führen können. Beispielsweise fand die US-amerikanische San Luis Valley Diabetes Study eine PNP-Prävalenz von 25,8 Prozent bei DM-2, von 11,2 Prozent bei Prädiabetikern und von 3,9 Prozent bei Euglykämie (24–26). In der älteren PNP-Literatur wurde empfohlen, einen DM-2 mittels Bestimmung der Nüchternglukose zu suchen. Die gezielte Abklärung von ätiologisch unklaren Fällen mittels 2-h-OGTT ergab dann eine relevante Assoziation zwischen einer PNP und Prädiabetes (27–29). Andere Studien konnten zudem eine erhöhte Mortalität sowie ein erhöhtes Herzinfarkt- und Hirnschlagrisiko bei Prädiabetikern nachweisen (30). Prädiabetes mit PNP: Wie weiter? Wir wissen seit Studien wie UKPDS (31) und Steno-2, dass eine gute Blutzuckerkontrolle und ein Massnahmenpaket zur Behandlung assoziierter Risikofaktoren zahlreiche mikround makrovaskuläre Komplikationen beim DM-2 (32), nicht aber die diabetische Polyneuropathie (33) verhindern. Das wurde auch in einer Cochrane-Übersichtsarbeit bestätigt. Aufgrund seiner fundamental anderen Pathophysiologie ist es nur beim Typ-1-Diabetes mellitus zuverlässig möglich, die Entwicklung einer PNP durch eine gute Blutzuckereinstellung zu verhindern (34). Typischerweise ist eine diabetische PNP nicht mehr reversibel, bei anhaltend schlechter Blutzuckereinstellung kann sie dagegen schlimmer werden (17). Der Schluss liegt also nahe, dass bei einer prädiabetischen Stoffwechsellage mit typischer diabetischer Komplikation (PNP) deren Dynamik gebremst werden sollte, um weitere Komplikationen zu vermeiden. Aber: Die hier genannte Konstellation – PNP bei Prädiabetes – wird in den einschlägigen Diabetesleitlinien aus verschiedenen Ländern gar nicht oder nur am Rand abgebildet. Diabetesleitlinien fokussieren primär auf die Verhinderung eines eigentlichen DM-2 mit zukünftigen Komplikationen (35). Lediglich die Deutsche Diabetes Gesellschaft schreibt in ihren Praxisempfehlungen (6), dass Personen mit einer prädiabetischen Stoffwechsellage über ihr Diabetesrisiko aufgeklärt werden sollen, Lebensstilinterventionen und eine Behandlung von Risikofaktoren erhalten sollten sowie eine erneute Risikobestimmung nach spätestens einem Jahr respektive zeitnah bei vaskulären/neurologischen Komplikationen. Auch wenn die Leitlinien hier (mehrheitlich) schweigen, sollten solche Fälle genauso ernst genommen werden wie eine formale DM-2-Diagnose – wenn Komplikationen wie eine PNP vorliegen. Betreuung betroffener Patienten Das Betreuungspaket umfasst rein glukozentrische Massnahmen (z.B. Metformin), aber auch die Kontrolle/Therapie einer allfälligen Hypertonie und Hyperlipidämie sowie Lifestyle-Massnahmen wie beispielsweise regelmässige körperliche Aktivität und Verzicht auf Rauchen (36). Zudem gehören die üblichen flankierenden Massnahmen bezüglich Nephropathie (37), Retinopathie (38) und PNP (z.B. gute Fusspflege) dazu (39). Wie auch für die diabetische PNP gibt es für die prädiabetische Form keine kausale Behandlung: Ist die PNP einmal etabliert, kann sie nicht mehr rückgängig gemacht werden (17). Selbst eine sehr gute Blutzuckereinstellung hilft nicht! Auch die prominent publizierte «Impaired Glucose Tolerance Neuropathy Study» konnte keine überzeugende Evidenz liefern (40), dass eine prädiabetische PNP reversibel ist, trotz der anderslautenden Einschätzung der Autoren. Quintessenz ist, dass statistische Signifikanz in Studien nicht automatisch klinische Relevanz im Alltag bedeutet. Es kann lediglich bei Bedarf eine symptomatische Therapie mit Antikonvulsiva oder Antidepressiva sowie (in einigen Ländern) mit Alpha-Liponsäure angeboten werden (20). L Dr. med. Daniel Eschle Leitender Arzt für Neurologie Kantonsspital Uri Spitalstrasse 1 6460 Altdorf E-Mail: daniel.eschle@ksuri.ch Interessenkonflikte: Es bestehen im Zusammenhang mit diesem Manuskript keine Interessenkonflikte. Literatur unter www.arsmedici.ch ARS MEDICI 6 | 2019 211 FORTBILDUNG Referenzen: 1. Martina IS et al.: Measuring vibration threshold with a graduated tuning fork in normal aging and in patients with polyneuropathy. