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Nachbesprechung von Zwangsmassnahmen
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Das Erleben und Ausüben von Zwang im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung kann für alle Beteiligten, allen voran für die Patienten, mit schwerwiegenden Folgen verbunden sein. Ist die Anwendung von Zwangsmassnahmen aufgrund von akuter Selbst- oder Fremdgefährdung zum Schutz der eigenen Person oder anderer Dritter nicht vermeidbar, ist nebst der Art und Weise der Gestaltung und Durchführung der Zwangsmassnahme die Nachsorge ein wesentliches Element zur Unterstützung der Verarbeitung und Reduktion möglicher Konsequenzen. Der vorliegende Artikel thematisiert diese Nachsorge in Form der Nachbesprechung von Zwangsmassnahmen und möchte dabei die Umsetzung in der Praxis, die damit einhergehenden Chancen und Herausforderungen in den Fokus nehmen.
Fabienne Roth Christian G. Huber André Nienaber
von Fabienne Roth1, Christian G. Huber1 und André Nienaber1,2
Hintergrund Die Anwendung und Notwendigkeit freiheitsentziehender Massnahmen in der psychiatrischen Versorgung ist nach wie vor ein prioritäres und immer noch kontroverses Thema. Einigkeit scheint darin zu bestehen, dass die Anwendung von Zwang sowohl von den Psychiatrie-Erfahrenen, den Angehörigen als auch den professionellen Helfern als eines der grössten Probleme in der psychiatrischen Versorgung beschrieben wird (1). Seit der Veröffentlichung der S3-Leitlinie «Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen» der DGPPN (2) im Jahr 2018 und vor allem durch die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung sowie die Berichte der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (3), ist Bewegung in das Thema gekommen, und es entstehen Forderungen, eine Psychiatrie ganz ohne Zwang zu ermöglichen (4–6). Die Diskussionen dazu sind kontrovers (7) und die Entwicklung ist ganz allgemein sehr zu begrüssen. Allerdings steht sie nicht im Zentrum des vorliegenden Artikels. Bei der Beschäftigung mit der aktuellen Literatur zum Thema Zwang und Gewalt in der Psychiatrie fällt auf, dass neben der grundsätzlichen Diskussion die Nachbesprechung von Zwangsmassnahmen als Thema stark an Bedeutung gewinnt.
1 Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel, Universität Basel, 2 Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim (ZI), Abt. Public Health, AG Psychiatrische Pflegeforschung, J5, 68159 Mannheim
Setting the Scene: Zwangsmassnahmen, Nachsorge und Nachbesprechung Als Zwang oder Zwangsmassnahmen werden sämtliche Massnahmen verstanden, welche gegen den Willen oder mit Widerstand der betroffenen Person durchgeführt werden (8). In der stationären psychiatrischen Versorgung sind dies beispielsweise die fürsorgerische Unterbringung in einer Klinik, die Isolierung oder Fixierung und die Zwangsbehandlung (2). Als Nachsorge können alle Unterstützungen zusammengefasst werden, die betroffenen Personen nach einem schwerwiegenden und potenziell traumatisierenden Ereignis angeboten werden. Dies mit den grob formulierten übergeordneten Zielen der Förderung und Verbesserung von psychischer und physischer Sicherheit, des psychischen Wohlbefindens und der individuellen Fürsorge (9). Nachfolgend bezieht sich der Text im speziellen auf die Nachsorge für Patienten, welche Zwangsmassnahmen erlebt haben. Auf die spezifische Nachsorge für Gesundheitsfachpersonen und Angehörige – auch wenn selbstverständlich ebenfalls von grosser Relevanz – wird hier nicht weiter eingegangen. Das Erleben von Zwangsmassnahmen ist ein schwerwiegendes und potenziell (re-)traumatisierendes Ereignis. Betroffene Patienten berichten von einem Erleben von Wut, Hilf- und Machtlosigkeit, Einsamkeit, Verzweiflung, Bestrafung oder Demütigung (10). Die physischen und psychischen Auswirkungen können sehr gravierend sein und bis hin zur (Re-)traumatisierung und Stigmatisierung reichen. Die therapeutische Beziehung, das Vertrauen sowie die Genesung können stark beeinträchtigt werden (11–16). Auch für Gesundheitsfachpersonen stellt das Ausüben von Zwang eine grosse Belastung dar (17, 18) und bringt teilweise einschneidende Konsequenzen mit sich (19).
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Kasten 1:
Leitfadengestützte Nachbesprechung nach dem Weddinger Modell (20, S. 44ff.)
