Transkript
E D I T O R I A L Parkinson – eine kontinuierliche
Revolution
D er wissenschaftliche Fortschritt beim Verständnis der Symptome, der pathophysiologischen Mechanismen und Implikationen der Behandlung spiegeln die gewaltige Dynamik der Entwicklung der Neurowissenschaften in den letzten Dekaden wieder. Zu den herausragenden Meilensteinen gehören die Erkenntnis, dass sich die ParkinsonErkrankung stadienhaft in weiten Teilen des Gehirns, aber auch in extrazerebralem neuralen Gewebe auszudehnen scheint, Einblicke in die Struktur und Funktion von alpha-Synuclein sowie Erkenntnisse um die Funktion von mit der Parkinson-Erkrankung assoziierten Genen. Die klinische Vorstellung einer reinen «Bewegungsstörung» wurde durch das Konzept eines facettenreichen Syndroms mit vielfältigen und oft vordergründigen nicht motorischen Symptomen (1) sowie einer den motorischen Einschränkungen vorausgehenden Prodromalphase (2) ersetzt.
Gleichzeitig stellt die Parkinson-Erkrankung in Bezug auf die Lebensqualität der global alternden Bevölkerung aber auch aus ökonomischen Gesichtspunkten ein zunehmend drängendes Problem dar: Die Ergebnisse der Global Burden of Disease Study sprechen für eine seit 1990 zunehmende Prävalenz der Parkinson-Erkrankung, die nicht nur durch die zunehmende Alterung der Bevölkerung bedingt ist und möglicherweise durch einen höheren sozioökonomischen Index sogar negativ beeinflusst wird (3).
Die pharmakologische Parkinson-Behandlung ist weiterhin symptomatisch und im Wesentlichen darauf ausgerichtet, das dopaminerge Defizit als Folge der Neurodegeneration zu ersetzen. Therapien, die auf andere Transmittersysteme ausgerichtet sind, spielen eine untergeordnete Rolle. Während zum Diagnosezeitpunkt etwa 30% der Nervenzellen verloren sind, ist die striatale Innervation bereits um 50 bis 80% reduziert (4). In der Initialphase wird oft eine befriedigende und gleichmässige Einstellung doparesponsiver Symptome erreicht. Im weiteren Verlauf treten wahrscheinlich wegen der komplizierten Pharmakokinetik der Levodopapräparate, gastrointestinaler parkinsonbedingter Funktionsstörungen aber auch
wegen des Voranschreitens der intrazerebralen Pathologie Wirkfluktuationen auf (5, 6). Diese äussern sich sowohl motorisch z. B . in Form klassischer «Off-Phasen» vor Einnahme der nächsten Tablette, aber auch mit zahlreichen nicht motorischen Symptomen, wie Angstzuständen oder Schmerzen (7, 8). Für diese Phase stehen eine Reihe medikamentöser Optionen, wie die Einnahme retardierter Dopaminagonisten oder die Augmentation mit MAO- und COMTHemmern zur Verfügung (zusammengefasst in dem Artikel ab Seite 27). Letztlich stellt sich jedoch oft ein nicht mehr mit konservativen Massnahmen beherrschbarer Zustand ein. Für diese Phase stehen inzwischen eine Reihe von Therapieoptionen, wie die tiefe Hirnstimulation oder eine kontinuierliche Medikamenteninfusion zur Verfügung.
