Transkript
Neue psychoaktive Substanzen: Gefahr durch Designerdrogen
Problematischen Gebrauch erkennen – Risiken minimieren
FORTBILDUNG
Die Anzahl von zumeist über das Internet vermarkteten synthetischen Rauschdrogen und deren Konsum nehmen weltweit und auch in der Schweiz stetig zu. Die Wirkmechanismen und Effekte dieser Substanzen – und damit auch ihre Risiken – sind jedoch noch weitgehend unerforscht. Auch Ärzte sehen sich hierbei vermehrt einer Problematik gegenüber, die sie nicht ausreichend verstehen. Das «British Medical Journal» hat sich nun dieses Themas angenommen und im Rahmen seiner Reihe «Practice» in zwei kurzen Abhandlungen versucht, einerseits einen Überblick über die verschiedenen Substanztypen und ihre Wirkungen und andererseits praktische Hinweise zu geben, wie sich sowohl ein akuter als auch ein chronischer schädlicher Konsum erkennen und managen lassen.
British Medical Journal
Mit dem Sammelbegriff «neue psychoaktive Substanzen» (novel psychoactive substances, NPS) werden chemische Verbindungen zusammengefasst, die labortechnisch entsprechend designt werden, um Freizeitdrogen wie Cannabis oder 3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin (MDMA,
«Ecstasy») in ihrer Wirkung zu imitieren. Ursprünglich haben die Entwickler und Hersteller dieser Substanzen seinerzeit bestehende Gesetzeslücken ausgenutzt und durch geringfügige Änderungen der pharmakologischen Struktur bereits vorhandener Drogen versucht, neue «legale» Verbindungen zu kreieren. Dieses Vorgehen brachte den NPS auch die Bezeichnung «legal highs» ein. Inzwischen wurde die Gesetzeslage in vielen Ländern jedoch an diese Entwicklungen angepasst, sodass zumindest der Handel auch mit NPS jetzt nicht mehr straffrei ist.
Einteilung der NPS
Die Anzahl der derzeit im Umlauf befindlichen neuen psychoaktiven Substanzen ist schier unüberschaubar. Mehr als 560 dieser Stoffe stehen derzeit unter Beobachtung des European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction, und allein im Jahr 2015 sind rund 100 Substanzen neu hinzugekommen. Der Bezug dieser Drogen über das Internet sowie deren Konsum haben in der jüngeren Bevölkerung unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit oder der Nationalität in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Obwohl keine allgemein anerkannte Klassifizierung existiert, lassen sich NPS in vier teilweise überlappende Gruppen einteilen: O Stimulanzien O Cannabinoide O Halluzinogene O Sedativa
MERKSÄTZE
O Neue psychoaktive Substanzen (NPS) sind synthetische chemische Verbindungen, die in ihren Wirkungen herkömmliche Freizeitdrogen imitieren sollen.
O Die meisten Standard-Urintests besitzen nur begrenzte Sensitivität und Spezifität gegenüber NPS.
O Mediziner sollten mit NPS konsumierenden Patienten deren Risiken erörtern und sie zur Reduzierung von Frequenz und Menge des Drogengebrauchs motivieren.
O Ärzte sollten gefährdeten Personen gegebenenfalls auch eine Weiterweisung zu Suchtbehandlungszentren beziehungsweise zu anderen Spezialisten wie Psychologen/ Psychiatern, Sexualmedizinern oder zu sozialen Diensten anbieten.
Stimulanzien und synthetische Cannabinoide bilden dabei die deutliche Mehrzahl und werden auch klinisch am häufigsten angetroffen. Ärzte bekommen es hierbei sowohl mit nach Drogeneinnahme akut verwirrten oder sich unwohl fühlenden Patienten, mit solchen, die bereits Schäden oder Abhängigkeit im Zusammenhang mit chronischem NPSMissbrauch aufweisen, oder mit Individuen zu tun, die diese Substanzen versehentlich eingenommen haben und nun Psychoedukation und Monitoring benötigen. Der Informationsbedarf von medizinischem Fachpersonal hinsichtlich der im Zusammenhang mit der Einnahme von NPS bestehenden Risiken nimmt zu. Angehörige von Gesundheitsberufen berichten, sich im Umgang mit der NPS-Problematik weniger sicher zu fühlen als gegenüber herkömmlichen Rauschmitteln. Zudem existieren diesbezüglich bis anhin hauptsächlich Daten aus Fallberichten und Anwendungsbeobachtungen, und es gibt Hinweise, dass die mit dem Gebrauch der neuen Substanzen einhergehenden Risiken sich von den mit etablierten Freizeitdrogen assoziierten unterscheiden.
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FORTBILDUNG
Stimulanzien Stimulanzien werden für gewöhnlich als Pulver oder Pillen angeboten und sind strukturell verwandt mit MDMA, Kokain und Amphetaminen. Sie verändern die synaptischen Konzentrationen der Neurotransmitter Serotonin, Dopamin und/oder Noradrenalin und werden zum Zweck einer dadurch hervorgerufenen positiven, euphorischen Stimmungslage entweder geschluckt, inhaliert oder seltener auch injiziert oder rektal appliziert. Häufigster Vertreter ist Mephedron. Begleiterscheinungen können in Form von Agitiertheit, Angstzuständen, psychotischen Symptomen, Hypervigilanz, kardiovaskulärer Toxizität (Arrhythmien, Hypertonie) und Hyperthermie auftreten; ein Langzeitgebrauch kann in impulsivem Verhalten, Missbrauch und Abhängigkeit resultieren.
Cannabinoide NPS Die NPS-Varianten von Cannabis basieren auf synthetischen Cannabinoidrezeptoragonisten (SCRA), von denen mittlerweile mehr als 150 verschiedene verfügbar sind. Für gewöhnlich gelangen die Wirkstoffe auf Kräutermischungen aufgesprüht in den Handel, welche dann geraucht werden; auch flüssige Zubereitungen für elektronische Zigaretten und Zerstäuber sind erhältlich. Wie Cannabis können auch SCRA sowohl stimulierend als auch sedativ und sowohl angstlösend als auch -auslösend – bis hin zu Paranoia und psychotischen Symptomen – wirken. Im Gegensatz zu Cannabis wurden bei SCRA bisweilen Verwirrtheitszustände und kognitive Beeinträchtigungen wie auch schwere körperliche Schädigungen wie etwa Nierenversagen, Lungenschäden, Krampfanfälle, Herzinfarkt und Schlaganfall beobachtet. Im Langzeitgebrauch kann Cannabis mitunter Zeichen psychischer Abhängigkeit hervorrufen, ein körperliches Suchtpotenzial wird eher ausgeschlossen. Im Gegensatz dazu bestehen Hinweise, dass von SCRA eine sehr viel höhere Gefahr für Abhängigkeit und Entzugserscheinungen ausgeht.
Halluzinogene NPS Halluzinogene werden unterteilt in Dissoziativa (Körper und Geist trennend, häufigster Vertreter: Methoxetamin) und Psychedelika (klassische Halluzinogene; traditionell LSD und Psilocybin, als NPS-Varianten z.B. 5-MeO-DALT oder Vertreter der NBOMe- bzw. 2C-Serie). Insbesondere Erstere werden mit schädlichen Nebenwirkungen (akzidentelle Todesfälle aufgrund impulsiven und sorglosen Verhaltens; aggressive, psychotische, katatonische Zustände; akute Kleinhirntoxizität; kardiovaskuläre Störfälle; Nieren- und aktutes respiratorisches Versagen) in Verbindung gebracht. Im Langzeitgebrauch verursachen Dissoziativa häufig starkes Suchtverhalten und exzessiven Konsum und können neurokognitive Defizite und Stimmungsverschlechterung hervorrufen. Psychedelika haben dagegen im Allgemeinen ein eher gering ausgeprägtes Risikoprofil. NPS-Varianten wirken allerdings zusätzlich stimulierend, was mit den entsprechenden Gefahren einer akuten Toxizität einhergeht. Gesundheitsrisiken oder Abhängigkeiten im Langzeitgebrauch sind kaum belegt.
Sedative NPS Sedativa werden in Benzodiazepine und Opioide unterteilt, welche sich zwar hinsichtlich akuter notfallmässiger Symptomatiken ähneln, in ihren potenziellen Auswirkungen auf
die geistige Gesundheit allerdings unterscheiden. Unter den NPS gelten die in Pillen- oder Pulverform erhältlichen Sedativa hinsichtlich ihrer Wirkmechanismen und Effekte als am wenigsten gut verstanden, was auch der Tatsache geschuldet ist, dass sie den herkömmlichen Substanzen derart ähneln, dass Ärzte oft nicht bemerken, dass Individuen eine NPS-Variante konsumiert haben. In der akuten Situation können die NPSBenzodiazepine klinische Effekte hervorrufen, welche in ihren sedativen, angstlösenden, hypnotischen und antikonvulsiven Eigenschaften den herkömmlichen Wirkstoffen wie etwa Diazepam ähneln – mit dem Unterschied, dass die Wirkung der künstlichen Varianten häufig wesentlich länger andauert. Akuter Entzug kann in Krampfanfällen resultieren. Der Langzeitgebrauch wird mit den Risiken von Abhängigkeit und beeinträchtigter Kognition in Verbindung gebracht. Ähnlich wie bei herkömmlichen Opioiden scheint die euphorisierende Wirkung auch der NPS-Varianten (AH-7921, MT-45, neue Fentanyle) über präsynaptische µ-Opioid-Rezeptoren vermittelt zu sein. Zu speziellen Risiken von NPS-Opioiden sowohl im Akut- als auch im Langzeitgebrauch, welche sie von den etablierten Substanzen dieser Gruppe abheben würden, ist bis anhin nur wenig bekannt. Aber wie die NPSBenzodiazepine sollen auch die neuen Opioidvarianten nach Einnahme wesentlich länger wirken als ihre herkömmlichen Vorläufer. Es bestehen Hinweise aus Tierversuchen, dass die modernen Varianten hinsichtlich Suchtpotenzial und Entzugserscheinungen mit Morphium vergleichbar sind.
Wie lässt sich NPS-Gebrauch erkennen?
Bestehen Verdachtsmomente oder Hinweise auf allgemeinen Drogen- oder speziell NPS-Gebrauch, ist es für den Arzt wichtig, sich dem Patienten einfühlsam und unvoreingenommen zu nähern. Im Gespräch sollte ein von Empathie gekennzeichnetes Befragen im Vordergrund stehen, das die Betroffenen bei ihren Sorgen und Ängsten, auch hinsichtlich möglicher strafrechtlicher Konsequenzen im Zusammenhang mit ihrem Drogenkonsum, abholt und sie versichert, dass es darum geht, Hilfe anzubieten und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Zu einer ersten Beurteilung zählen auch eine Anamnese und eine Untersuchung sowohl des körperlichen als auch des geistigen Zustands (insbesondere Blutdruck, Herzfrequenz, Temperatur, Bewusstseinslage). Im Gespräch sollte auch versucht werden herauszufinden, welche Art Drogen oder NPS auf welche Weise und in welcher Frequenz konsumiert wurden und welche akuten oder chronischen Störungen dabei aufgetreten sind. Auch nach eventuellen sozialen oder umfeldbedingten Problemen, welche einen Substanzmissbrauch möglicherweise begünstigen oder aufrechterhalten, sollte gefahndet werden. Das britische National Drug Treatment Monitoring System hat eine Reihe spezifischer Faktoren identifiziert, welche bei Jugendlichen unter 18 Jahren mit einem länger andauernden, schädlichen Drogenkonsum assoziiert sind: O früher Beginn (< 15 J.) O Mischkonsum O antisoziales Verhalten O Beeinflussung durch Drogenkonsum anderer O häusliche Gewalt O Individuen mit Bedarf für einen oder unter einem behörd-
lichen Kinderschutzplan
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FORTBILDUNG
Kasten:
FRAMES-Modell der motivierenden Gesprächsführung zum Ansporn für die Auseinandersetzung und die Übernahme von Selbstverantwortung im Zusammenhang mit Drogengebrauch
Feedback (Rückmeldung) – Erörtern Sie, angepasst an die individuelle Situation, potenzielle negative Auswirkungen des Drogenkonsums, und hören Sie gut zu, was man Ihnen erzählt.
Responsibility (Verantwortung) – Betonen Sie, dass Ihr Gegenüber selbst entscheidet, ob eine Verhaltensänderung gewünscht wird.
Advice (Beratung) – Geben Sie eindeutige Ratschläge, wie der Drogenkonsum beeinflusst werden kann.
Menu (Menü) – Erläutern Sie, welche therapeutischen Optionen bestehen, und fördern Sie den Entscheidungsprozess.
Empathy (Empathie) – Bevorzugen Sie eine unvoreingenommene und mitfühlende Herangehensweise.
Self efficacy (Selbstwirksamkeit) – Geben Sie sich optimistisch, dass der Betroffene in der Lage ist, sein Leben zu verändern, wenn er es will.
