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FORTBILDUNG PSYCHIATRIE
Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS)
Umgang im notfallpsychiatrischen Behandlungssetting
Die aktuellen Leitlinien zur Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung geben klare Empfehlungen für den Umgang mit maladaptiven Verhaltensmustern wie Selbstverletzungen oder Kommunikation von Suizidalität. Die Herausforderung ist die Umsetzung im notfall- und akutpsychiatrischen Setting wo häufig noch Massnahmen ohne Zustimmung eingesetzt werden. Mit dem Kompetenzzentrum für Borderline-Störungen haben die Psychiatrische Dienste Aargau (PDAG) ein Programm entwickelt, um die Leitlinien umzusetzen und weitestgehend auf diese Massnahmen zu verzichten.
von Michel Dang1 und Marc Walter2
Einleitung
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) wird in interna-
tionalen Studien mit einer Prävalenzrate zu 0,8-2% beschrie-
ben (1,2). Dennoch machen sie einen Anteil von
zirka 10% bei den ambulanten und zirka 20%
bei den stationären Patienten in der Psychi-
atrie aus (3,4). Bei Jugendlichen liegt die
Prävalenz im Behandlungssetting bei bis
zu 35% (5,6). Die Besonderheit in der Dia-
gnostik und Behandlung durch diese
Patientengruppe wird dadurch unterstri-
chen, dass sie als einziger Persönlich-
keitsstörungstyp im ICD-11 übernom-
Michel Dang
(Foto: zVg)
men wurde, und dass die Diagnose der Persönlichkeitsstörung bereits ab dem
12. Lebensjahr gestellt werden kann
(7,8). Der Umgang mit Patienten mit BPS
wird deswegen auch zunehmend relevant
für die Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Patienten mit einer BPS stellen sich
im notfall- und akutstationären Setting
meist in akuten Krisensituationen vor.
Auslöser können plötzlich auftreten oder
meist nach Konflikten mit ihrem familiä-
ren Umfeld, ihrer/ihrem Partner/in oder
Marc Walter
(Foto: zVg)
Bekanntenkreis vor. In den Krisen berichten die Patienten von hohen psychischen Anspannungszuständen, in de-
nen sie sich selbstverletzt haben. Auch
können Suizidgedanken auftreten und Suizidversuche erfol-
gen. Bei der näheren Anamneseerhebung der Suizidgedanken
stellt sich aber meist heraus, dass diese entweder chronisch
bestehen oder eine fürsorgende Reaktion aus ihrem sozialen
1,2 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Dienste Aargau AG (PDAG), Windisch
Umfeld, den Blaulichtorganisationen oder vom medizinischen Versorgungssystem hervorrufen sollen. In der retrospektiven Besprechung und Analyse der Suizidversuche bei BPS stellt sich meist der Wunsch nach einer Reaktion und einer vermeintlichen «Rettung» heraus.
Langfristig erfüllen 90% Patienten 10–16 Jahre nach evidenzbasierter Behandlung die BPS-Diagnose nicht mehr (9). Die akute, krisenhafte Symptomatik (impulsive Handlung, Selbstverletzungen und Suizidversuche) nimmt im Verlauf ab, während die affektiven und interpersonellen Symptome bestehen bleiben. Bei einer Follow-up-Studie zeigte sich jedoch, dass 10% der Patientengruppe nach mehreren gescheiterten Behandlungsversuchen einen Suizid begingen (10).
In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) (11) und der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) (12) wird ein primär ambulantes Behandlungssetting empfohlen. Dies aufgrund des Konsenses, dass die Betroffenen in hohem Masse sensitiv für «dysfunktionale Zuwendungen» durch Behandelnde und Mitpatienten sind, die sie durch «maladaptive Verhaltensmuster» ihrer Bedürfnisse (Selbstverletzungen, dissoziative Anfälle oder suizidale Kommunikation) erhalten.
