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EDITORIAL
Migränedarm mit Charme
Die Beziehung zwischen dem Hirn und dem Magen-Darm-Trakt, im Kontext der Darm-Hirn-Achse («gut brain axis»), ist seit einigen Jahrzehnten Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Forschung. Die bidirektionale Kommunikationsachse zwischen dem zentralen Nervensystem und dem gastrointestinalen System spielt bei verschiedenen neurologischen Störungen, sowohl neurodegenerativ wie z.B. bei Morbus Parkinson und bei Morbus Alzheimer, aber auch autoimmun-entzündlich, wie bei der Multiplen Sklerose eine wichtige Rolle (1). Die Migräneforschung hinkt hier ein bisschen hinterher, aber auch sie beginnt sich für die Rolle des Mikrobioms oder auch des enterischen Nervensystems zu interessieren (2,3).
Mögliche Zusammenhänge zwischen Darm und Migräne Dabei ist der Zusammenhang doch so naheliegend: Den meisten Patienten aber auch den Klinikern sind die gastrointestinalen Begleitsymptome der Migräne, nämlich Übelkeit und Erbrechen, bestens bekannt. Wer Kinder und Jugendliche behandelt, sollte auch die Migränevorstufen kennen, die abdominelle Migräne, das zyklische Erbrechen oder auch aus dem Appendix der ICHD-3 (Internationale Klassifikation der Kopfschmerzerkrankungen, 3. Auflage): die infantilen Koliken. Zahlreiche Studien zeigen zudem, dass Migräne häufig mit gastrointestinalen Störungen wie dem Reizdarmsyndrom (IBS), Zöliakie und sogar Helicobacter-pylori-Infektionen assoziiert sein kann. All dies deutet darauf hin, dass Veränderungen im Magen-DarmTrakt die Migräne beeinflussen könnten. Ein möglicher Mechanismus ist die Veränderung des Darmmikrobioms, die über die
Darm-Hirn-Achse das zentrale Nervensystem beeinflusst (2). Entzündungsmediatoren wie Interleukine könnten hierbei eine Rolle spielen, ebenso wie Neuropeptide und der Serotoninstoffwechsel.
Therapeutische Aspekte und die Rolle von CGRP Bahnbrechende Ergebnisse aus Grundlagenforschung und klinischen Studien fokussierten sich in den letzten bald 40 Jahren auf das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP). Das CGRP ist ein Neuropeptid, das als zentraler Mediator bei der Entstehung von Migränekopfschmerzen gilt. Es sind zwei Isoformen bekannt, α-CGRP und β-CGRP, die sich in drei Aminosäuren voneinander unterscheiden. Eine Bindung erfolgt an die CGRP-Rezeptoren durch Ähnlichkeit mit weiteren Vertretern aus der Peptid-Familie, dem Adrenomedullin oder Amylin, aber auch mit deren Rezeptoren. Im afferenten Nervensystem wird α-CGRP vor allem in den nozizeptiven Neuronen gebildet, die höchste Konzentration findet man im Ganglion trigeminale (4). Die Beta-Form ist deutlich weniger untersucht und findet sich wiederum vermehrt im Gastrointestinaltrakt. Während einer Migräneattacke sind die CGRP-Spiegel im Blut erhöht, und die Injektion von CGRP kann bei Migränepatienten Anfälle auslösen. Diese Erkenntnisse haben zur Entwicklung von Gepanten und CGRP-Antikörpern geführt, die spezifisch für die Migräneprophylaxe entwickelt wurden (5). In der vorliegenden Ausgabe finden sie zwei Artikel, die sich mit den neuen Substanzen und den daraus resultierenden Veränderungen der Therapielandschaft befassen (6,7). Neuere Studien deuten darauf hin, dass die Aktivierung von CGRP nicht der alleini-
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ge Auslöser für Migränekopfschmerzen ist, sondern auch andere Mechanismen, z.B. via Hypophysen-Adenylatcyclase-aktivierende Polypeptid (PACAP) und Erhöhung von zyklischem Adenosinmonophosphat (cAMP), eine Rolle spielen können. Dies eröffnet weitere Perspektiven für die Entwicklung von Therapien (8).