Zeitpunkt des Angebots
Zeitpunkt der Durchführung
Setting
Teilnehmende
Moderation
Inhalt des Leitfadens
● unmittelbar nach der Zwangsmassnahme ● ohne Druck zur sofortigen Annahme des Angebots ● Wiederholen des Angebots ● Angebot soll nach Entlassung bestehen bleiben ● Entscheid liegt bei der behandelten Person ● Ermöglichung zu jedem beliebigen Zeitpunkt ● Berücksichtigung der emotionalen Bereitschaft der behandelten Person ● Angebot eines Folgegesprächs ● gesondertes Gespräch für die Nachbesprechung ● neutraler Raum ausserhalb einer Station ● 30–45 Minuten ● behandelte Person ● nach Wunsch Vertrauensperson/Angehörige der behandelten Person ● Teammitglied, das an der Zwangsmassnahme beteiligt war ● Moderator ● teaminterne Person, die nicht an der Zwangsmassnahme beteiligt war ● Neutralität ● Orientierung am Leitfaden, flexible Reihenfolge ● Einhaltung des Rahmens ● Sicherstellung eines wertschätzenden und ausgewogenen Umgangs ● Schilderung der Krisensituation aus den unterschiedlichen Perspektiven ● Reflektieren des Geschehenen und Erlebten
Vor diesem Hintergrund erscheint es nachvollziehbar und notwendig, dass von Zwangsmassnahmen betroffene Patienten eine Nachsorge erhalten sollten und es ist folgerichtig, dass die Verantwortung dafür bei der zwangsausübenden Institution liegt. Aus der Praxis und Literatur sind verschiedene Formen und Arten von Nachbesprechungen bekannt. Sie unterscheiden sich in Zielsetzung, Zeitpunkt, Setting, den Beteiligten und im Inhalt. Nachbesprechungen können direkt nach einem Ereignis, bei Bedarf oder auch in interoder supervisorischen Formaten durchgeführt werden. Sie finden wahlweise mit betroffenen und nicht involvierten Mitarbeitenden, mit dem ganzen Team und zusammen mit Patienten statt. Die Ziele reichen von «Verbesserung der Abläufe» bis hin zu einem tiefgreifenden Verständnis, dem Versuch eines «Nachvollziehbarmachens der Entscheidungen», dem Perspektivenwechsel und -austausch und der emotionalen Entlastung aller Beteiligten. Die Nachbesprechungen können unstrukturiert oder leitfadengestützt beziehungsweise «standardisiert» sein (20, S. 30f.). Die leitfadengestützte Nachbesprechung zeichnet sich dadurch aus, dass sie der schwierigen Situation für alle Beteiligten mit klarer Rahmensetzung begegnet und somit einen sicheren Raum schaffen möchte. Das soll ermöglichen, dass Belastungsreaktionen vermieden oder reduziert, dass die therapeutische Beziehung verbessert wird, das Vertrauen wieder hergestellt, das gegenseitige Verständnis gefördert und dass zukünftige Zwangsmassnahmen verhindert werden können (20). Für ein besseres Verständnis wird in Kasten 1 die leitfadengestützte Nachbesprechung nach dem Weddinger Modell etwas näher beschrieben.
