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FORTBILDUNG PSYCHIATRIE
Therapie schwerer Persönlichkeitsstörungen
Persönlichkeitsstörungen zeigen insbesondere in klinischen Kontexten eine sehr hohe Prävalenz. Die Behandlungen sind häufig komplex, aufwändig, emotional aufwühlend und stellen hohe Anforderungen an die Professionalität. Der Artikel stellt Grundsätze und Spezifika in der Behandlung schwerer Persönlichkeitsstörungen dar mit Fokus auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Neben Gemeinsamkeiten und Differenzen von vier manualisierten und evidenzbasierten Psychotherapieverfahren werden Weiterentwicklungen skizziert sowie psychosoziale Interventionen, weitere Aspekte der Versorgung und der Pharmakotherapie aufgezeigt.
von Daniel Sollberger
Persönlichkeitsstörungen (PS) zeigen eine durchschnittliche Prävalenz von 8–12% in der Gesamtbevölkerung und 2% für die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS)
(1,2). Sie sind also häufig. Die Punktprävalenz von BPS liegt
geschätzt bei 1%, während 22% der psychiatrisch-stationä-
ren und 12% der ambulanten Patienten eine
BPS aufweisen (3). Trotz hoher Remissi-
onsraten im Langzeitverlauf – 40–60%
innerhalb von 2 Jahren (4), sympto-
matische Remission bei Patienten
mit einer BPS von sogar 90% inner-
halb von 10 Jahren (5) –, bleiben
viele der Betroffenen in ihrer All-
tagsfunktionalität, der persönli-
chen Leistungsfähigkeit und ihrer
Daniel Sollberger
(Foto: zVg)
sozialen Reintegration auf einem psychosozial eingeschränkten Niveau. Eine PS wiegt hinsichtlich der
Einschränkungen der Lebensquali-
tät sogar schwerer als soziodemografische Variablen, somati-
sche Erkrankungen oder andere psychiatrische Störungen (6).
Die Behandlung von Menschen mit einer PS ist somit in Bezug
auf die Betroffenen und ihr soziales Umfeld, wie auch aus ge-
sundheitsökonomischen und volkswirtschaftlichen Gründen
von erheblicher Bedeutung.
Die fruchtbaren Diskussionen um die Konzeptualisierungen
der Diagnose «Persönlichkeitsstörung» haben sowohl in der
amerikanischen Klassifikation des DSM-5 (2013) wie auch in
jener der WHO mit ICD-11 (2022) zu einer Verlagerung eines
kategorialen hin zu einem dimensionalen Diagnosemuster ge-
führt.
Die Arbeiten verschiedener Forschungsgruppen resultieren
in den letzten 30 Jahren zu diesen Re-Konzeptualisierungen
und damit einhergehend zu Fortschritten in der Behandlung
dieser Störungsbilder. Im Gegensatz zur ICD-10-Nomen-
klatur werden diagnostisch nicht mehr acht spezifische, kate-
gorial eingeordnete PS unterschieden, sondern zunächst
übergreifende Aspekte des Selbst (d.h. Identität, Selbstwert,
Richtigkeit des Selbstbildes, Selbststeuerung) und der interpersonellen Beziehungsgestaltung (Fähigkeit, nahe und wechselseitig befriedigende Beziehungen zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, die Perspektive anderer einnehmen sowie Konflikte adäquat lösen zu können) untersucht – ähnlich wie im DSM-5 (Identität mit Charakteristika des Selbst und der Zielorientierung einerseits und Empathie und Intimität als Aspekte der interpersonellen Beziehungen andererseits). Die Einschränkungen werden graduell nach Schweregrad eingeteilt und in einem weiteren Schritt dann in Anlehnung an das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit (7) mit spezifischen Merkmalen differenziert (negative Affektivität, Dissozialität, Enthemmung, Zwanghaftigkeit und Distanziertheit).
Unübersehbar zeigt sich in den konzeptuellen diagnostischen Veränderungen eine Verschiebung hin zu einem Spektrumdenken, wie es bei verschiedenen psychiatrischen Störungen auszumachen ist (z.B. Autismusspektrumstörungen). Zum andern ist der Einfluss der grundlegenden Arbeiten von O. F. Kernberg erkennbar: Er hatte sich seit den 1970er-Jahren in Klinik und Forschung um die Integration von psychodynamischen Verständnisweisen (dimensional) und psychiatrischklassifikatorischen Einteilungen (kategorial bzw. typologisch) bemüht und die jetzt sowohl in DSM-5, Section III wie in der ICD-11 etablierten Eingangskriterien für die Diagnose einer PS ausgearbeitet (8,9).
