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STUDIE REFERIERT
Kompressionsstrümpfe nach tiefer Beinvenenthrombose lieber länger tragen
Neue Daten sprechen für 24 statt nur 12 Monate Behandlung
Um das Auftreten eines postthrombotischen Syndroms bei Patienten mit tiefer Beinvenenthrombose zu verhindern, werden häufig elastische Kompressionsstrümpfe eingesetzt. Wie lange diese Massnahme optimalerweise andauern sollte, ist allerdings nicht geklärt. Während aktuelle Leitlinien eine 24-monatige Kompressionstherapie empfehlen, deuten neue Forschungsergebnisse darauf hin, dass auch kürzere Behandlungszeiten ausreichen könnten; eine aktuelle Studie kann dies allerdings nicht bestätigen.
British Medical Journal
Etwa einer von zwei bis drei Patienten mit tiefer Beinvenenthrombose (deep venous thrombosis, TVT) erleidet trotz optimaler Therapie mit Antikoagulanzien als chronische Komplikation ein postthrombotisches Syndrom (PTS). Die Symptomatik des PTS reicht von Hautveränderungen über Schmerzen und mässige Schwellungen bis hin zu unkontrollierten Ödemen und chronischen Beinulzera und erfordert bisweilen nicht nur eine intensive medizinische Versorgung, sondern geht für die Betroffenen auch mit signifikanter Behinderung und beeinträchtigter Lebensqualität einher. Bei den meisten Patienten zeigen sich die ersten PTSSymptome bereits im ersten Jahr nach TVT-Diagnose.
MERKSÄTZE
O Patienten, die nach Diagnose einer tiefen Beinvenenthrombose die Therapie mit elastischen Kompressionsstrümpfen nach 12 Monaten abbrachen, entwickelten im Folgejahr deutlich häufiger ein postthrombotisches Syndrom als solche, die die Behandlung für weitere 12 Monate fortsetzten.
O Die Dauer der Kompressionsbehandlung hatte keinen Einfluss auf die von den Patienten berichtete Lebensqualität.
Strategien zur Prävention eines PTS umfassen eine Thromboprophylaxe bei Patienten mit erhöhtem TVT-Risiko und das Sicherstellen einer Antikoagulationstherapie von angemessener Intensität und Dauer. Die Ergebnisse zweier relativ kleiner randomisierter kontrollierter Studien (RCT) haben gezeigt, dass die mindestens über zwei Jahre andauernde kontinuierliche Verwendung von elastischen Kompressionsstrümpfen (elastic compression stockings, ECS) die PTS-Inzidenz, verglichen mit einer Behandlung ohne ECS, um etwa 50 Prozent reduziert – bei einer NNT (number needed to treat) von 4. Obwohl die Anwendung von ECS inzwischen Eingang in internationale Leitlinien und die tägliche klinische Praxis gefunden hat, wird die Effektivität der Kompressionsbehandlung nach wie vor kontrovers diskutiert, da sich in den erwähnten Studien ein Plazeboeffekt nicht ausschliessen liess. In der SOX-Studie konnte kürzlich keinerlei Nutzen einer ECS-Behandlung gegenüber Plazebo im Hinblick auf die PTSPrävention nachgewiesen werden, jedoch litt die Aussagekraft dieser Untersuchung an der vor allem zum Ende der Follow-up-Periode hin mehr und mehr nachlassenden Therapietreue der Probanden. Tatsächlich stellt die möglicherweise aufgrund von lokalen Irritationen oder kosmetischen Gründen unzureichende Compliance das Hauptproblem bei der
ECS-Therapie dar. Deshalb und aufgrund der Tatsache, dass nicht nur die Therapietreue zu ECS, sondern auch die PTS-Inzidenz mit der Zeit abnimmt, wurde vorgeschlagen, die Kompressionsbehandlung bereits zu einem früheren Zeitpunkt abzubrechen. Eine basierend auf Villalta-Scores und Ultraschallbefunden in ihrer Dauer individuell zugeschnittene ECS-Therapie konnte im Rahmen einer prospektiven Kohortenstudie bereits positive Ergebnisse liefern und wird derzeit in einer weiteren RCT untersucht. Eine niederländische Forschergruppe ist nun im Zuge der OCTAVIA-Studie der Frage nachgegangen, ob und inwieweit für eine nach Diagnose einer proximalen TVT auf 12 Monate verkürzte Kompressionstherapie Nichtunterlegenheit gegenüber der ECS-Standardbehandlung von 24 Monaten hinsichtlich des Auftretens eines PTS und der krankheitsspezifischen Lebensqualität besteht.