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1998; 65: 743–747. 2. Callaghan BC et al.: Electrodiagnostic tests are unlikely to change management in those with a known cause of typical distal-symmetric polyneuropathy. Muscle Nerve 2017; 56: E25. 3. Mauermann ML et al.: The evaluation of chronic axonal polyneuropathies. Semin Neurol 2008; 28: 133–151. 4. Daten aus der Schweiz: https://www.obsan.admin.ch/de/indikatoren/diabetes-mellitus (last accessed 05.01.2019). Bei den 5% handelt es sich um eine durchschnittliche Prävalenz. Aufgeschlüsselt nach Alter gibt es beträchtliche Unterschiede, z.B. <2,5% im Alter von <50 versus mehr als 10% ab 65jährig. In Deutschland beträgt die Diabetesprävalenz sogar 10% (Goffrier B et al. Administrative Prävalenzen und Inzidenzen des Diabetes mellitus von 2009 bis 2015. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland. Versorgungsatlas-Bericht Nr. 17/03. Berlin 2017). http://www.versorgungsatlas.de/themen/alle-analysen-nach-datumsortiert/?tab=6&uid=79. Letzter Zugriff 05.01.2019. 5. Tabak AG et al.: Prediabetes: A high-risk state for developing diabetes. Lancet 2012; 379: 2279–2290. 6. Nauck M et al.: Definition, Klassifikation und Diagnostik des Diabetes mellitus. Diabetologie 2018; 13(S2): S90–S96. 7. Schweizerische Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie: Messung des HbA1c zur Diagnose des Diabetes mellitus –Stellungnahme der SGED/SSED (http://www.sgedssed.ch/fileadmin/files/6_empfehlungen_ fachpersonen/63_praxis-empfehlungen/Position-SGED_Diagnose-mitHbA1c_2011_DE.pdf. Letzter Zugriff: 20.1.2019). 8. Barry E et al.: Efficacy and effectiveness of screen and treat policies in prevention of type 2 diabetes: systematic review and meta-analysis of screening tests and interventions. BMJ 2017; 356: i6538. 9. Landgraf R et al.: Fallstricke bei der Diabetesdiagnose: Wird zu lax mit Laborwerten umgegangen? Dtsch Med Wochenschr 2018; 143: 1549–1555. 10. Bergmann M et al.: Petition to replace current OGTT criteria for diagnosing prediabetes with the 1-hour post-load plasma glucose ≥155 mg/dl (8.6 mmol/l). Diabetes Res Clin Pract 2018; 146: 18–33. 11. Diabetes Prevention Program Research Group: Long-term effects of lifestyle intervention or metformin on diabetes development and microvascular complications over 15-year follow-up: the Diabetes Prevention Program Outcome Study. Lancet Diabetes Endocrinol 2015; 3: 866–875. 12. Cefalu WT: «Prediabetes»: Are there problems with this label? No, we need heightened awareness of this condition! Diabetes Care 2016; 39: 1472–1477. 13. Yudkin JS: «Prediabetes»: Are there problems with this label? Yes, the label creates further problems! Diabetes Care 2016; 39: 1468–1471. 14. Mainous AG et al.: Prevalence of prediabetes in England from 2003 to 2011: population-based cross-sectional study. BMJ Open 2014; 4: e005002. 15. Ligthart S et al.: Lifetime risk of developing impaired glucose metabolism and eventual progression from prediabetes to type 2 diabetes: a prospective cohort study. Lancet Diabetes Endocrinol 2016; 4: 44–51. 