Therapie der schweren PS Von den neun europäischen Leitlinien zur Behandlung von PS beziehen sich fünf ausschliesslich auf die BPS, eine auf die antisoziale PS und drei auf PS insgesamt (10). Empirische Evidenz liegt ausschliesslich für die Behandlung der BPS vor, die in den Guidelines des National Institute for Health and Clinical Experience (NICE) (11) aus dem Jahr 2009 dargelegt sind und in einem «surveillance report» 2018, basierend auf den ausführlichen australischen Leitlinien (12), überarbeitet wurden.
Die Psychotherapie ist Behandlung der Wahl, während die Pharmakotherapie nur eine begleitende Rolle einnimmt. In der vorliegenden Übersicht sollen vier ausgearbeitete psy-
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chotherapeutische Konzepte skizziert und ein Ausblick auf weitere Entwicklungen gegeben werden. Es folgen ein paar allgemeine kurze Hinweise zu Versorgungsaspekten, zur Behandlung komorbider Störungen, psychosozialen Interventionen sowie zur Pharmakotherapie.
Aus Platzgründen beschränke ich mich auf die Behandlung von Erwachsenen und fokussiere zudem die Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen, insbesondere die Borderlinestörung. Sie gehört zu den häufigsten schweren PS.
Psychotherapeutische Verfahren Vier Psychotherapieverfahren sind empirisch gut untersucht und in ihrer Wirksamkeit belegt. Neben der Dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) nach M. M. Linehan (14,15) mit den meisten positiven Wirksamkeitsstudien und dem derzeit höchsten Evidenzgrad liegen mittlerweile drei weitere manualisierte, evidenzbasierte störungsspezifische Behandlungskonzepte vor (16).
Zusammengefasst sind dies auf verhaltenstherapeutischer Seite: • die genannte Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) und • die Schemafokussierte Therapie (SFT) nach J. E. Young (17).
Auf psychodynamischer Seite sind dies: • die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) nach A. W. Ba-
teman und P. Fonagy (18) und • die Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP, Transfe-
rence-Focused Psychotherapy) nach O. F. Kernberg (19).
Allen vier Therapieformen liegen gemeinsame basale Behandlungsprinzipien zugrunde (20,21,25): • Hierarchisierung der therapeutischen Foci mit Abstufung
der Dringlichkeit der zu behandelnden Themen • klare Rahmenbedingungen und Therapievereinbarungen,
die dem Schutz der Therapie gelten, Problemsituationen antizipieren helfen und sekundäre Krankheitsgewinne verhindern sollen sowie der Prüfung der Motivation und Kanalisierung der psychischen Dynamik dienen (z.B. Therapiezielsetzungen, Umgang mit Krisen, Suizidalität und selbstschädigendem Verhalten, Regeln zur Rolle von Patient und Therapeut, Erreichbar- und Verfügbarkeit von Therapeuten) • Motivation und Aufforderung zur aktiven Mitarbeit und Verantwortungsübernahme für die Therapie • Herstellen einer tragfähigen therapeutischen Beziehung: hohe Beziehungsintensität mit Beachtung und Analyse der emotionalen (Gegen-)Übertragungsreaktionen mit der Grundhaltung, aufmerksam, neugierig und verständnisvoll zu sein (Vermeidung eines Gegenübertragungsagierens) • Therapiesupervision zur Selbstreflexion, Reflexion der Beziehungsgestaltung, emotionalen Regulation und Entlastung. Differenzen und Besonderheiten ergeben sich in den verschiedenen Verfahren aufgrund ihrer zugrundeliegenden Konzeptualisierungen der Störungsbilder, sodass entsprechend auch unterschiedliche Zielparameter für die Therapie im Zen-
trum liegen. Während kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze klassische Interventionen wie Entspannungsverfahren zur Reduktion des Grundanspannungsniveaus, Desensibilisierungsübungen und Expositionen in vivo sowie Rollenspiele zum Aufbau von sozialen Fertigkeiten und zur Verbesserung des Selbstwerts einsetzen, arbeiten psychodynamische Verfahren eher in der Übertragungssituation der Therapie an reflexiven Funktionen, Selbst- und Objektrepräsentationen und interaktionellen Beziehungsaspekten. Gruppentherapeutische Ansätze bieten hier optimale Bedingungen, um die Schwierigkeiten der Patienten im Hier und Jetzt zu bearbeiten, indem sie gewissermassen bereits eine Exposition in vivo bedeuten, in welcher die relevanten und kognitiv thematisierbaren Probleme auch implizit und emotional erleb- und bearbeitbar sind und ein Lernen am Modell möglich wird.
Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Die DBT erkennt in der BPS eine emotionale Regulationsstörung und fokussiert in der Behandlung eine entsprechende Symptomatik: die emotionale Dysregulation, Impulskontrollprobleme, das selbstverletzende und andere dysfunktionale Verhaltensweisen, Suizidversuche sowie dissoziative Tendenzen. Die psychotherapeutische Arbeit orientiert sich in Erweiterung der den kognitiven Therapien eigenen Umstrukturierung kognitiver Grundannahmen am Erlernen von funktionalen Bewältigungsmechanismen («Fertigkeiten»): innere Achtsamkeit, Fertigkeiten zur Stresstoleranz, Emotionsmodulation («Umgang mit Gefühlen») und zwischenmenschliche Fertigkeiten (14,15). In der Grundhaltung der Therapie wird in Anlehnung an Elemente des Zen-Buddhismus eine dialektische Balance zwischen Akzeptanz und Validierung dysfunktionaler Verhaltensweisen einerseits und einer Veränderungsorientierung und -motivation andererseits gesucht.
Schematherapie Die Schematherapie dagegen fokussiert im Blick auf die BPS ein Muster frühkindlicher maladaptiver Schemata. Es sind dies auf Erinnerungen, Emotionen, Kognitionen und Körperempfindungen basierende Muster (traits), die in bestimmten Zuständen (states) aktualisiert werden und in dysfunktionaler Weise als Modi des Selbst in Erscheinung treten. Gepaart mit bestimmten Copingstilen wie Vermeidung, Unterwerfung oder Überkompensation bilden sie gewissermassen die innere Bühne der zwischenmenschlichen Interaktionen. Kernansatzpunkt der Schematherapie ist es entsprechend, die zentralen Modi in ihren raschen Wechseln zu identifizieren und in Imaginationsoder Dialogübungen («Stühlearbeit») zu bearbeiten.
Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) Die MBT basiert auf einer Konzeption schwerer Persönlichkeitsstörung, wonach die Mentalisierung, d.h. die Fähigkeit, sich selbst «von aussen» und andere «von innen» zu sehen («holding one’s [own and other’s] mind in mind» [22]) eingeschränkt ist. Beeinflusst ist das Konzept unter anderem durch die «Theory of Mind», die Bindungsforschung und die intersubjektive Psychoanalyse. Die Beeinträchtigung des Mentali-
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sierens hat schwerwiegende Störungen in der Affekt- und Selbstregulation im interpersonellen Kontext zur Folge. In bindungsrelevanten Situationen bricht die Fähigkeit zum Mentalisieren ein, sodass verschiedene prämentalistische Modi vorherrschen (teleologischer Modus, Äquivalenzmodus, Als-ob-Modus), die als Ausdruck einer bedrohten Selbstkohärenz identifiziert und in Richtung einer (Wieder-)Herstellung gemeinsamen Mentalisierens bearbeitet werden.
Übertragungsfokussierte Therapie (TFP) Die TFP geht von der Annahme aus, dass die mentale Innenwelt von Patienten von internalisierten Beziehungsmustern (Objektbeziehungsdyaden) geprägt ist, die in «gute» und «böse» Anteile gespalten sind, sodass sowohl das Selbstbild wie jenes bedeutsamer anderer partialisiert und nicht zu einer Ganzheit und Identität einer Person integriert ist. Korrespondierend zu dieser Identitätsdiffusion dominieren unreife Abwehrmechanismen wie u.a. Projektion, projektive Identifikation, Spaltung, die meist chaotische Interaktionen zur Folge haben – auch in der Therapie, wo sie in der Übertragungsbeziehung unter Aufrechterhaltung der technischen Neutralität mittels Klärung, Konfrontation und Deutung bearbeitet werden. So mag eine Patientin beispielsweise in einem Erstgespräch ihren unbewussten Wunsch nach Nähe projektiv auf den Therapeuten übertragen, indem sie ihn dazu bringt, sich ihr mit vertiefenden Fragen zuzuwenden («Sie sind der Erste, der mich ernsthaft zu verstehen sucht»). In der Folge wird das Nachfragen dann aber von der Patientin als intrusiv und übergriffig erlebt, sodass die eigenen verletzlichen Nähewünsche nicht nur auf den Therapeuten projiziert, sondern in ihm, der sich mit den Wünschen identifiziert, auch abgewehrt werden. Ziel der therapeutischen Arbeit ist die Auflösung der Identitätsdiffusion mittels Identifikation solcher oszillierenden Objektbeziehungsdyaden und einer zunehmenden Integration abgespaltener positiver und negativer Übertragungen.