Diese «maladaptiven Verhaltensmuster» entwickeln sich wahrscheinlich aus frühkindlichen Überlebensstrategien, die die Betroffenen gelernt haben, um mit den Personen in Ihrer Umwelt interagieren zu können. In Longitudinalstudien haben sich als Prädiktoren physischer Missbrauch und Vernachlässigung, sexueller Missbrauch (13), frühe Hyperaktivität im Vorund Grundschulalter (14) und problematisches Erziehungsverhalten(inkonsistentundüberinvolviert)(15)herausgestellt. Ausgehend von diesen problematischen Interaktionen haben die Betroffenen in hohem Masse kognitive und emotionale Empathie zur Einschätzung der Interaktionspartner erlernt. Darauf basierend werden dann unterschiedliche manipulative Strategien angewendet, um Situationen wie Vernachlässigung
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oder fehlende fürsorgliche Beziehungsmuster aufzulösen (16). Da aber auch die manipulativen Strategien nicht konsistent die gewünschte Reaktion hervorrufen, werden immer mehr Strategien entwickelt. Dies führt zu einem Teufelskreis, in dem der Inhalt der Manipulation immer mehr eskaliert und dann häufig in einem «maladaptiven Verhaltensmuster» endet.
Weitere retrospektiv und korrelative Ursachen der maladaptiven Verhaltensmuster stellen auch Veränderungen in der fronto-limbischen Regionen des Gehirnes in cMRT-Studien dar. Die Reduktion der Aktivität im vorderen Teil des cingulären Cortex und der Amygdala führen zu Einschränkungen der exekutiven Funktionen, der sozialen Kognition und Emotionsregulation. So ist dann die Erkennung und Bewertung sozialer Prozesse und die belohnungsbasierte Entscheidungsfindung und deren verbundenen Lernprozesse gestört. Auch eine erblich bedingte Einschränkung der neurobiologischen Ursache konnte in Zwillingsstudien nachgewiesen werden (17).
Die erlernten maladaptiven Verhaltensmuster im Teufelskreis führen zu einer zunehmenden Isolierung und Entfremdung aus dem eigenen sozialen Umfeld. Zwangsläufig führen diese Verhaltensmuster zum Kontakt mit den Blaulichtorganisationen und dem Gesundheitssystem im Allgemeinen. Diese stellen eine aufgrund des gesetzlichen Versorgungsauftrages und des berufsethischen Selbstverständnisses eine für die BPS-Patienten immer verfügbare und zuverlässig reagierende Struktur dar. Aufgrund der diagnostischen, Behandlungsund Reaktionsalgorithmen (z.B. auf einer Notfallstation) erhalten die Patienten immer pflegerischen und ärztlichen Kontakt bei Vorstellung einer Wunde, oder die Polizei muss immer auf einen Notruf reagieren.
Im stationären, akutpsychiatrischen Setting erfolgen auf wiederkehrende Selbstverletzungen und Suizidalität häufig Massnahmen ohne Zustimmungen (sog. Zwangsmassnahmen). wie z.B. Medikation ohne Zustimmung, 1:1-Betreuungen oder gar «Schutzisolationen» oder «Schutzfixierungen». Diese Massnahmen werden angewendet, obwohl sie im Verlauf nicht nur nicht hilfreich sind, sondern durch Retraumatisierung auch zu einer Verfestigung der maladaptiven Muster und damit zu einer Chronifizierung der Persönlichkeitsstörung beitragen können.
Die somatischen und psychiatrischen Notfall- und Akutstationen werden hier vor besondere Herausforderungen gestellt, da die empfohlenen Behandlungsalgorithmen bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung kontraintuitiv zu den gewohnten Mustern des Helfens stehen. So wird beispielsweise bei der Depression ein ausschliesslich supportiver Umgang auch in Notfallsituationen beschrieben und bei akuter Suizidalität eine 1:1-Betreuung empfohlen (18).
In den Psychiatrischen Diensten Aargau (PDAG) wurden daher im Zentrum für integrierte Notfallpsychiatrie und Krisenintervention (ZINK) spezielle Aufnahme- und Behandlungsalgorithmen für die Patientengruppe im notfallpsychiatrischen Setting entwickelt. Dieses «Borderline-Kompentenzzentrum» dient zum akutpsychiatrischen Management der Patienten mit BPS. Das Ziel ist die kurz- bis mittelfristige Stabilisierung im ersten Schritt, um die Fähigkeit für den Beginn einer störungsspe-
zifischen Psychotherapie im weiteren Verlauf zu entwickeln. Daher wird sowohl die ambulante als auch die stationäre Behandlung der BPS in eine Akutphase und in eine psychotherapeutische Phase aufgeteilt.
