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Täglich liest oder hört man Meldungen aus dem Gesundheitswesen. Man spricht darüber und staunt oftmals auch. Der Arzt Hanswerner Iff hat sich angewöhnt, Gelesenes und Gehörtes aufzugreifen und nach den Fakten dahinter zu suchen. Sein Kommentar ist subjektiv – und soll zum Nachdenken anregen.
Wer hat nun recht?
Schweizer Ärzte im Kampf gegen das Bundesgericht
Warnung vor «Instrumentalisierung der Medizin» bei Hungerstreiks Gefangener
Im Fall des inhaftierten Hanfbauern Bernard Rappaz hat das Bundesgericht eine Zwangsernährung wegen seines Hungerstreiks für zulässig erklärt. Nun wehrt sich die Ärzteschaft.
(«NZZ Online», 1.10.2010)
Hintergrund Vergangenen Sommer machte der Hanfbauer Bernard Rappaz, der gegen das Betäubungsmittelgesetz verstiess und eine Gefängnisbusse absitzen muss, verschiedentlich Schlagzeilen. Er protestierte mit einem Hungerstreik gegen seine Inhaftierung. Es wurde nach einer Gefängniskrankenstation gesucht, in der der streitbare Walliser notfalls zwangsernährt würde, um sein Leben zu retten. Doch Rappaz hatte in einer Patientenverfügung festgehalten, er wolle auch bei Verlust des Bewusstseins nicht zwangsernährt werden. Damit äusserte er seinen freien Willen und es fand sich keine Gefängniskrankenstation, die bereit war, ihn aufzunehmen. In dieser Situation riefen die Walliser Behörden schliesslich das Bundesgericht an. Dieses fällte am 26. August 2010 folgendes Urteil: Sollte eine für den Häftling lebensbedrohliche Situation entstehen, habe eine Zwangsernährung zu erfolgen. Die Reaktion der Ärzteschaft auf dieses Bundesgerichtsurteil (dessen schriftliche Begründung bei Redaktionsschluss noch nicht vorlag) wird im oben zitierten Artikel als «recht heftig» be-
zeichnet. Auch wird ein Professor für Gesundheitsrecht der Universität Neuenburg zitiert, der von einer «traurigen und dramatischen Lage» spricht, in welche die Ärzteschaft durch dieses Urteil geraten sei. In der «Schweizerischen Ärztezeitung» wurde argumentiert, das Bundesgericht habe mit seinem Urteil Ärzten einen Auftrag erteilt, der mit der medizinischen Ethik unvereinbar sei, «das Bundesgericht taste unbedacht einen zentralen Aspekt der Medizin an».
Kommentar Mir scheint, dass die Lage sowohl für das Bundesgericht wie auch für die Ärzteschaft zumindest ungemütlich ist. Die Positionen sind äusserst gegensätzlich: Das Bundesgericht unterstützt eine Zwangsernährung des Häftlings, die Ärzteschaft, die sie auszuführen hätte, lehnt ab. Es scheint, dass Überlegungen zur Begründung des Bundesgerichtsurteils, wie «der Staat darf sich nicht erpressen lassen» («NZZ Online», 27.8.2010), verständlicher sind als diejenigen der Ärzte zu ihrer Opposition gegen das Urteil. Darum hier ein Versuch der Begründung dieser Opposition in Kurzform: Die Ärzte
von Hanswerner Iff
warnen vor einer «Instrumentalisierung der Medizin». Hinter dieser Warnung stehen Bedenken der Ärzte und auch der Pflegeteams, eine Handlung – also die Zwangsernährung – durchführen zu müssen, der sie nicht zustimmen können. Diese Bedenken sind in zwei Paragraphen der Standesregeln festgehalten, die besagen, dass Arzt und Ärztin «keine medizinischen Handlungen (…) vornehmen, welche sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können» und dass «jede medizinische Behandlung unter (...) Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte der Patienten und Patientinnen zu erfolgen hat». Begründet sind diese Grundsätze einerseits mit dem missleiteten Medizinverständnis in manchen Ländern, wo Ärzte zu Handlangern eines staatlichen Regimes degradiert werden sowie andererseits mit der zunehmenden Stärkung des Patientenwillens. Der Hungerstreik von Bernard Rappaz wird von den Ärzten als Protestaktion eines Bürgers, der bei vollem Verstand schriftlich seinen Willen kundtat, bei dieser Aktion auch den Tod in Kauf zu nehmen, beurteilt und damit eine «befohlene» Zwangsernährung abgelehnt. Es wäre anmassend von mir, hier eine Lösung präsentieren zu wollen, angesichts der Komplexität und Vielschichtigkeit der Thematik. Gerade deshalb braucht es eine ausführliche Diskussion, bei der die Argumente aller Beteiligten sorgfältig zur Kenntnis genommen werden.
28SPRECHSTUNDE 4/10