Transkript
Dies erlebt ...
... und das gedacht
Als Assistent und Oberarzt an einem Universitätsspital und als Chefarzt einer Rehabilitationsklinik habe ich viele Änderungen und Neuerungen im Gesundheitswesen miterlebt, aber auch mittragen müssen. Ich kommentiere hier ein letztes Mal Erlebtes. Auch die «Sprechstunde» hat sich in den Jahrzehnten ihres Bestehens verändert. Jetzt wird sie selbst ein Opfer der fortschreitenden Neuerungen. Übervolle Wartezimmer mit lesefreudigen Patienten gibt es bei der heutigen Effizienz des Patientenmanagements wohl nicht mehr, und viele Patienten denken, dank Internet, bereits ihre Krankheit zu kennen. Warum dann noch eine Wartezimmerzeitschrift? Die Betrachtungen sollen zum Nachdenken anregen.
Wie steht’s mit Krankheit und Gesundheit?
von Hanswerner Iff
Die Krankheit
wird verbannt Vor etwas mehr als 50 Jahren, in meiner ersten Stelle als Assistenzarzt, hatte ich den Eindruck, im Krankenwesen zu arbeiten, mich mit kranken Menschen abzugeben. In den darauffolgenden Jahrzehnten fand eine erstaunliche Veränderung um die Begriffe des Krankenwesens statt. Krankenanstalten wurden zu Spitalzentren. Im heutigen Pflegebereich gibt es Fachangestellte für Gesundheit. Kantonale Krankengesetze sind jetzt Gesundheitsgesetze. Die hausärztliche Praxis zur Versorgung kranker Menschen ist neu ein Gesundheitszentrum oder eine «HMO» (übersetzt: ge-
sundheitserhaltendes Unternehmen). Spezialärzte führen Kompetenzzentren für ihr Teilgebiet (Herz, Magen-Darm, Lunge usw.). Es existieren sogar Exzellenzzentren, diese sind dann oft präzisiert durch die angebotene Behandlungsart. Und schliesslich wurden aus Patienten Klienten und aus einigen Krankenkassen Gesundheitskassen. Die Krankheit wurde damit praktisch verbannt aus Verordnungen, Auf- und Anschriften und Gesetzen und damit auch aus der politischen Diskussion.
Mein Kommentar Zweifellos steht hinter dieser Verbannung der Krankheit eine gewisse Ele-
ganz. Wir Menschen wollen selbstverständlich «Gesundheit», niemand will «Krankheit». Politiker sprechen lieber von der Gesundheit, ja nicht von der Krankheit: Mit ihr «ist kein Staat zu machen». Warum diese gegensätzlichen Begriffe so leicht austauschbar sind, ist ein Phänomen, das irritiert. Die Hauptaufgabe der Medizin bleibt die Sorge um die Krankheit in all ihren Spielarten: Krankheiten vermeiden, wenn möglich heilen und Betroffene begleiten. Anstelle der Verbesserung der Leistungen für diese Grundaufgabe entwickelte sich ein gigantischer Gesundheitsmarkt. Zweifellos wurde dieser stimuliert durch die allgegenwärtige
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Ökonomisierung, die nur unter dem Begriff der Gesundheit stattfinden konnte. Gesundheit lässt sich verkaufen, sie ist im Gegensatz zur Krankheit attraktiv und marktfähig. Bereits heutzutage wird aber zu viel im Namen der Gesundheit angeboten, kontrolliert und verkauft. Ablaufdaten und Kalorienangaben auf Lebensmitteln machen Angst, zweifelhafte Behandlungsangebote nehmen ein erschreckendes Ausmass an, und für viele kleine Leiden steht unnötigerweise etwas zur Verfügung, das man kaufen kann. Da ist sicher die kritische Frage berechtigt, ob diese Gesundheit wirklich käuflich ist. Sie ist ein Gut, das über Millionen von Jahren mit der gesamten Umwelt von Tieren und Pflanzen sich auch beim Menschen exzellent und präzise entwickelte. Wenn dem nicht so wäre, würde es keine Menschheit geben. Wunden heilen, Knochen wachsen zusammen, Abwehrkräfte des Immunsystem entwickeln sich normalerweise in jedem Menschen zu einem perfekten Bekämpfer von allen möglichen Erkrankungen. Das sind Grundpfeiler unserer Gesundheit, die heute – mehr als 150 Jahren nach Erscheinen des die Evolutionstheorie begründenden Buches von Charles Darwin
– eigentlich bekannt sein sollten. Persönlich staune ich immer wieder über die Tatsache, dass ein Eskimo sich mit Fischen und Seehunden ebenso perfekt gesund erhalten konnte wie ein Mensch aus den Tropen, der sich hauptsächlich von Früchten und Wurzeln ernährte. Wenn diese grundsätzliche Gesundheit nicht in uns Menschen stecken würde, wären wir gar keine Bewohner dieser Erde geworden. Diese Gesundheit ist jedenfalls kein käufliches Gut. Sie ist den Menschen gegeben, ihr Kauf ist eine Illusion. Ihr Sorge zu tragen, ist wichtig. Zweifelsohne hat nun diese grossartige «Gesundheitsmaschinerie», die uns die Evolution bescherte, Situationen durchzustehen, in denen sie unterstützende Hilfe braucht. Unfälle, die tagtäglich geschehen können, Wunden, die auf den Kriegsschauplätzen in aller Welt und anderswo entstehen, erlahmende Immunsysteme gegen Infektionen aller Art und gleichzeitig neue Krankheitserreger, für die noch keine Abwehr erschaffen wurde, schliesslich Gene und Umweltgifte, die zu unkontrolliertem krebsigem Wachstum von Gewebe führen, und auch psychisches Ungemach können jeden Menschen treffen. Und wenn er betroffen wird, ist dies schicksalshaft, oft
überraschend und meistens unvorbereitet. Es sind diese Menschen, die Anrecht bekommen müssen, sich gerecht am Gesundheitsmarkt zu beteiligen. Es ist die Krankheit, die diesen Menschen den Zugang zu Gesundheitsgütern ermöglicht; es sind Patienten und Patientinnen, für die gesorgt werden muss. Dafür sollten wir die uns allen gegebene Gesundheit auch in der Öffentlichkeit und in der Politik besser von der Krankheit trennen. Diejenigen, die Gesundheit nicht geschenkt bekamen, bedürfen also in erster Linie der Aufmerksamkeit. Nicht diejenigen, die, von der herrschenden Gesundheitsökonomie geblendet, meinen, dass jegliche Gesundheit käuflich sei. Ein gutes ökonomisches System muss versuchen, die kranken Menschen, also die Patienten und Patientinnen unter uns, zu finden und sich diesen intensiv widmen. Die Tätigkeiten, die wichtig sind, sind festgelegt: Menschliches Leben ist zu schützen, Gesundheit ist zu fördern und zu erhalten, Krankheiten sind zu behandeln, Leiden sind zu lindern, und Sterbenden ist beizustehen. In diesem Sinne sollte sich unsere Gesundheitspolitik wieder mehr den Erkrankten zuwenden, das Gesundheitswesen als Krankenwesen verstehen.
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