Evidenz Das Thema der Nachbesprechung von Zwangsmassnahmen in der stationären psychiatrischen Versorgung ist nicht neu. Bereits 2004 beschreibt Pieters (21) Nachbesprechungen als wesentliches Qualitätskriterium zur Verbesserung im Umgang mit Zwangsmassnahmen und das «Nachgespräch mit Patienten» (22, S. 159) bzw. die Nachbesprechung (22, S. 165) wird an mehreren Stellen im Buch beschrieben. Für die Praxis findet sich ein Leitfaden zur Nachbesprechung von auto- und fremdaggressivem Verhalten. Darüber hinaus ist das Thema der Nachbesprechung von Zwangsmassnahmen mittlerweile auch Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sowie von Leitlinien und Empfehlungen (2, 8). International finden sich für die Nachbesprechung Begriffe wie «post-incident review», «debriefing» oder «post-incident support», die häufig austauschbar verwendet werden (23). Das Buch «The Prevention and Management of Violence» des Royal College of Psychiatrists widmet ein ganzes Kapitel dem Thema «post-incident management» und unterstreicht damit die Bedeutung von Nachbesprechungen. Bereits in seinem Review zu Massnahmen zur Verhinderung von Isolierung und Fixierung in der stationären psychiatrischen Versorgung aus dem Jahr 2010 kommt Scanlan (24) zu dem Ergebnis, dass die externe Überprüfung bzw. die Nachbesprechung eine gute Möglichkeit für eine detaillierte Analyse von Zwangsmassnahmen wie Isolierungen und Fixierungen sind und zur Reduzierung ihrer Anwendung beitragen. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommen auch Goulet et al. (25) in ihrer systematischen Übersichtsarbeit zu Programmen mit dem Ziel der Reduktion von Isolierun-
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gen und Fixierungen. Insgesamt identifizieren die Forscher sechs Bestandteile von solchen Programmen. Diese sind: Leadership, Schulung bzw. Training, Einbezug von Patienten, Präventionsmöglichkeiten, die therapeutische Umgebung und Nachbesprechung nach Isolierung bzw. Fixierung (25). Auch in dem vom National Institute for Health Research im Jahr 2021 veröffentlichten Review «Non-pharmacological interventions to reduce restrictive practices in adult mental health inpatient settings: the COMPARE systematic mapping review» (26) werden Nachbesprechungen als Möglichkeit der Reflexion nach einem Vorfall sowohl für Mitarbeitende als auch Nutzende beschrieben. Bonner und Wellman (27) beschreiben, dass Mitarbeitende und Patienten das «postincident review» nach der Anwendung von Fixierungsmassnahmen als hilfreich erlebt haben. «Durch die Möglichkeit einer Nachbesprechung nach einem Vorfall kann das Ausmass des psychologischen Traumas für Personal und Patienten nicht vollständig bewertet werden, aber sie bietet die Möglichkeit, die Notlage nach einer Zwangsmassnahme zu ermitteln.» (27, p. 38). Goulet und Larue (28) konnten insgesamt 20 Studien in ihrem Scoping-Review zum Thema Nachbesprechung einbeziehen. Sie beschreiben, dass die Wurzeln für das Thema der Nachbesprechung von Zwangsmassnahmen in einem psychotherapeutischen Ansatz liegen. Dort wird Nachbesprechung als eine frühe Interventionsform für Ereignisse mit einem hohen Risiko für psychotraumatische Effekte beschrieben. Die wohl bekannteste Form ist das Critical Incident Stress Debriefing (Nachbesprechung bei kritischen Zwischenfällen). Im Ergebnis zeigen die eingeschlossenen Studien, dass Nachbesprechungen integraler Bestandteil von Programmen zur Reduktion von Isolierung und Fixierung sind, wie z. B. beim Programm der sechs Kernstrategien (six core strategies). Allerdings werden die Nachbesprechungen nicht systematisch im klinischen Umfeld durchgeführt und Aussagen zur Wirksamkeit sind aufgrund der unzureichenden Studienlage nicht zu treffen (28). Einen wichtigen Beitrag für das Thema haben die Untersuchungen von Wullschleger et al. (29–32) geleistet. In einer ersten Pilotstudie zur standardisierten Nachbesprechung von Zwangsmassnahmen anhand eines Leitfadens (32) konnte gezeigt werden, dass sowohl die befragten Patienten als auch die Mitarbeitenden die Intervention als hilfreich erlebt haben. Den Aussagen zufolge fördert die standardisierte Nachbesprechung zum einen den Ausdruck des emotionalen Erlebens und unterstützt zum anderen den Aufbau der therapeutischen Beziehung (32). In einer zweiten multizentrischen und randomisiert-kontrollierten Untersuchung wurde der Effekt von Nachbesprechungen auf den wahrgenommenen Zwang untersucht (30). Die Untersuchung konnte keinen signifikanten Effekt von Nachbesprechungen auf die Erfahrung von subjektivem Zwang bei den Teilnehmenden zeigen. Allerdings scheinen sowohl die Nachbesprechung als auch das subjektive Gefühl von Zwang durch unterschiedliche Faktoren wie z. B. die Zeit, den Inhalt oder auch die Haltung, das Milieu und entsprechende Konzepte wesentlich beeinflusst zu sein. Darüber hinaus scheint die Nachbesprechung unterschiedliche Effekte auf Männer und Frauen zu haben. In einer weiteren Auswertung der Daten mit dem Fokus
auf die Auswirkungen von Nachbesprechungen auf Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) (29) konnte eine signifikante Wirkung der Intervention auf die Belastung durch PTSD-Symptome anhand der eingesetzten Skalen nachgewiesen werden. Die Verfasser kommen zu dem Schluss, dass die Nachbesprechung nach Zwangsmassnahmen als Form der traumainformierten Behandlung empfohlen werden kann (29). In einer aktuellen Sekundäranalyse ihrer Daten zur Frage der subjektiven Wahrnehmung von Zwang konnte von den Forschern darüber hinaus gezeigt werden, dass die wahrgenommene subjektive Belastung durch Isolierung und Fixierung massgeblich negativ beeinflusst wurde, wenn die Zwangsmassnahme auf der Grundlage von Faktoren im Zusammenhang mit dem Personal und den Krankenhausstrukturen beschlossen wurde. «Das Erleben von Zwang als willkürlich, als Bestrafung, als Folge von Inkompetenz des Personals oder als Folge eines Mangels an Alternativen scheint das mit diesen Massnahmen verbundene Leid noch zu verstärken» (31, p.5).Vor diesem Hintergrund erscheint es folgerichtig, dass die Durchführung von standardisierten Nachbesprechung von Zwangsmassnahmen als Empfehlung für leitliniengerechtes Handeln auf psychiatrischen Stationen zur Vermeidung von Gewalt und Zwang aufgenommen worden ist (33).