Die tiefe Hirnstimulation hat nach erfolgreichen Versuchen in den 1980er Jahren inzwischen einen festen Platz in der Behandlungsroutine von Parkinson-Patienten mit Wirkfluktuationen oder einem nicht Medikamenten-responsiven Tremor. In dem Artikel von Hatz (ab Seite 41) wird die Patientenselektion, das methodische Vorgehen, technische Aspekte und ein Ausblick auf künftige Entwicklungen praxisnah erläutert. Eine weitere Therapieoption mit einer etwas geringeren Invasivität ist der MR-gesteuerte fokussierte Ultraschall, der in der Schweiz aktuell am Universitätsspital Zürich klinisch angeboten und mit internationaler Sichtbarkeit weiterentwickelt wird. Die grösste Evidenz liegt für die Behandlung einseitiger Tremorsyndrome vor (9). Der Einsatz zur Läsionsbehandlung fluktuierender, beispielsweise bradykinetischer Symptome analog der tiefen Hirnstimulation des subthalamischen Nucleus ist noch nicht Bestandteil der klinsichen Routinebehandlung. Medikamentenpumpen mit den Wirkstoffen Levodopa oder Apomorphin kommen derzeit vor allem bei Patienten mit Kontraindikationen für eine tiefe Hirnstimulation zum Einsatz, eine Therapie kann aber auch bei Ablehnung einer tiefen Hirnstimulation durch Patienten erwogen werden. Gemeinsames Behandlungsprinzip ist die kontinuierliche Zufuhr eines Wirkstoffs subkutan (in der Schweiz aktuell nur Apo-
Foto: zVg
Tobias Piroth
24 4+5/2024
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
morphin) oder intrajejunal (Levodopa/Levodopa+ Entacapon). Andrea Magalhães und Kollegen führen in ihrem Artikel (ab Seite 34) in die Pumpentherapie des fluktuierenden Parkinson-Syndroms ein. Sie erläutern Vor- und Nachteile der verschiedenen Pumpensysteme und geben Hinweise für die Indikationsstellung und Beratung der Patienten. Wie von den Autoren dargelegt, ist die subkutane Infusionstherapie von Levodopa in der Schweiz bislang nicht zugelassen.
Kommende symptomatische Therapieansätze werden möglicherweise die Notwendigkeit geräteunterstützter Therapieverfahren in einigen Fällen obsolet machen: So werden derzeit dopaminerge Medikamente mit längerer Wirkdauer, wie z. B. ein neuartiger Dopaminagonist mit vorwiegender Wirkung auf die Motorik, untersucht. Auch die symptomatische Behandlung kognitiver Einschänkungen wird in prospektiven Studien mit neuen Wirkstoffen erforscht.
Wichtige Fortschritte wurden auf dem Gebiet der Lebensstilfaktoren erzielt, die einen Einfluss auf die Parkinson-Erkrankung haben. Randomisierte Studien zur körperlichen Aktivierung helfen dabei, den Wert nicht medikamentöser Therapiemassnahmen zu untermauern (10, 11). Zudem helfen qualitativ hochwertige klinische Studien dabei, neurobiologische Effekte von Lebensstilinterventionen aufzudecken (12). Zunehmende Evidenz besteht für den Einfluss des vaskulären Risikoprofils auf die Wahrscheinlichkeit, an einem neurodegenerativen Parkinson-Syndrom zu erkranken. Hier sollten Neurologen und Psychiater bereits heute Patienten vor allem in Früh- bzw. Prodromalphasen auf selbstwirksame Massnahmen aufmerksam machen.
Eine erkrankungsmodifizierende Pharmakotherapie analog den jüngsten Durchbrüchen bei der Behandlung der Alzheimer-Erkrankung ist weiterhin nicht verfügbar. Allerdings scheinen auch für die ParkinsonErkrankung entsprechende Therapien in Reichweite. Aktuell werden umfangreiche Studien mit entsprechenden Therapieansätzen durchgeführt, und die Chancen auf einen Durchbruch sind durch neue Methoden und ein besseres Krankheitsverständnis erheblich gestiegen. Die Entwicklung wird möglicherweise auch die Rolle des «Bewegungsstörungsexperten» verändern. Durch verlaufsmodifizierende Therapien würde die Abklärung von Patienten «at
Risk» bzw. in Prodromalstadien eine höhere Priorität
erhalten. In der öffentlichen Diskussion in der Schweiz
dominiert aktuell die Wahrnehmung der medizini-
schen Versorgung vorwiegend als Kostenfaktor. Dabei
wird kaum erwähnt, dass chronische Leiden wie die
Parkinson-Erkrankung für Patienten, aber auch für
pflegende Angehörige und somit für die
Gesellschaft erhebliche Kosten ausserhalb der Be-
handlungskosten verursachen. Direkte und indirekte
Kosten durch die Erkrankung verdreifachen sich in
den USA und Europa im Lauf der Progression der Er-
krankung (13). Analysen von Gesundheitskosten aus
Deutschland bei Patienten mit fortgeschrittenem Par-
kinson-Syndrom schätzen die erkrankungsbedingten
Kosten auf zirka 20 000 Euro/3 Monate (hiervon ent-
fallen alleine ca. 11 000 Euro auf informelle Pflegekos-
ten) (14). Therapien, welche die Selbstständigkeit der
Patienten verbessern und damit auch die Lebensqua-
lität stärken, haben damit wahrscheinlich auch ge-
samtgesellschaftliche Kostenvorteile.
