Transkript
LANDARZTGLOSSE
ILLUSTRATION: WA-DESIGN
Wirbelsäule: Der verhängnisvolle Knick
von Dr. med. Kurt Hausammann*
W ie schön war es doch, als der Mensch, respektive dessen Vorläufer, sich noch auf vier Füssen fortbewegte. Das war die Zeit, bevor ein besonders gescheites Individuum die Idee hatte, einfach aufzustehen und sich auf zwei Beinen fortzubewegen. Selbstverständlich hatte diese neue Fortbewegungsart viele Vorteile: Hatte der Mensch früher immer nur den Boden vor den Vorderfüssen gesehen, eröffnete sich nun eine riesige Umsicht und Weitsicht, fast wie von einem Turm herab. Der zweite Vorteil war, dass er jetzt Arme und Hände frei hatte, um das, was er jetzt sah, auch zu berühren, zu untersuchen und zu bearbeiten. Dies konnte er tun, während er sich fortbewegte. Da es jetzt alle Menschen dem Erfinder gleichtaten und auf zwei Beinen gingen, entstanden völlig neue, interessante Gesichtspunkte, zum Beispiel in Bezug auf die primären und sekundären Geschlechtsorgane. Einige Organe stachen deutlich hervor, und andere zeigten ganz neue Rundungen. Aber das Aufrichten brachte auch einen grossen Nachteil, der die Wirbelsäule betrifft: Bisher hingen die Wirbel zwischen Becken und Schultergürtel senkrecht nach unten und stützten sich oben wie Dachziegel aufeinander ab. So mussten die Bandscheiben zwischen den Wirbelkörpern nur wenig Kräfte auffangen. Daraus wurde jetzt eine Wirbelsäule, bei der ein Wirbel senkrecht auf dem anderen steht und die Bandscheiben waagrecht liegen. Somit nimmt der Druck von oben nach unten massiv zu und addiert sich. Dazu kam neu auch ein grosser Knick zwischen dem Steissbein/Schwanzfortsatz und der Lendenwirbelsäule von fast 90 Grad. Den Zweibeinern wurde immer stärker bewusst, dass alles Gewicht oberhalb der Lendenwirbelsäule genau in diesem Knick voll auf die unterste Bandscheibe drückt.
Erschwerend hinzu kommen die Rippen, welche jetzt nicht mehr nach unten hängen, sondern vorn herausstehen und so das Gewicht weit weg von der Wirbelsäule nach aussen verlagern. So zieht das ganze Gewicht in einem sehr ungünstigen Winkel an der Wirbelsäule. Dies wird vor allem in der Schwangerschaft zum Problem. Die Frauen müssen sich dann
zum Ausgleich im Hohlkreuz fortbewegen und schieben so das zusätzliche Gewicht vor sich her. Die Männer haben dann aus Mitgefühl und Sympathie auch zunehmend mehr Gewicht an die Rippen gehängt. War die ganze Konstruktion der Wirbelsäule ursprünglich für 20 bis 30 Lebensjahre geplant, musste sie in den letzten Jahrhunderten zunehmend, das heisst sogar zwei- bis dreimal länger halten. Dazu kommt noch eine Unmenge von neuen Sportarten mit extremen Belastungen für die Wirbelsäule. Die ganze Zuspitzung der Situation haben nun wenige, besonders schlaue Menschen zu ihren Gunsten genutzt. Das sind die Gewinner der Evolution. Es handelt sich um jene, welche sich mit ihren frei gewordenen Armen den Pro-
blemen von anderen Zweifüsslern angenommen haben: solchen mit
Wirbelsäulenüberlastung im Lendenbereich. Es sind die Manualtherapeuten, Physiotherapeuten, Osteopathen, Chiropraktoren und im Extremfall sogar die Neurochirurgen, die sich um Probleme der Wirbelsäule kümmern. Diese Probleme nehmen immer stärker zu, und so hat diese kleine Gruppe der Evolutionsgewinner alle Hände voll zu tun. *Kurt Hausammann ist Hausarzt mit einer Praxis in Ermatingen (TG).
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