Umsetzung in der Praxis Obwohl Nachbesprechungen von den Leitlinien empfohlen werden, Nachweise für ihre positive Wirkung bestehen und teilweise rechtliche Rahmenbedingungen vorhanden sind, zeigt sich bezüglich der Integration der systematischen Nachbesprechungen als fester Bestandteil in der Praxis immer noch ein sehr heterogenes Bild. Mögliche Erklärungen dafür können das Fehlen oder nur geringe Vorhandensein von Standards zur nachhaltigen Implementierung und Durchführung sein, die Komplexität der gesamten Thematik und der damit verbundenen hohen Anforderungen, die an die Praxis gestellt werden. Auch (fehlende) gesetzliche Rahmenbedingungen können einen Einfluss haben. Laut Mahler und Kollegen (20) finden Nachbesprechungen unsystematisch statt. Teilweise erhalten Patienten das Angebot einer Nachbesprechung, teilweise müssen sie nachfragen; manchmal werden die Nachbesprechungen «mitten im Stationsalltag», manchmal in einem geschützten Rahmen durchgeführt. Das bedeutet, dass es jedes Mal von der jeweiligen Situation abhängt, wer mit wem und was in welchem Rahmen bespricht (20). Es soll nicht in Frage gestellt werden, dass individuelle Nachbesprechungen und Vorgehensweisen auch unterstützend wirken und ergänzend eingesetzt werden können. Durch die fehlende Systematisierung ist eine nachhaltige Umsetzung in der Praxis aber deutlich erschwert und geht in jeder Einzelsituation mit hohen Ansprüchen an alle Beteiligten einher. Zusätzlich kann gesagt werden, dass die nachgewiesene positive Wirkung von systematischen Nachbesprechungen dann erreicht wird, wenn sie entsprechend der einheitlichen Vorgehensweise und Strukturierung umgesetzt werden (20). Eine hilfreiche Beschreibung für die Umsetzung von systematischen Nachbesprechungen in die stationäre psychiatrische Versorgung findet sich in der Empfehlung
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sechs zum leitliniengerechten Handeln auf psychiatrischen Stationen (33). Die Autoren weisen darauf hin, dass eine sorgfältige Vorbereitung für eine nachhaltige Implementierung in mehreren Schritten von grosser Bedeutung ist. Die Aufklärung für alle an der Behandlung involvierten Mitarbeitenden über theoretische Hintergründe und den Nutzen systematischer Nachbesprechungen, wie auch praktische Schulungen für die Ausübung der Moderation mit Leitfaden sind als zentrale Elemente zu nennen. Dabei muss erwähnt werden, dass man für eine erfolgreiche Implementierung viel Durchhaltevermögen benötigt. Erfahrungen aus der Studie «Implementation of the German Clinical Practice Guidelines on Prevention on Violence and Coercion (PreVCo)» zeigen beispielsweise, dass es mehrere Monate dauert, bis systematische Nachbesprechungen «geregelt» abgelaufen sind (33). Nebst zeitlichen und personellen Ressourcen sind weitere Voraussetzungen zu berücksichtigen. Junghanss und Kollegen (33, S. 105) nennen vier wesentliche Punkte: l Mitarbeitende sollten nach einer Zwangsmass-
nahme nach Wegen suchen, um zu einem vertrauensvollen Behandlungsverhältnis zurückzufinden. l Absprachen oder schriftliche Behandlungsvereinbarungen sollten zusammen mit dem Patienten erarbeitet werden, damit Zwangsbehandlungen vermieden werden können. l Teams sollen bereit sein, über Eskalationsprozesse gemeinsam mit dem Patienten zu reflektieren und dabei die eigene Perspektive und das eigene Erleben einzubringen und zu hinterfragen. l Teams sollen bereit sein, sich auf einen Perspektivenwechsel und das Feedback von Patienten einzulassen. Da es sich bei der Nachbesprechung um eine