Nichtunterlegenheitsstudie
an «complianten» Patienten
Zu diesem Zweck rekrutierten die Wissenschaftler zwischen Februar 2009 und September 2013 an acht niederländischen Kliniken Patienten mit einer vor nicht mehr als einem Jahr diagnostizierten TVT, welche eine leitliniengerechte Antikoagulationstherapie erhalten und eine strikte Einhaltung der ECS-Therapie, definiert als Gebrauch der Kompressionsstrümpfe während mindestens sechs Tagen pro Woche, angegeben hatten. Insgesamt 518 Patienten erfüllten die Ausschlusskriterien (wiederkehrende ipsilaterale TVT, Wadenvenenthrombose, PTS-Diagnose vor Studieneinschluss, anderweitig begründeter ECS-Gebrauch vor TVTDiagnose, ECS-Kontraindikation, Lebenserwartung < 6 Monate, komorbiditätsbedingte beziehungsweise geografische Unzugänglichkeit für Followup-Visiten, keine Einverständniserklärung) und wurden randomisiert entweder einer für weitere zwölf Monate fortgesetzten ECS-Therapie zugeteilt («Continued-ECS»-Gruppe) oder aber aufgefordert, die Kompressionsbehandlung sofort abzubrechen («Stop-ECS»Gruppe). Follow-up-Visiten erfolgten nach drei, sechs und zwölf Monaten nach der Eingangs-(Baseline-)Untersuchung.
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STUDIE REFERIERT
Primärer Endpunkt der Studie war die PTS-Inzidenz am Ende der Follow-upPeriode, also das Auftreten eines PTS (definiert als Villalta-Score ≥ 5 bzw. Vorliegen eines venösen Ulkus) im zweiten Jahr nach erfolgter TVT-Diagnose. Sekundäre Endpunkte umfassten die von den Patienten nach 12 Monaten berichtete Therapieadhärenz, eine am selben Bein wiederaufgetretene TVT, Tod sowie während der Studiendauer aufgetretene Veränderungen der jeweils vom Patienten zu Beginn sowie nach zwölf Monaten angegebenen und mittels VEINES-QOL/Sym-Fragebögen evaluierten Lebensqualität. In dieser als Nichtunterlegenheitsstudie konzipierten Untersuchung wurde vorab für Nichtinferiorität der zwölfmonatigen gegenüber der 24-monatigen ECS-Therapie eine Grenze von 10 Prozent festgelegt. Demgemäss musste das obere Limit des 95%-Konfidenzintervalls (KI) der absoluten Differenz des primären Endpunkts beider Studiengruppen also weniger als 10 Prozent betragen. Diese Schwelle erschien den Autoren übereinstimmend als maximaler noch hinnehmbarer klinisch relevanter Anstieg von PTS-Diagnosen, um die gegenwärtig empfohlene Dauer der ECS-Behandlung von 24 auf 12 Monate zu senken.
Weniger postthrombotische
Syndrome bei fortgesetzter
Kompression
Nach Abschluss des Follow-up hatten 51 Patienten in der «Stop-ECS»-Gruppe gegenüber 34 in der «ContinuedECS»-Gruppe ein PTS entwickelt. Die PTS-Inzidenz während des zweiten Jahrs nach TVT-Diagnose betrug 19,9 Prozent (95%-KI: 16–24%) in der «Stop-ECS»-Gruppe und 13 Prozent (95%-KI: 9,9–17%) in der «Continued-ECS»-Gruppe. Dabei lag jedoch die obere Grenze des 95%-KI der absoluten Differenz von 6,9 Prozent bei 12,3 Prozent, was bedeutet, dass das vordefinierte Nichtunterlegenheitskriterium nicht erfüllt worden war. Die NNT, um ein PTS durch fortgesetzte ECS-Therapie zu verhindern, betrug 14 (unteres Limit des 95%-KI: 8). Die mittlere Zeitspanne zwischen Randomisierung und dem Auftreten eines PTS betrug 4 (Interquartilabstand: 3–6) Monate in der «Stop-ECS»-Gruppe und 6 (3–12) Monate in der «Conti-
nued-ECS»-Gruppe (p = 0,17, MannWhitney-U-Test). Unter den 51 Patienten der «Stop-ECS»-Gruppe, welche ein PTS entwickelt hatten, war dieses bei 43 von ihnen (84%) als leicht (Villalta-Score: 5–9), bei 8 (16%) als moderat (Villalta-Score: 10–14) und bei keinem als schwer (Villalta-Score > 14 oder Ulkus) gegenüber 31 (91%), 2 (6%) respektive 1 (3%) in der «Continued-ECS»-Gruppe (p = 0,19, ChiQuadrat-Test) klassifiziert worden. Hinsichtlich der Therapietreue hatten 186 (85%) der insgesamt 218 Patienten der «Continued-ECS»-Gruppe nach 12 Monaten angegeben, die Kompressionsstrümpfe an sechs bis sieben Tagen pro Woche getragen zu haben; 15 Patienten (7%) gaben vier bis fünf Tage und 17 (8%) weniger als vier Tage als Einsatzhäufigkeit an. Eine ipsilaterale TVT entwickelten insgesamt 14 Patienten, davon 8 (3,1%) in der «Stop-ECS»-Gruppe und 6 (2,3%) in der «Continued-ECS»-Gruppe; 2 Patienten in der «Stop-ECS»-Gruppe gegenüber keinem in der «ContinuedECS»-Gruppe starben. Weder der VEINES-QOL- noch der VEINES-Sym-Score waren in der «Stop-ECS»-Gruppe am Ende der Follow-up-Periode gegenüber Baseline signifikant zurückgegangen; in der «Continued-ECS»-Gruppe zeigten sich beide Werte im Laufe des Follow-up dagegen leicht verbessert. Statistische Unterschiede zwischen beiden Studiengruppen hinsichtlich intraindividueller Veränderungen ergaben sich jedoch weder für diese beiden Parameter noch für die mittlere Lebensqualität am Ende der Follow-up-Periode.
Schwachpunkt Patientenauswahl?
Bei therapieadhärenten Patienten mit proximaler TVT konnte somit in dieser Studie die Nichtunterlegenheit eines Abbruchs der Kompressionsbehandlung nach einem Jahr gegenüber einer zweijährigen kontinuierlichen Therapie nicht belegt werden. Die Ergebnisse der hier referierten OCTAVIA-Studie stehen im Widerspruch zur SOX-Studie, bei der sich kein positiver Effekt einer ECS-Therapie bezüglich PTS-Prävention ergeben hatte. Allerdings lassen sich die Daten beider Studien nicht direkt miteinander vergleichen, da unterschiedliche primäre Endpunkte definiert worden waren.
Als Stärken ihrer Untersuchung erach-
ten die Autoren deren multizentrisches
Design, die hohe Qualität des zentrali-
sierten Randomisierungsprozesses, die
beachtliche Stichprobengrösse, die sehr
guten Werte bezüglich Therapieadhä-
renz und Rücklaufquoten der Lebens-
qualitätsfragebögen, den Ausschluss
von Patienten mit auf distale Venen li-
mitierter TVT sowie die Erfassung von
sowohl PTS als auch Lebensqualität zu
verschiedenen Zeitpunkten während
des Follow-up. Als Schwächen ihrer
Studie räumen die Autoren unter ande-
rem den Umstand ein, dass lediglich an
den Umgang mit Kompressionsstrümp-
fen gewöhnte und zudem therapietreue
Patienten eingeschlossen und Patienten
mit bereits im ersten Jahr nach TVT
aufgetretenem PTS ausgeschlossen
waren. Demzufolge liessen sich die
Schlussfolgerungen aus ihrer Arbeit
nicht ohne Weiteres auf sämtliche Pa-
tienten mit TVT übertragen.
O
Ralf Behrens
Quelle: Mol GC et al.: One versus two years of elastic compression stockings for prevention of post-thrombotic syndrome (OCTAVIA study): randomised controlled trial. BMJ 2016; 353: i2691.
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