In den Leitlinien der DGPPN (11) und SGPP (12) wird nach Auswertung der vorliegenden Metaanalysen ausschliesslich eine Behandlung in den BPS-störungsspezifischen Psychotherapieformen empfohlen. Die am besten untersuchten Methoden sind die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) nach Linehan (19) und die mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) nach Bateman und Fonagy (20). Als evidenzbasiert gilt zudem die übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transferencefocused Psychotherapy) nach Kernberg (21). In neueren Studien wurde auch die Wirksamkeit der Schematherapie eindrucksvoll nachgewiesen (22). Bei einer nicht-spezifischen psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung der BPS droht eine Verschlechterung oder auch Chronifizierung der Symptomatik. In einer Follow-up-Studie über 27 Jahre wurde ein erhöhtes Risiko für Suizide nach mehreren gescheiterten Behandlungsversuchen festgestellt. 10% der Stichprobe im Alter zwischen 30–40 Jahren begingen Suizid (10).
Diese störungsspezifischen Psychotherapien weisen die Gemeinsamkeit auf, dass sich die BPS-Patienten in einer Phase der Behandlung befinden, bei denen sie therapiemotiviert, zuverlässig und absprachefähig sind, und die Psychotherapie nicht durch akute Krisen unterbrochen wird (23). Bei einer elektiven psychotherapeutisch-stationären Therapie auf einer DBT-Station werden die Patienten z.B. nach schweren Selbstverletzungen und suizidaler Kommunikation entlassen und für eine gewisse Zeit gesperrt.
Im Folgenden wird der Umgang mit BPS-Patienten im notfallpsychiatrischen Behandlungssetting beschrieben. Die notfallpsychiatrische Behandlung basiert auf den Empfehlungen der psychiatrischen Fachgesellschaften und der evidenzbasierten Therapien bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sie hat zum Ziel durch einen geeigneten und störungsspezifischen Umgang in der Akutpsychiatrie die weitere psychotherapeutische Behandlung vorzubereiten.
Psychiatrische Notfallbehandlung Die Patientinnen und Patienten werden bei jeder freiwilligen Zuweisung oder Zuweisung per Fürsorgerischer Unterbringung (FU) zunächst dem psychiatrischen Notfallteam vorgestellt. Dort erfolgt die Abklärung des Behandlungsauftrags und der Motivation. Konnte ein Behandlungsauftrag definiert werden, ist eine zeitlich begrenzte und vorher definierte Krisenintervention auf freiwilliger Basis auf der Kriseninterventionsstation (KIS) unter den schriftlich vordefinierten Behandlungsvereinbarungen möglich. Waren die Aufnahmekriterien nicht erfüllt, erfolgte die Entlassung aus dem psychiatrischen Notfall. In einigen Fällen unter (teilweiser mehrfacher) Aufhebung einer FU am selben Tag.
Kriseninterventions-Ambulanz (KIA) Die KIA ist eine dem psychiatrischen Notfall nachgeschaltete Ambulanz mit einem kurzfristig (innerhalb einer bis maximal
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Tabelle: Empfohlener Algorithmus zum Management von geschluckten scharfen Gegenständen
Lokalisierung Zeit/Grösse
Ösophagus
Verbleibezeit < 24 h Ösophagus Verbleibezeit > 24 h
Magen
Gegenstand > 6 cm Länge
oder > 2,5cm Breite
Duodenum
Gegenstand > 6 cm Länge
oder > 2,5 cm Breite
Massnahme Überwachung Endoskopische Entfernung indiziert
Überwachung/Entlassung möglich
Quelle: mod. nach (28)
zwei Wochen) verfügbaren ambulanten Behandlungsangebot zur Überbrückung bis zu 3–4 Monate. Viele Patienten mit einer BPS haben die Therapie bei einem niedergelassenen, psychiatrischen oder psychologischen Therapeuten in der Akutphase der Borderlinestörung abgebrochen, oder die Therapeuten haben umgekehrt die Behandlung pausiert. Durch die Behandlung in der KIA ist eine nahtlose ambulante Versorgung in der Akutphase möglich, bis eine ausreichende Stabilisierung erreicht ist. Die Prinzipien der ambulanten Behandlung in der KIA basiert auf den Behandlungsalgorithmen der DBT (24) oder nach dem «good psychiatric management for borderline personality disorder» (25).