Einfluss des Darmmikrobioms auf die Migräne Das Darmmikrobiom spielt eine entscheidende Rolle in der Darm-Hirn-Achse und könnte somit auch Einfluss auf die Migräne haben. Verschiedene kleinere kontrollierte Studien der letzten Jahre untersuchten die Wirkung von Probiotika ohne oder mit Präbiotika (in Kombination Synbiotika*) auf Migränecharakteristika bei verschiedenen Migränepopulationen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Supplementierung mit Synbiotika die Häufigkeit der Migräneattacken reduzierte und gleichzeitig Entzündungsmarker sowie die Darmpermeabilität verbesserte (9–11). Diese Erkenntnisse unterstreichen die potenzielle Bedeutung des Darmmikrobioms bei der Modulation von Migräne und legen nahe, dass diätetische Interventionen, die das Mikrobiom positiv beeinflussen, eine ergänzende Therapie darstellen könnten.
Fazit Vor einigen Jahren meinte mein damaliger Mentor: «Schau den Regenwurm an. Wenige Neurone steuern einen langen Darmschlauch zum Essen. Der Darm spielt phylogenetisch eine wichtige Rolle». Die komplexe Interaktion zwischen dem MagenDarm-Trakt und dem zentralen Nervensystem spielt eine bedeutende Rolle bei der Entstehung und dem Verlauf von neurologischen Krankheiten, wie auch bei der Migräne. Neuropeptide wie CGRP sind zentrale Mediatoren in diesem Prozess, doch auch andere Signalwege und das Darmmikrobiom könnten das Migränegeschehen beeinflussen. Zukünftige Forschungen sollten diese Zusammenhänge weiter untersuchen, vor allem sollte auch vermehrt auf translationale und somit
disziplinübergreifende Forschung Wert gelegt werden, um neue therapeutische Ansätze zu entwickeln, die sowohl auf neuronale als auch auf gastrointestinale Komponenten der Migräne abzielen.
Eine interessante Lektüre wünscht Ihnen Prof. Dr. med. Andreas R. Gantenbein Neurologie am Untertor, Bülach Medical Advisor, ZURZACH Care, Bad Zurzach E-Mail: andreas.gantenbein@zurzachcare.ch
* Probiotika bestehen aus lebenden Mikroorganismen (Bakterien, Pilze, Hefen), die einen gesundheitlichen Nutzen für Menschen bringen können. Präbiotika sind unverdauliche Bestandteile (Ballaststoffe), die auch als Nahrung für die Organismen dienen können. Synbiotika bezeichnen die Kombinationen, entweder aus Probiotika und Präbiotika oder Mikroorganismen und einem spezifischen Substrat für diese. Postbiotika bestehen wiederum aus leblosen Mikroorganismen und/oder deren Zellkomponenten.
Referenzen: 1. Hajjeh O et al.: Enteric nervous system dysfunction as a
driver of central nervous system disorders: The Forgotten brain in neurological disease. Neuroscience. 2025;S0306-4522(25)00216-7. 2. Zhang N et al.: The Gut Microbiome and Migraine: Updates in Understanding. Curr Neurol Neurosci Rep. 2025;25(1):20. 3. de Mora F et al.: Is calcitonin gene-related peptide (CGRP) the missing link in food histamine-induced migraine? A review of functional gut-to-trigeminovascular system connections. Drug Discov Today. 2024;29(4):103941. 4. Messlinger K et al.: Bedeutung des Neuropeptids CGRP bei primären Kopfschmerzen. Psychopharmakotherapie 2017;24:44–55. 5. Sandor P, Gantenbein A: Monoklonale Antikörper bei Migräne: Noch fehlt die Langzeiterfahrung. Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie+Neurologie. 2020;3:25 6. Pohl H: Gepante im klinischen Alltag. Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie+Neurologie. 2025;1:XY 7. Riederer F et al.: Wird es den Medikamentenübergebrauchskopfschmerz es in Zukunft nicht mehr geben? Eine kritische Betrachtung. Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie+Neurologie. 2025;1:XY 8. Ashina H et al.: Pituitary adenylate cyclase-activating polypeptide signalling as a therapeutic target in migraine. Nat Rev Neurol. 2024 Nov;20(11):660-670. 9. Tirani SA et al.: Effects of probiotic and vitamin D co-supplementation on clinical symptoms, mental health, and inflammation in adult patients with migraine headache: a randomized, triple-blinded, placebo-controlled trial. BMC Med. 2024;22(1):457. 10. Bazmamoum H, Keshtkarsohi B, Mohammadi Y, Fayyazi A. Efficacy of Probiotics in Prevention of Migraine Attacks in Children: A Randomized Clinical Trial Study. Iran J Child Neurol. 2024;18(2):103-112. 11. Ghavami A et al.: Effect of synbiotic supplementation on migraine characteristics and inflammatory biomarkers in women with migraine: Results of a randomized controlled trial. Pharmacol Res. 2021;169:105668.
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