Transkript
Etwas Pflanzliches gegen Stimmungsschwankungen?
Studien zur Wirksamkeit von Johanniskraut und Pestwurz
BERICHT
Viele Patienten mit Stimmungsschwankungen möchten zuerst zu einem pflanzlichen Mittel greifen. Doch gibt es tatsächlich wissenschaftlich haltbare Beweise, dass gegen Depressionen ein Kraut gewachsen ist?
Renate Bonifer
Wer kennt nicht die typische Patientenfrage, ob es «etwas Pflanzliches» gebe, um seine Beschwerden zu lindern. Im Fall von Stimmungsschwankungen könne man diese Frage mit einem klaren Ja beantworten, sagte Prof. Dr. med. Claudia M. Witt, Direktorin des Instituts für komplementäre und integrative Medizin am Universitätsspital Zürich. An einer Fortbildungsveran-
«Das Nebenwirkungsprofil von Johanniskraut ist günstiger als bei SSRI oder anderen Antidepressiva.»
staltung der Zürcher Internisten erläuterte sie Studien zu Johanniskraut (z.B. Arkokaps®, Deprivita®, Hypericum Mepha®, Hypericum Sandoz®, Hyperiforce®, Hyperiplant®, Jarsin®, Remotiv®, Solevita®) sowie einem Mischpräparat aus Pestwurz, Baldrian, Melisse und Passionsblume (Relaxane®).
Johanniskraut: An Wechselwirkungen denken! In einem 2008 publizierten CochraneReview von 29 randomisierten Studien, in denen nur «majore Depressionen» betrachtet wurden, erwiesen sich Johanniskrautpräparate als ebenso wirksam wie alte Antidepressiva oder SSRI, sagte Witt. SSRI seien einem Plazebo auch nicht immer deutlich überlegen, der Vorteil der Johanniskrautpräparate sei ihr besseres Nebenwirkungsprofil.
Der Cochrane Review zeigte nämlich auch, dass Johanniskraut deutlich weniger Nebenwirkungen als alte Antidepressiva oder SSRI hat. Je nach Studie und Dosierung wurden bei 1 bis 3 Prozent der Patienten unter Johanniskraut Nebenwirkungen beobachtet. Die häufigste ist die Fotosensibilisierung, die man nicht unterschätzen dürfe, zum Beispiel auch bei Wanderungen im Gebirge: «Bei lichtempfindlichen Personen kann das auch zu ausgeprägten Sonnenbränden führen.» In der Praxis wichtiger seien jedoch die vielfältigen potenziellen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Dazu gehören unter anderem SSRI, Benzodiazepine, Warfarin, Statine, Verapamil und Digoxin. «Wir haben hier eine gewisse Problematik, insbesondere bei älteren Patienten», sagte Witt. Aber auch bei jüngeren Patienten muss man an potenzielle Wechselwirkungen denken. So kann beispielsweise die Wirksamkeit oraler Kontrazeptiva durch Johanniskraut gemindert werden: «Sie müssen dann einen anderen Verhütungsschutz wählen.» Eine weitere Patientengruppe, bei denen Wechselwirkungen mit Johanniskraut eine grosse Rolle spielen, sind Krebspatienten unter Chemotherapie: «Kein Johanniskraut parallel zur Chemotherapie, das ist auch ein wichtiger Punkt», betonte die Referentin. Die Auswahl an Präparaten ist gross. In der Schweiz stünden gleich eine ganze Reihe guter, standardisierter Johanniskrautpräparate zur Verfügung, wobei
der wirksame Bereich etwa zwischen 600 bis 1200 mg Trockenextrakt pro Tag liege, sagte Witt. Man sollte bei der Verordnung eines Medikaments immer nachfragen, ob der Patient vielleicht bereits ein Johanniskrautpräparat einnimmt, und ihn darauf hinweisen, dass es sich bei diesen durchaus um ein Medikament handelt, dass man nicht unterschätzen dürfe, nur weil es pflanzlicher Natur ist.
Nur in der Schweiz erhältlich:
Pestwurz
Das pflanzliche Mischpräparat Rela-
xane® enthält Pestwurz, Baldrian, Me-
lisse und Passionsblume. Die Pestwurz
ist in vielen anderen Ländern wegen
möglicher Leberschäden nicht zugelas-
sen, für die Wirksamkeit bei Depres-
sion und Angststörungen aber vermut-
lich recht wichtig. Dies ergab eine Stu-
die, die noch unter der Leitung von
Prof. Reinhard Saller, dem ehemaligen
Direktor des Zürcher Instituts für
Naturheilkunde, durchgeführt wurde.
Man hatte insgesamt 182 Patienten mit
somatoformen Störungen entweder mit
Relaxane®, einem Plazebo oder der
Phytomischung ohne Pestwurz behan-
delt. Das Resultat: Ohne den Pestwurz-
extrakt wirkte die Phytomischung
immer noch besser als Plazebo, aber am
besten war das komplette Gemisch in-
klusive Pestwurz. Aufgrund der poten-
ziellen Lebertoxizität ist das Medi-
kament bei Leberfunktionsstörungen
kontraindiziert. Auch bei älteren Pa-
tienten sollte man zurückhaltend sein,
sagte Witt.
O
Renate Bonifer
Quelle: Vortrag von Prof. Claudia M. Witt an der Fortbildungsveranstaltung der Vereinigung Zürcher Internisten «VZI Highlights from Boston 2015. Best of ACP (Annual Congress of the American College of Physicians)». Lake Side Hotel, Zürich, 2. Juli 2015
ARS MEDICI 17 I 2015
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