Kriseninterventionsstation (KIS) Es wird, wie schon beschrieben, eine stationäre Krisenintervention und von einer psychotherapeutischen stationären Behandlung unterschieden. Die stationäre Krisenintervention ist auf 10 Tage begrenzt und dient zur Stabilisierung und Rückführung in das ambulante Behandlungssetting. Mehrwöchige stationäre Behandlungen sind ausschliesslich im Setting einer psychotherapeutischen Station mit Schwerpunkt DBT/MBT vorgesehen.
Auf der KIS wird im speziellen Behandlungssetting eine Skills- und Achtsamkeitsgruppe, Anwendungen von Skillsboxen, Verhaltensanalysen und Spannungsbögen angeboten. Dazu gehört aber z.B. auch der Verzicht auf 1:1-Betreuungen und Isolationen für den Einsatz eines selbstverantwortlichen Meldeschemas und die Selbstversorgung von Schnitt- und Wundverletzungen. Selbstverletzungen, dissoziative Anfälle und suizidale Kommunikation während der stationären Behandlung führen zu einem sofortigen Austritt.
Suizidalität Suizidgedanken wird bei den Patienten häufig appellativ geäussert, auch um eine medizinische Versorgung zu erreichen. Eine Veränderungsmotivation auf Seiten der Patienten besteht zunächst meist nicht. Die Möglichkeit der akzidentiellen Vergiftung/Schädigung bei appellativen Suizidversuchen ist in der Güterabwägung zu stellen, gegenüber der Validierung des dysfunktionellen Verhaltens und der Weiterführung des Verhaltens in einem Teufelskreis. Eine bei anderen psychiatrischen Erkrankungen notwendige Isolation, Zwangsmedikation und Fixation in dieser Eskalationskaskade ist langfristig
traumatisierender für die Patienten und führt zu keiner perspektivischen Veränderung des Verhaltens.
Medikamentenintoxikationen Im Rahmen der Suizidalität kommt es meist zu Suizidversuchen mit Medikamentenintoxikationen. Während dieser Behandlung besteht dann wieder eine erhöhte Gefahr einer übermässigen dysfunktionalen Zuwendung, da die Behandlungen meist im somatischen Notfall oder gar in einer intensivmedizinischen Abteilung erfolgen. Bei den meisten üblich bekannten Medikamenten (z.B. Paracetamol), die zur Intoxikation benutzt werden, besteht auch die Möglichkeit einer oralen Antidotgabe. Dadurch kann die Behandlungszeit auf diesen Abteilungen und somit ein potenzielles dysfunktionales Reaktionsfeld reduziert werden.
Ingestion von scharfen Gegenständen Aufgrund der Zuordnung der Ingestion als selbstverletzendes Verhalten bei einer BPS ist es notwendig, Effekte wie sekundärer Krankheitsgewinn bzw. Verstärkung von dysfunktionalen Verhaltensmustern für das Behandlungsmanagements zu beachten. Eine Anpassung der Leitlinien der European Society of Gastrointestinal Endoscopy (ESGE) in diesem speziellen Fall ist bei Borderline-Patientinnen und Patienten daher notwendig (26).