16. American Diabetes Association: Classification and Diagnosis of Diabetes: Standards of Medical Care in Diabetes – 2019. Diabetes Care 2019; 42(Suppl 1): S13–S28. 17. Pop-Busui R, et al.: Diabetic Neuropathy: a position statement by the American Diabetes Association. Diabetes Care 2017; 40: 136–154. 18. Partanen J et al.: Natural history of peripheral neuropathy in patients with non-insulin-dependent diabetes melltus. N Engl J Med 1995; 333: 89–94. 19. Bongaerts BW et al.: Older subjects with diabetes and prediabetes are frequently unaware of having distal sensorimotor polyneuropathy: the KORA F4 study. Diabetes Care 2013; 36: 1141–1146. 20. Ziegler D et al.: Diabetische Neuropathie. Diabetologie 2018; 13(Suppl 2): S230–S243. 21. Singh N et al.: Preventing foot ulcers in patients with diabetes. JAMA 2005; 293: 217–228. 22. Gorson KC et al.: Additional causes for distal sensory polyneuropathy in diabetic patients. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2006; 77: 354–358. 23. Aroda VR et al.: Long-term metformin use and vitamin B12 deficiency in the Diabetes Prevention Program Outcome Study. J Clin Endocrinol Metab 2016; 101: 1754–1761. 24. Franklin GM et al.: Sensory neuropathy in non-insulin-dependent diabetes mellitus. The San Luis Valley Diabetes Study. Am J Epidemiol 1990; 131: 633–643. 25. Bongaerts BW et al.: Postchallenge hyperglycemia is positively associated with diabetic polyneuropathy: the KORA F4 study. Diabetes Care 2012; 35: 1891–1893. 26. Lee CC et al.: Peripheral neuropathy and nerve dysfunction in individuals at high risk for type 2 diabetes: the PROMISE cohort. Diabetes Care 2015; 38: 793–800. 27. Singleton JR et al.: Painful sensory polyneuropathy associated with impaired glucose tolerance. Muscle Nerve 2001; 24: 1225–1228. 28. Sumner CJ et al.: The spectrum of neuropathy in diabetes and impaired glucose tolerance. Neurology 2003; 60: 108–111. 29. Hoffman-Snyder C et al.: Value of the oral glucose tolerance test in the evaluation of chronic idiopathic axonal polyneuropathy. Arch Neurol 2006; 63: 1075–1079. 30.Huang Y et al.: Association between prediabetes and risk of cardiovasculur disease and all cause mortality: systematic review and metaanalysis. BMJ 2016; 355: i5953. 31. American Diabetes Association. Implications of the United Kingdom Prospective Diabetes Study. Diabetes Care 2002; 25(Suppl 1): S28–S32. 32. Gæde P et al.: Years of life gained by multifactorial intervention in patients with type 2 diabetes mellitus and microalbuminuria: 21 years follow-up on the Steno-2 randomised trial. Diabetologia 2016; 59: 2298– 2307. 33. Zoungas S et al.: Effects of intensive glucose control on microvascular outcomes in patients with type 2 diabetes: a meta-analysis of individual participant data from randomised controlled trials. Lancet Diabetes Endocrinol 2017; 5: 431–437. 34. Callaghan BC et al.: Enhanced glucose control for preventing and treating diabetic neuropathy. Cochrane Database Syst Rev 2012; CD007543. 35. American Diabetes Association. Prevention or delay of type 2 diabetes: Standards of Medical Care in Diabetes – 2019. Diabetes Care 2019; 42(Suppl 1): S29–S33. 36. Landgraf R et al.: Therapie des Typ-2-Diabetes. Diabetologie 2018; 13 (Suppl 2): S144–S165. 37. Merker L et al.: Nephropathie bei Diabetes. Diabetologie 2018; 13 (Suppl 2): S217–S220. 38. Hammes HP et al.: Diabetische Retinopathie und Makulopathie. Diabetologie 2018; 13 (Suppl 2): S222–S229. 39. Morbach S et al.: Diabetisches Fusssyndrom. Diabetologie 2018; 13 (Suppl 2): S244–S252. 40.Smith AG et al.: Lifestyle intervention for pre-diabetic neuropathy. Diabetes Care 2006; 29: 1294–1299. ARS MEDICI 6 | 2019