freiwillige und in der Schweiz nicht gesetzlich vorgeschriebene Aktivität handelt, die zudem wenig extrinsische Motivatoren (z. B. finanzieller Art) mit sich bringt und die vor allem auf die Veränderung der Haltung abzielt, braucht es für eine erfolgreiche Implementierung in Anlehnung an von Achterberg (34) neben einer sorgfältigen Überlegung von förderlichen und hinderlichen Faktoren vor allem praxisentwicklerische Ansätze zur Ermöglichung, Befähigung und Förderung. Es erscheint notwendig und unabdingbar, das Ziel der Haltungsarbeit und -veränderung vor, während und nach der Implementierung anzustossen und zu begleiten. Es erfordert eine aktive Auseinandersetzung mit der persönlichen (teambezogenen, institutionellen) Haltung in Bezug auf Zwangserleben, Zwangsausübung und deren Auswirkungen, mit der Beziehungsgestaltung, mit einem wertschätzenden Umgang und einer gleichberechtigten Begegnung in Krisen. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Auseinandersetzung leistet z. B. die zweitägige Fortbildung «[zwang]los» von Sebastian Rüegg und Helene Brändli (35). Die Fortbildung richtet sich an Fachpersonen, die in der Psychiatrie mit der Anordnung und Ausübung von Zwang konfrontiert sind. Sie wird von einer Genesungsbegleiterin und einer Fachperson zusammen moderiert. Zentraler Bestandteil der Fortbildung ist die Auseinandersetzung mit der Zwangsausübung, die Verminderung der Auswirkungen sowie die Prävention von Zwang. Die Teilnehmenden erhalten während der zwei Tage die Gelegenheit,
Merkpunkte:
● Alle von Zwangsmassnahmen betroffenen Patienten sollen wiederholt Nachbesprechungen angeboten werden.
● Nachbesprechungen sollen systematisch und leitfadengestützt durchgeführt werden.
● Die Einführung systematischer Nachbesprechungen von Zwangsmassnahmen in der Praxis ist komplex, benötigt Ressourcen und erfordert eine Auseinandersetzung mit der eigenen therapeutischen Haltung.
die leitfadengestützte Nachbesprechung von Zwangsmassnahmen zu üben und darin die unterschiedlichen Rollen mit ihren jeweiligen Perspektiven, beispielsweise die Moderation, einzunehmen (35).
Fazit und Ausblick
Das Thema der Nachbesprechung von Zwangsmass-
nahmen in der psychiatrischen Versorgung ist nicht zu-
letzt durch die wissenschaftliche Betrachtung mehr in
den Fokus gerückt. Auch wenn die Studienlage unein-
heitlich erscheint, sind die Empfehlungen für die Durch-
führung von systematischen Nachbesprechungen
eindeutig.
Abschliessend ein Zitat von Gwen Schulz, Genesungs-
begleiterin in der Uniklinik Hamburg, aus ihrem Geleit-
wort für das Buch «Nachbesprechung von Zwangs-
massnahmen» (20): «Die Kommunikation gerät nicht
erst mit der Ausübung einer Zwangsmassnahme in die
Schieflage. Die Atmosphäre in der Psychiatrie, insbeson-
dere auf geschlossenen Stationen, ist oft angespannt
und eine Herausforderung für alle Menschen, die sich
darin bewegen. Ich glaube, dass Spiel-Räume der Be-
gegnung viel zu wenig genutzt werden» (20, S. 12).
Einen solchen Spiel-Raum stellt die systematische Nach-
besprechung nach einer Zwangsmassnahme in der
stationären psychiatrischen Versorgung dar. Zudem bie-
tet sie für alle Beteiligten die Möglichkeit, wieder an den
therapeutischen Prozess anzuknüpfen und die von
Schulz beschriebene Schieflage der Kommunikation zu
überwinden.
l
Korrespondenzadresse: Fabienne Roth
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel (UPK) Wilhelm Klein-Strasse 27 CH-4002 Basel
E-Mail: fabienne.roth@upk.ch Tel: 061 325 55 36
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