In den wenigen Studien zu diesem Zusammenhang wurde das effektivste Management mit einem konservativen medizinisch-chirurgischen und nicht-restriktiven psychiatrisch-psychotherapeutischen Ansatz erreicht. In den Reviews wurden auch die Risiken einer chirurgischen/endoskopischen Intervention zu einem konservativen Vorgehen beurteilt. Das Komplikationsrisiko beim konservativen Vorgehen ab Höhe des Magens ist gering. Die Letalität von Ingestionen insgesamt scheint in den Statistiken tief zu sein (1 bei 3058 Individuen in einer Fallserie) (27). Zu Bedenken ist auch das post-operative Komplikationsrisiko aufgrund von auto- und fremdaggressiven Verhalten, wie z.B. das Wiedereröffnen von Wundnähten.
In Zusammenschau der oben genannter Aspekte wurde in einer Studie folgender Entscheidungsalgorithmus bei der häufig vorkommenden Ingestion vorgeschlagen (Tabelle [28]). Eine somatische Voruntersuchung und eine radiologische Bestätigung der Lokalisierung und Art der Gegenstände ist Voraussetzung für die Anwendung.
Komorbidität Autismusspektrumstörung (ASS) Als eine Differenzialdiagnose und psychische Komorbidität wird die Autismusspektrumstörung (ASS) herausgegriffen. Dieses Störungsbild hat in den letzten Jahren wissenschaftlich und klinisch eine besondere Beachtung gefunden und soll hier deswegen kurz beschrieben werden. Bei der Erstellung des ICD-11 wurde die ASS neu definiert und dem DSM-5 angenähert. Allerdings wurden die möglichen Symptome soweit erweitert, dass sich die Spezifizität der diagnostischen Tools noch weiter reduziert und die bereits hohe Heterogenität der Symptome der ASS noch weiter erhöht. Das führt in dieser Konstellation zu einer erhöhten falsch-positiven Diagnostik der ASS, und eine Abgrenzung zu anderen psychischen Er-
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krankungen, wie die BPS, mit «autism-like traits» wird erschwert (29). Dadurch werden die limitierten Behandlungskapazitäten für die Patienten mit einer ASS noch weiter reduziert, und die gegebenenfalls falsch-positiv getesteten BPS-Patienten werden nicht störungsspezifisch behandelt. Die genaue klinische differenzialdiagnostische Unterscheidung und Verantwortung gewinnt dadurch noch mehr an Bedeutung, weswegen die Diagnostik der BPS sowohl im ambulanten wie auch im stationären Setting des BPS-Kompentenzzentrums an Bedeutung gewinnt.
Grundsätzlich schliessen sich die beiden psychiatrischen Erkrankungen gegenseitig nicht aus. Insbesondere da bestimmte kommunikative Defizite aus der ASS psychoreaktiv im Lebensverlauf zu Denk- und Verhaltensmustern der BPS führen können. Es besteht ein Konsens, dass die ASS ein passendes Erklärungsmodell liefert, um schwere klinische Verläufe von dysfunktionalen Verhaltensweisen zu beschreiben, und warum die Behandlung erschwert ist.
Einig sind sich die Autoren aber auch in der Behandlung der Symptome der Selbstverletzung, Impulsivität und emotionalen Dysregulation – egal, ob sie von der BPS oder ASS stammen. Den Empfehlungen zufolge sollte die Behandlung verhaltenstherapeutisch und nach den Prinzipien der dialektisch-behavioralen bzw. mentalisierungsbasierten Therapie (DBT/MBT) erfolgen. Im Umkehrschluss muss auch die Notfall- und akutstationäre Behandlung nach diesen Prinzipien erfolgen: primär ambulant und die akutstationäre Behandlung zeitlich limitiert und DBT/MBT-basierend. Eine unnötige lange akutstationäre Behandlung führt auch hier nur zu einer Zunahme der dysfunktionalen Verhaltensmuster (30,31).
Damit ist im Notfall- und akutstationären Setting die Diagnose unerheblich und orientiert sich an den gezeigten Symptomen. Die Unterscheidung von selbstverletzenden Verhalten und akuter Suizidalität ist dabei von zentraler Bedeutung. Würde das Behandlungsprozedere in beiden Fällen dasselbe sein, führte dies im ersten Fall zu einer Verschlechterung der Symptomatik.