Beide, MBT wie TFP, fokussieren die dominanten Affekte und die damit zusammenhängenden Kognitionen. Die TFP wählt ihren Ansatzpunkt aber in der Arbeit in und an der Übertragungsbeziehung, in der Annahme, dass die Selbst- und Objektrepräsentanzen in abgespaltener Form vorhanden sind und in der therapeutischen Beziehung aktualisiert werden. Die MBT geht dagegen davon aus, dass das Selbst von Patienten von einem nicht entwickelten fremden Selbstanteil («alien self») geprägt ist, sodass sich Therapeuten gewissermassen als «Entwicklungsobjekte» in ihrem Selbsterleben als «reale» Personen – auch selbstoffenbarend («self-disclosure») – anbieten.
Weiterentwicklungen der Therapiestrategien Zu beobachten sind zwei Tendenzen in der Weiterentwicklung der Therapiestrategien: Zum einen werden die bisherigen Psychotherapieverfahren in ihrer Indikationsstellung geprüft mit Hinweisen, dass die DBT möglicherweise eher bei eng traumaassoziierter und dissoziativer Symptomatik indiziert ist, während etwa die TFP eher im Bereich der Impuls- und Aggressionskontrolle sowie hinsichtlich Veränderungen in der
Persönlichkeitsstruktur angezeigt ist (25). Dabei ist auch eine Ausweitung der Indikationsstellungen auf verschiedene PS sowie andere psychiatrische Störungen zu sehen, was auf ein vertieftes Verständnis der den Funktionseinschränkungen zugrundeliegenden strukturellen Schwächen und psychodynamischen Konflikte zurückzuführen ist. Zum anderen werden mit Abstand von einer kategorialen Diagnostik zugunsten eines dimensionalen Verständnisses neu einzelne maladaptive Persönlichkeitsmerkmale (negative Affektivität, Dissozialität, Enthemmung, Distanziertheit) fokussiert und in sogenannt «modularer Psychotherapie» einzeln behandelt (23). Evidenzbasierte, spezifische wie unspezifische Techniken sollen auf einzelne Funktionsbeeinträchtigungen abzielen, so etwa ein Skills-Training auf die negative Affektivität, mentalisierungsbasierte Techniken auf die Dissozialität mit dem Ziel einer Verbesserung der Empathiefähigkeit oder ein neurokognitives Training (mit Fokus Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen) auf die Enthemmung.
Inwieweit der Verlust kategorialer Einteilungen von PS – die als qualitative Typologie ja durchaus auch heuristischen Wert hatten – und die Modularisierung einer psychotherapeutischen Arbeit zu einer Verbesserung einzelner Funktionalitäten führt und nicht die Person in ihrer Identität und Integrität aus dem Blick verliert, wird sich zeigen müssen.
Therapiesettings, Behandlung komorbider Störungen und psychosoziale Interventionen (13) Das ambulante Setting steht in der Behandlung von PS im Vordergrund. Die Indikation für eine stationäre oder teilstationäre Behandlung liegt in zweierlei Hinsicht vor: Zum einen dienen kurzfristige und begrenzte stationäre Kriseninterventionen der Bewältigung einer nicht kontrollierbaren Suizidalität, vorübergehenden psychotischen Symptomen, ausgeprägten panikartigen Ängsten, einem exazerbierten Suchtverhalten oder einem Zusammenbruch des sozialen Netzwerks. Zum anderen gibt es Evidenz für die elektive stationäre Behandlung in einem 12-Wochen-Behandlungsprogramm als Einleitung einer ambulanten Therapie (24).
Zu achten ist bei längeren stationären und teilstationären Behandlungen auf das hohe Regressionspotenzial dieses Klientels. Entsprechend basieren alle störungsspezifischen Therapieprogramme auf klaren Vereinbarungen, die u.a. die Rehospitalisierungstendenzen zu minimieren versuchen und die Kooperation mit involvierten Fachpersonen umfassen. Die schwierigen interaktionellen Dynamiken, die emotionalen Herausforderungen und teilweise heftigen Gegenübertragungsreaktionen verlangen die Schulung von Fachpersonen sowie eine regelmässige und kontinuierliche Super- oder Intervision der Therapien. Auch liegt es nahe, Angehörige in die Erstellung von Krisenplänen miteinzubeziehen, sie im hilfreichen Umgang mit Betroffenen zu beraten (empathisch und nicht-wertend sein, Gehör und Aufmerksamkeit schenken sowie Betroffene zur Unabhängigkeit ermutigen) und die Patienten selbst für eine Kooperation zu motivieren.