Die meisten der verfügbaren Standard-Urintests besitzen anders als gegenüber etablierten Rauschdrogen wie Cannabis, Heroin oder Kokain nur eine sehr limitierte Sensitivität und Spezifität für NPS. Ebenso wenig existieren gut verbriefte Screeninginstrumente zum Nachweis eines problematischen NPS-Gebrauchs.
Benzodiazepine oder Opioide ein plötzliches Absetzen zu körperlichen Entzugssymptomen führen kann. Wo immer dies von Belang sein könnte, sollte auf die Gefährdung im Zusammenhang mit intravenöser Drogenapplikation und auf die Möglichkeiten der Inanspruchnahme von professionellen Hilfestellungen für Nadelwechsel und Injektion hingewiesen sowie eine Weiterweisung zu einem HIVoder Hepatitistest angeboten werden.
Wann weiterweisen?
Um die schädlichen Auswirkungen des Drogenmissbrauchs
für ein Individuum in ihrer gesamten Bandbreite erfassen zu
können, ist es erforderlich, die Bereiche, in denen sie mögli-
cherweise zum Tragen kommen, weiter zu fassen und dabei
den sozialen Kontext mit einzubeziehen. In bestimmten Fäl-
len können eine Beurteilung der Situation und gegebenenfalls
eine Betreuung von sowohl gefährdeten als auch ihrerseits ihr
Umfeld gefährdenden Betroffenen und ihrer Angehörigen
durch soziale Einrichtungen erforderlich sein. Sämtliche
im eigenen Tätigkeitsrahmen verfügbaren Hilfestellungen
sollten immer dort, wo dies von Nutzen sein kann, ebenso
angeboten werden wie auch eine Weiterweisung zu Sucht-
behandlungszentren oder zu anderen Spezialisten auf dem
gesamten Gebiet der Gesundheitspflege, inklusive des psy-
chiatrischen Bereichs. Im Vordergrund all dieser Bemühun-
gen sollte stets stehen, im Rahmen einer stärkenbasierten
Herangehensweise die für den Betroffenen positiven Fakto-
ren in dessen Umfeld und sozialen Beziehungen, aber auch
deren eigenen Wunsch und das Bemühen, ihrem Leben eine
Wendung zu geben, zu unterstreichen und somit deren posi-
tiven Einfluss zu verstärken.
O
Ralf Behrens
Motivation zur Verhaltensänderung abschätzen
Nicht jeder Konsument von NPS oder anderer etablierter Freizeitdrogen benötigt oder möchte professionelle Hilfe. Falls ein Patient jedoch von sich aus einen NPS-Gebrauch offenlegt, sollte dies zum Anlass genommen werden, darüber mit ihm ins Gespräch zu kommen und ihm Informationen und Ratschläge zu möglichen Risiken zu geben. Die zielorientierte Technik der motivierenden Gesprächsführung kann dabei hilfreich sein, bei Betroffenen das Interesse für eine Verhaltensänderung zu wecken und gegensätzliche Gefühle demgegenüber abzubauen. Statt eines frontalen Angriffs auf den Drogenkonsum mit der – zumindest in der Wahrnehmung des Betroffenen – im Vordergrund stehenden Botschaft, damit aufzuhören, zielt die motivierende Gesprächsführung darauf ab, beim Gegenüber den Blick für die eigenen Ziele und deren Planung zu schärfen. Als Beispiel für eine solche Herangehensweise kann die in zahlreichen Einrichtungen zur Drogenberatung fest etablierte FRAMESMethode (Kasten) erwähnt werden.
Quelle: Tracy DK et al.: Novel psychoactive substances: types, mechanisms of action, and effects. BMJ 2017; 356: i6848. Tracy DK et al.: Novel psychoactive substances: identifying and managing acute and chronic harmful use. BMJ 2017; 356: i6814.
Interessenlage: Die Autoren beider referierter Originalpublikationen geben an, dass keinerlei Interessenkonflikte vorliegen.
Schäden minimieren
Der erste Schritt beim Versuch, bereits vorhandene oder mögliche Schäden des Drogenkonsums einzudämmen, besteht darin, die Betroffenen dazu zu bewegen, die Häufigkeit und Menge des NPS-Gebrauchs zu reduzieren. Allerdings muss hier unbedingt beachtet werden, dass im Falle der neuen
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