Angehörige und Umfeld Die Angehörigen und das Umfeld der Patienten sind von der Dynamik der BPS besonders betroffen. Oft werden diese von den Betroffenen in den Krisen primär kontaktiert, und die Patienten wohnen oft noch zu Hause. Aufgrund dessen besteht oft der Wunsch der Angehörigen und externen Behandler nach einer schnellen Lösung und nach einem umfassenden Schutz der BPS-Patienten vor Selbstverletzungen oder Suizidversuchen. Aber die Fehlinterpretation der Selbstverletzung als Suizidalität und folglich die konsekutive Fehlbehandlung wiegt langfristig deutlich schwerer, auch wenn dies im Moment für die Angehörigen der Betroffenen schwer auszuhalten ist.
Deswegen sind teilweise mehrere «Runder-Tisch-Gespräche» notwendig, um die Angehörigen vom Behandlungskonzept und dem leitliniengestützten Hintergrund zu informieren und zu überzeugen. Ergänzend bietet die Klinik eine eigene Fachstelle für Angehörige an. Zudem sollen Workshops und Schulungen im Umgang mit BPS für betreute Wohneinrichtun-
gen und die umliegenden Spitäler angeboten werden, um sich für die Umsetzung einer leitliniengestützten Behandlung auch im akutpsychiatrischen Setting einzusetzen. Jedes zuweisende Spital und jede betreute Wohneinrichtung erhält zwecks eines einheitlichen Behandlungs- und Reaktionsalgorithmus bei Vorstellung der Patienten eine individuell erstellte, schriftliche Behandlungsempfehlung.
Ethische Fallbesprechungen Nach dem differenzialdiagnostischen Ausschluss einer schwergradigen depressiven, psychotischen oder manischen Erkrankung besteht bei der BPS keine Einschränkung der Urteilsfähigkeit oder der intrinsischen Behandlungseinsicht. In einer möglichen ethischen Fallbesprechung wurden unter Besprechung aller Optionen und Dilemmata zwei Handlungsmöglichkeiten gegenübergestellt. Das Wegnehmen jeglicher Autonomie der Patienten ohne Perspektive einer Besserung oder Therapiefähigkeit bei «normaler Reaktion» steht dem Respekt der Lebens- und Entscheidungsautonomie der urteilsfähigen Patientin inklusive möglicher Selbstschädigung und dem temporären Unwillen der Patienten gegenüber. Da die Rückgabe der Autonomie die einzige Möglichkeit zur Herstellung der Therapiefähigkeit darstellt, ist in dieser Hinsicht das evidenzbasierte leitliniengerechte Vorgehen auch ethisch meist gut vertretbar. Die ethischen Fallbesprechungen dienen auch dazu, einen Diskussions- und Reflexionsraum für das Behandlungsteam zu schaffen, in dem die Meinungen und Haltungen ausgetauscht und abgestimmt werden können. Aufgrund der meist heftigen Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen bei schwierigen Fällen im notfallpsychiatrischen Setting ist dieser Raum entscheidend, um eine gute Arbeitsatmosphäre unter den Mitarbeitenden zu fördern und die Prognose der Patienten zu verbessern (32).
Fazit für die Praxis Die Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Akutphase stellt die notfall-, ambulanten und akutstationären Versorgungsstrukturen vor eine grosse Herausforderung. Insbesondere die frühzeitige und konsequente Umsetzung der leitliniengerechten Behandlungs- und Reaktionsalgorithmen der maladaptiven Verhaltensmuster benötigt eine gut koordinierte integrierte ambulante und stationäre Versorgungsinfrastruktur.
Im Weiteren sollte auch als therapeutische und ethische Haltung das kurzfristige Risiko mit dem Ziel einer langfristigen Besserung der Dysfunktionalität gegenüber der vermeintlichen Sicherheit (z.B. Massnahmen ohne Zustimmung) mit langfristiger Chronifizierung der Dysfunktionalität im Behandlungsteam kommuniziert und gelebt werden.
Kontaktadresse Michel Dang Leitender Arzt und Zentrumsleiter ZINK Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Psychiatrische Dienste Aargau AG (PDAG) Königsfelderstrasse 1, 5210 Windisch E-Mail: michel.dang@pdag.ch
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