PS sind mit hohen psychischen und somatischen Komorbiditäten belastet. Sie sollten nicht übersehen werden, so etwa
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MERKPUNKTE
• Die Therapie schwerer Persönlichkeitsstörungen ist komplex und aufwändig und stellt deshalb hohe Anforderungen an die Professionalität der Behandelnden.
• Die Psychotherapie ist die Methode der Wahl und sollte, wenn immer möglich, im ambulanten Setting von geschulten Therapeuten durchgeführt und mit psychosozialen Interventionen gepaart werden. Vier manualisierte, evidenzbasierte Verfahren sind hinsichtlich ihrer Wirksamkeit gut untersucht: DBT und Schematherapie aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Richtung, MBT und TFP psychodynamischer Provenienz.
• Weiterentwicklungen in der Psychotherapie zielen einerseits mit modularen Vorgehensweisen auf spezifische Funktionseinschränkungen, andererseits auf die persönlichkeitsstrukturelle Integration, bei der die Identität der Person als Ganze im Blick steht.
• Medikamente spielen eine untergeordnete Rolle in der Behandlung; es liegt keine empirische Evidenz für deren Wirksamkeit vor, sodass möglichst darauf verzichtet oder eine spezifische Zielsymptomatik indiziert und so kurz wie möglich behandelt werden sollte.
komplexe PTSD, ADHS, bipolare oder schwere substanzbezogene Störungen sowie Essstörungen mit lebensbedrohlichen Konsequenzen. Dabei sind kombinierte manualisierte Behandlungsansätze effektiver als die alleinige Behandlung der komorbiden Störung (20,13) und bedürfen eines Gesamtbehandlungsplans, bei dem die behandlungsführende Person nach Möglichkeit vertieft Kenntnis im Bereich von Persönlichkeitsstörungen aufweisen sollte.
Die S3-Leitlinie weist zudem auf die grosse Bedeutung psychosozialer Interventionen in der Gesamtbehandlung schwerer PS hin. Zu nennen sind therapeutische bzw. betreute Wohngruppen, die Patienten mit Erfahrungen aus schwierigen psychosozialen Verhältnissen in einem stabilen, sozialpädagogisch geprägten Rahmen helfen, Vertrauen in eigene Fähigkeiten und die Verantwortung anderer zu entwickeln, sodass angemessene Individuationsprozesse möglich werden.
Integrierte Behandlungsmodelle mit einer guten Abstimmung involvierter Fachpersonen (also auch Notfallstationen, Wohneinrichtungen, Sozialdienste u.a.m.) und die Koordination von Vorgehensweisen in multimodalen Therapiestrategien gilt es zu fördern.
Pharmakotherapie Es bestehen keine Evidenzen für die Pharmakotherapie der PS. Medikamente sind allenfalls bei Identifikation einer spezifischen Zielsymptomatik oder Komorbidität empfohlen. Die Schweizer Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie SGPP empfiehlt für die BPS (25) einzelne Medikamente lediglich für Krisensituationen und für eine begrenzte Zeit, so etwa Stimmungsstabilisatoren (Lamotrigin, Topiramat) zur Unterstützung einer Aggressions- und Impulsregulation, atypische
Neuroleptika (Quetiapin, Aripiprazol) für dissoziative oder transiente kognitiv-perzeptive Symptome (Realitätswahrnehmungsverzerrungen, paranoide Vorstellungen) und eine Irritabilität insgesamt. Auf die Gabe von Antidepressiva sollte ganz verzichtet werden, es sei denn, es liege eine diagnostizierte Major Depression vor. Ebenso wird aufgrund des Abhängigkeitsrisikos und einer Verminderung der Impulsivitätsschwelle von der Gabe von Benzodiazpinen abgeraten.
Entgegen den konsensuellen Empfehlungen zeigt die klinische Realität ein ganz anderes Bild. So nehmen 80% der Patienten mit einer diagnostizierten BPS mindestens ein Psychopharmakon ein und 20% sogar mehr als vier verschiedene (26,27), was nicht zuletzt auf störungsspezifische Dynamiken zurückzuführen ist, wonach Behandelnde einem interaktionellen Druck nachgeben und Medikamente verschreiben, für deren Einsatz es keine Evidenz gibt. Eine Polypharmazie sollte demnach vermieden werden und Psychopharmaka so wenig und so kurzzeitig wie möglich zum Einsatz kommen (13).
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Dr. phil. Daniel Sollberger Stv. ärztlicher Direktor und Chefarzt SPP Erwachsenenpsychiatrie Baselland Bienentalstrasse 7 4410 Liestal E-Mail: daniel.sollberger@pbl.ch
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