Parkinson-Patienten, Angehörige und Behandler aller
Disziplinen haben in der Schweiz eine starke Stimme:
in Form der behandelnden Fachleute, die in der
Schweizerischen Sektion der internationalen Move-
ment Disorders Society und regionalen Therapienetz-
werken zusammengeschlossen sind, aber auch in
Form von professionellen gemeinnützigen Organisa-
tionen wie Parkinson Schweiz. Die öffentliche Zusam-
menarbeit dieser Verbände ist essenziell, damit
Patienten mit Parkinson und verwandten neurodege-
nerativen Erkrankungen weiterhin Zugang zu einer
qualitativ hochstehenden zeitgemässen Diagnostik
und Therapie haben.
l
Eine interessante Lektüre wünscht Ihnen
Dr. med. Tobias Piroth Oberarzt mbF Neurologie Leiter Bewegungsstörungen und Kognition Kantonsspital Aarau Tellstrasse 25 5001 Aarau E-Mail: tobias.piroth@ksa.ch
Referenzen: 1. Schapira AHV et al.: Non-motor features
of Parkinson disease. Nat Rev Neurosci. 2017;18(7):435-450. doi:10.1038/ nrn.2017.62. 2. Postuma RB et al.: Prodromal Parkinson’s Disease: The Decade Past, the Decade to Come. Mov Disord. 2019;34(5):665-675. doi:10.1002/mds.27670. 3. Dorsey ER et al.: Global, regional, and national burden of Parkinson’s disease, 1990–2016: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2016. The Lancet Neurology. 2018;17(11):939-953. doi:10.1016/S1474-4422(18)30295-3. 4. Cheng HC et al.: Clinical Progression in Parkinson’s Disease and the Neurobiology of Axons. Ann Neurol. 2010;67(6):715-725. doi:10.1002/ana.21995. 5. Carta M et al.: The serotonergic system in L-DOPA-induced dyskinesia: pre-clinical evidence and clinical perspective. J Neural Transm. 2018;125(8):1195-1202. doi:10.1007/s00702-018-1865-5. 6. Poewe W et al.: Levodopa in the treatment of Parkinson’s disease: an old drug still going strong. Clin Interv Aging. 2010;5:229-238. 7. Franke C et al.: Nonmotor Fluctuations in Parkinson’s Disease. Int Rev Neurobiol. 2017;134:947-971. doi:10.1016/ bs.irn.2017.05.021. 8. van Wamelen DJ et al.: Characterization of Non-Motor Fluctuations Using the Movement Disorder Society Non-Motor Rating Scale. Movement Disorders Clinical Practice. 2022;9(7):932-940. doi:10.1002/ mdc3.13520. 9. Stieglitz LH et al.: Consensus Statement on High-Intensity Focused Ultrasound for Functional Neurosurgery in Switzerland. Front Neurol. 2021;12:722762. doi:10.3389/fneur.2021.722762. 10. Schenkman M et al.: Effect of High-Intensity Treadmill Exercise on Motor Symptoms in Patients With De Novo Parkinson Disease. JAMA Neurol. 2018;75(2):219-226. doi:10.1001/jamaneurol.2017.3517. 11. Patterson CG et al.: Study in Parkinson’s disease of exercise phase 3 (SPARX3): study protocol for a randomized controlled trial. Trials. 2022;23(1):855. doi:10.1186/s13063022-06703-0. 12. Johansson ME et al.: Aerobic Exercise Alters Brain Function and Structure in Parkinson’s Disease: A Randomized Controlled Trial. Annals of Neurology. 2022;91(2):203216. doi:10.1002/ana.26291 13. Chaudhuri KR et al.: Economic Burden of Parkinson’s Disease: A Multinational, Real-World, Cost-of-Illness Study. Drugs - Real World Outcomes. 2024;11(1):1-11. doi:10.1007/s40801-023-00410-1. 14. Kruse C et al.: Resource Utilization of Patients with Parkinson’s Disease in the Late Stages of the Disease in Germany: Data from the CLaSP Study. PharmacoEconomics. 2021;39(5):601-615. doi:10.1007/ s40273-021-01011-y.
26 26
4+5/2024
2/2022
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE