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FORTBILDUNG
Die Prävention von Zwangsmassnahmen fängt beim Nachwuchs an
Die Prävention von Zwangsmassnahmen ist eines der zentralsten Themen in der akutpsychiatrischen Arbeit. Obwohl es im beruflichen Alltag viel Raum einnimmt und für alle Beteiligten belastend ist, wird das Thema Zwang in der Ausbildung von Pflegefachpersonen, Ärzten und Psychologen, über sicherheitsorientierte Schulungen hinaus, wenig eingehend bearbeitet. In diesem Artikel wird die Rolle von Haltungen und beruflicher Sozialisation im Hinblick auf Zwangsmassnahmen beleuchtet und es werden Ideen zur Ausgestaltung von Aus- und Weiterbildungsangeboten skizziert.
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Sebastian Rüegg Niklaus Stulz Natalija Gavrilovic Haustein
von Sebastian Rüegg1, Niklaus Stulz2 und Natalija Gavrilovic Haustein2
Einleitung Mit der Ausübung von Zwang bewegen sich Fachpersonen in der Psychiatrie in einem Spannungsfeld. Die teilweise negativen Auswirkungen von Zwangsmassnahmen auf Betroffene sind gut belegt (1). Die Wirksamkeit und Legitimation von Zwangsmassnahmen wird immer wieder in Frage gestellt, und die Kritik an einer «Zwangspsychiatrie» von verschiedenen Seiten (Betroffene, Angehörige, medizinische Fachpersonen, juristische Personen, Menschenrechtler, Medien, etc.) ist nicht zu überhören (2). Zugleich besteht der gesellschaftliche Anspruch an die Psychiatrie und damit an die darin tätigen Fachpersonen, Menschen in akuten Krisensituationen zu behandeln, die je nach Sichtweise die Anwendung von Zwangsmassnahmen als Ultima Ratio notwendig machen können. Immer wieder erfolgt dabei die Anwendung von Zwang entgegen eigener ethischmoralischer und fachlicher Überzeugungen. Sich in diesem Spannungsfeld zu bewegen, ist für Fachpersonen sehr herausfordernd. In diesem Artikel werden zwei zentrale Annahmen verfolgt. Zum einen, dass die Einstellung und Haltung, wonach Zwangsmassnahmen ein fester, teils unhinterfragter Bestandteil akutpsychiatrischer Arbeit und für Patienten hilfreich sind, einer nachhaltigen Prävention von Zwangsmassnahmen im Wege stehen. Diese Einstellungen werden im Zuge einer frühen beruflichen Sozialisation erworben. Die zweite Annahme ist, dass der Thematik rund um Zwangsmassnahmen und von
1 Zentrum für Ausbildung im Gesundheitswesen (ZAG), Winterthur 2 Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland (ipw), Winterthur
deren Prävention als Ganzes in der Aus- und Weiterbildung zu wenig Beachtung geschenkt wird. Durch eine möglichst frühe Einführung in das Thema in Form von Weiterbildungen und Reflexionsräumen für einen offenen Austausch, kann aber erst die Möglichkeit geschaffen werden, um umfassende präventive Massnahmen nachhaltig umzusetzen. Nachfolgend werden einige der genannten Aspekte ausgeführt und Ansätze für die Aus- und Weiterbildung skizziert.
Zwangsmassnahmen, ein notwendiges Übel? Die Einstellung, dass Zwangsmassnahmen ein unvermeidbarer und teilweise auch kaum zu hinterfragender Bestandteil psychiatrischer Arbeit und dass sie für Patienten hilfreich sind, ist unter Fachpersonen verbreitet (3, 4). Im Folgenden werden diese Einstellungen und deren Auswirkungen in Bezug auf Zwangsmassnahmen diskutiert.
Einstellungen und Haltungen zu Zwangsmassnahmen Welche Faktoren die Einstellung gegenüber Zwangsmassnahmen beeinflussen, ist nicht vollständig geklärt. Die meisten Fachpersonen sind kritisch eingestellt, halten Zwangsmassnahmen jedoch für ein «notwendiges Übel» (5). Pflegende zeigen sich dabei gegenüber Zwang weniger kritisch eingestellt als Ärzte oder Psychologen. Sie sind jedoch auch viel direkter und häufiger mit Aggression und Gewalt von Patienten konfrontiert und direkter an Zwangsmassnahmen beteiligt. Diese häufigere Beteiligung könnte einen Gewöhnungseffekt mit sich bringen und einen Einfluss auf die Rechtfertigung von Zwangsmassnahmen haben (3, 6). Verstärkend können zusätzlich auch die Persönlichkeitsstruktur, negative Stimmungslagen und Übertragungsgefühle sowie primär biologische Krankheitskonzepte seitens der Fachpersonen wirken (7). Gemäss Krieger et
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al. (5) halten ältere Fachpersonen im Gegensatz zu unerfahrenen Kollegen (Berufseinsteigern) Zwang eher für vermeidbar und erleben mehr negative Emotionen, wie Wut oder Scham. Diese Resultate wurden aber auch kritisch diskutiert (3). Sie widerspiegeln auch nicht die persönlichen Erfahrungen des Erstautors aus der Zusammenarbeit und der Aus- und Weiterbildungstätigkeit mit Studierenden (Pflegefachpersonen HF) sowie die Ergebnisse aus Interviews mit Berufseinsteigern und Pflegefachpersonen im letzten Ausbildungsjahr (8, 9).
Auswirkungen der Zwangsausübung und berufliche Sozialisation Die Ausübung von Zwang ist für Fachpersonen oft mit einem moralischen Stresserleben verbunden. Dieses geht mit negativen Gefühlen wie Zweifel, Schuld oder Ohnmacht einher und erstreckt sich über das Berufsund Privatleben. Das moralische Stresserleben kann zudem eine Desensibilisierung gegenüber der Ausübung von Zwang zur Folge haben und zu einem Berufsausstieg führen (10). In der Aus- und Weiterbildungsarbeit lässt sich feststellen, dass Studierende und Berufseinsteiger häufig eine kritische Haltung gegenüber Zwang haben und verschiedene ethisch-moralische Bedenken an der Zwangsmassnahmenpraxis zum Ausdruck bringen. Doch viele davon äussern, dass sie sich nicht (mehr) trauen, ihr moralisches Stresserleben und damit verbundene negative Emotionen zu kommunizieren. Sie erleben das «Darüber sprechen» in der Praxis als erschwert. Einige haben Angst oder auch die Erfahrung gemacht, dass ihnen das Mitteilen negativer Emotionen oder von mutmasslichen Fehlern als Schwäche attestiert wird und sie als für den Beruf ungeeignet angesehen werden. Entsprechende Signale und Rückmeldungen von ausgebildeten Fachpersonen («Zwangsmassnahmen gehören zum Job, du wirst dich daran gewöhnen») verstärken dabei das Gefühl, dass Zwangsmassnahmen als «notwendiges Übel» einfach zu akzeptieren sind. Dies brachte eine Studierende (Pflege HF, 6. Semester) treffend zum Ausdruck: «Es wird einfach auch erwartet, dass man mitmacht. […] und du hast auch meist gar nicht die Fähigkeit zu sagen: «Nein, das mache ich jetzt nicht»» (8). Auch in der interprofessionellen Weiterbildungsarbeit des Erstautors mit bereits ausgebildeten Fachpersonen werden dieselben Gründe geäussert, weshalb es schwerfällt, über ethischmoralische Bedenken und negative Auswirkungen der eigenen Beteiligung an Zwangsmassnahmen zu sprechen. Dazu zählen unter anderem die Erwartung und Annahme, dass Zwangsmassnahmen einfach dazu gehören, die Angst davor als nicht belastbar, schwach und für den Beruf ungeeignet zu gelten, auf Unverständnis zu stossen, wenn man Fehler anspricht oder dann gar als «Nestbeschmutzer» zu gelten. Zudem berichteten sowohl Pflegestudierende als auch Assistenzärzte und Psychologen, dass sie zu wenig eingehend an die Thematik herangeführt würden – weder im Rahmen des Studiums, noch in der direkten Praxis. Somit könnte die (noch etwas vage) These formuliert werden, dass angehende Fachpersonen mit kritischer Einstellung gegenüber Zwangsmassnahmen in den Beruf einsteigen, jedoch «on the job» eine berufliche Sozialisation erfahren, die es ihnen erschwert, eine kriti-
sche Haltung zu bewahren, ethisch-moralische Bedenken nachdrücklich zu platzieren und die Zwangsmassnahmenpraxis («Zwang als notwendiges Übel») in Frage zu stellen.
Ergebnisse einer Umfrage unter den Ärzten und Psychologen zum Thema Zwang In der Ausbildung zum Psychiater oder Psychotherapeuten führt der Weg in der Psychiatrie oft zunächst auf eine Akutstation. Somit sind die jungen und noch unerfahrenen Kollegen gleich am Anfang ihrer Weiterbildung direkt mit den schwerstkranken Patienten konfrontiert. Konzepte im Umgang mit diesen Menschen, gerade auch in Situationen mit Selbst- und Fremdgefährdung, sind dann meist noch nicht oder kaum vorhanden. Die jungen Kollegen werden oft ins kalte Wasser geworfen, und viele erleben den Einstieg in die Psychiatrie als ein «Learning by Doing». Natürlich sind auf den Stationen auch Vorgesetzte wie Oberärzte vor Ort, allerdings ist ein intensives Coaching im anspruchsvollen und stressigen Alltag oft nicht möglich. Der an vielen Orten bestehende Fachkräftemangel verstärkt diese Problematik noch zusätzlich. Die eigentlichen psychotherapeutischen Konzepte werden meist erst später in der Weiterbildung an externen Weiterbildungsinstituten oder an der Universität erlernt. Dabei werden die Themen der Akutpsychiatrie und vor allem der Zwangsmassnahmen oft eher wenig bis gar nicht behandelt. Es stellt sich daher die Frage, wie psychiatrische Nachwuchskräfte, die sich am Anfang ihrer ärztlichen oder psychologischen Weiterbildung befinden, den Umgang mit dem Thema Zwang in ihrem klinischen Alltag erleben und wie gut sie sich dabei vom Arbeitgeber und Weiterbildungsinstituten unterstützt fühlen. Diesen Fragestellungen sind wir im Rahmen einer kleinen Online-Umfrage in einer Klinik der Grundversorgung im Kanton Zürich nachgegangen. An der anonymen Befragung nahmen 13 fallführende Ärztinnen und Psychologen der Akutstationen der Erwachsenenpsychiatrie teil (Rücklaufquote: 59,1%). 23% hatten noch keine therapeutische Weiterbildung begonnen, 30,8% befanden sich im ersten Drittel der Weiterbildung und 30,8 Prozent hatten diese bereits abgeschlossen. Obwohl statistisch kaum repräsentativ, geben die Ergebnisse doch einen Einblick in den klinischen Alltag von jungen Kollegen wie sie auch in anderen psychiatrischen Grundversorgungskliniken der Schweiz zu finden sein dürften. Die Antworten der Fallführenden auf die Frage, ob das Thema Zwang in der hausinternen Weiterbildung hinreichend berücksichtigt werde, variierten beträchtlich. So waren 38,5% der Meinung, dass sie in der Klinik relativ oder sogar sehr gut zum Thema Zwang weitergebildet wurden. Die übrigen Fallführenden gaben allerdings teilweise auch kritischere Feedbacks. Neben diesen quantitativen Einschätzungen wurden auch qualitative Rückmeldungen in Form von freien Bemerkungen erhoben. Dabei imponierten Äusserungen, die das Fehlen einer systematischen Einführung in die Zwangsthematik bedauerten und erwähnten, dass vieles «Learning by Doing» sei. Gleichzeitig positiv erwähnt wurden die offene Kommunikation und die (freiwilligen) Weiterbildungsangebote zum Thema Zwang.
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Anhand dieser Antworten entsteht der Eindruck, dass bei den Weiterzubildenden durchaus unterschiedliche Wahrnehmungen vorliegen. Dies kann zumindest teilweise mit dem unterschiedlichen Weiterbildungsstand erklärt werden. Zudem spielen hier vermutlich auch die unterschiedlichen Haltungen auf den einzelnen Stationen eine Rolle (in der Institution gab es 5 Akutstationen im Erwachsenenbereich). Die Vermittlung von fachspezifischen Themen wie Deeskalations- und Aggressionsmanagement sind in der Klinik zwar stationsübergreifend implementiert, für Ärzte und Psychologen allerdings auf freiwilliger Basis. Gleichzeitig dürften bei den unterschiedlichen Rückmeldungen aber auch die verschieden stark erlebte Unterstützung durch die Vorgesetzten eine Rolle spielen, die sich in der Online-Befragung ebenfalls zeigte. Das könnte zumindest teilweise mit einem unterschiedlichen Erfahrungsstand oder mit unterschiedliche Krankheits- und Haltungskonzepten der direkten Weiterbildner erklärt werden. Den Vorgesetzten scheint demnach ebenfalls eine zentrale Bedeutung zuzukommen. Noch deutlich weniger als hausintern scheint das Thema Zwang in den psychotherapeutischen Weiterbildungsinstituten adressiert zu werden. Laut den Befragten wird den Themen Akutpsychiatrie und Zwangsmassnahmen in den Instituten kaum eine Bedeutung beigemessen, was sich auch in den freien Bemerkungen zeigte: «In meinem Institut kam die psychotherapeutische Arbeit im institutionellen Kontext grundsätzlich zu kurz und zu Zwangsmassnahmen gab es keinerlei Angebote» oder «zumindest mein Weiterbildungsinstitut scheint das Berufsfeld Akutpsychiatrie nicht wirklich auf dem Radar zu haben, es gibt kaum eine Auseinandersetzung mit einschlägigen Inhalten». Unsere Erfahrung deckt sich mit diesen Anmerkungen. Es scheint sich hier um ein Stiefkind der Psychiatrie und insbesondere der Psychotherapie zu handeln. Das ist ein bedauerlicher Zustand, da es durchaus einige psychotherapeutische Konzepte gibt, die bei Verinnerlichung und Umsetzung zur Verhinderung von Zwangsmassnahmen beitragen könnten. Abschliessend fasst eine offene Bemerkung aus der Befragung die ganze Thematik sehr gut zusammen: «Finde das Thema wichtig und glaube, dass durch mehr Weiterbildung Sicherheit im Umgang und damit eine Reduktion von Zwangsmassnahmen möglich ist».
Implikationen für die Aus- und Weiterbildung Zwang kann stören und verstören – das gilt für betroffene Patienten und Angehörige, aber auch für Fachpersonen (11). Da auszubildende Fachpersonen die Thematik zu Beginn ihrer Berufslaufbahn oft als zu wenig integriert erleben, scheint die Entwicklung von Schulungseinheiten und Weiterbildungen, die eine möglichst frühzeitige und vertiefte Auseinandersetzung ermöglichen, zentral zu sein.
Inhaltliche Überlegungen Die verschiedenen Bildungsangebote sollten über primär sicherheitsorientierte Schulungen hinausgehen und beispielsweise auch psychotherapeutische Konzepte zum besseren Verstehen der Dynamik und zur Förderung der Beziehung vermitteln. So z. B. das psy-
choanalytische Konzept der Übertragung und Gegenübertragung (12). Ebenfalls förderlich sind schulenübergreifende Themen, wie die Fähigkeit zur emotionalen Selbstreflektion und Mentalisierung, um heftige Affekte zu regulieren, therapeutisch nutzbar zu machen und deren interpersonelle Abwehr zu verhindern (13). Für eine umfassende Prävention von Zwangsmassnahmen erachten wir es ausserdem als notwendig, dass in den Institutionen eine konstruktive Fehlerkultur geschaffen wird. Das «darüber Sprechen» wird jedoch gerade bei Behandlungsfehlern als erschwert erlebt (8, 9). Daher wäre es sinnvoll, bereits in der Ausbildung für eine konstruktive Fehlerkultur zu sensibilisieren. In regelmässig stattfindenden Simulationstrainings könnten kommunikative Strategien eingeübt werden, wie nach Zwangsmassnahmen konstruktiv Kritik geäussert und aversives Gefühlserleben kommuniziert werden kann. Für die Entwicklung von hilfreichen Kommunikationsstrategien und Organisationsstrukturen im akutpsychiatrischen Setting kann beispielsweise der «Speak Up-Leitfaden» der Patientensicherheit Schweiz (14) dienlich sein. Die Belastungen, die bei den Fachpersonen aus der Anordnung und Ausübung von Zwangsmassnahmen entstehen, sind zwar individuell, können aber durchaus schwerwiegend sein. Sie bergen mitunter das Risiko, dass die Gesundheit von Fachpersonen gefährdet ist und sie aus dem akutpsychiatrischen Setting aussteigen (10). Zudem können Gefühle wie Zweifel, Scham oder Schuld der therapeutischen Interaktion und wichtigen präventiven Massnahmen, insbesondere auch einer wirksamen Nachbesprechung von Zwangsmassnahmen, im Weg stehen. Negative Emotionen bei den Fachpersonen können zu einer primären Rechtfertigung der Zwangsmassnahmen führen (Abwehrhaltung) und damit eine persönliche und teamorientierte Entwicklung verunmöglichen (15). Für diese Weiterentwicklung bedarf es jedoch einer eingehenden Überprüfung des beruflichen Glaubenssatzes: «Zwangsmassnahmen gehören zum Beruf. Entweder komme ich damit klar oder dann bin ich für die berufliche Tätigkeit auf Akutstationen ungeeignet.» Hierfür wiederum ist ein Nährboden zu schaffen, der einen offenen Austausch in einem geschützten Rahmen ermöglicht und für eine konstruktive Reflexionskultur unterstützend ist.
Denkanstösse zur Ausgestaltung von Ausund Weiterbildungssettings Der Zugang zum Thema Zwang in der Psychiatrie sollte nicht nur am Arbeitsort in den Kliniken zu stattfinden. Vielmehr sollten Zwangsmassnahmen auch in den Psychotherapie-Instituten, den zentralisierten Weiterbildungen, wie sie bei Ärzten berufsbegleitend an den Universitäten durchgeführt werden, und in der Pflegeausbildung an höheren Fachschulen respektive Fachhochschulen thematisiert werden. Dies vor dem Hintergrund, dass die Entwicklung von Wissen und Können, Haltungen sowie einem beruflichen Selbstverständnis ganz wesentlich durch die Institution und deren Mitarbeitende geprägt werden. Auszubildende Fachpersonen befassen sich im Zug beruflicher Sozialisationsprozesse mit verschiedenen Fragestellungen wie: Wem fühle ich mich auf welche Weise zugehörig? Wie ziehe ich die Grenze zwischen mir und den
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anderen? Welchen Normen ordne ich mich unter, wel-
che ignoriere, beuge oder breche ich? Das Individuum
befindet sich damit in einem Prozess der Aneignung
und Grenzziehung. Um diesen Prozess wirksam gestal-
ten zu können, sind Lerngefässe, die idealerweise ge-
nügend Abstand zum stationären Alltagsgeschehen
haben und somit bestenfalls ausserhalb der Institution
stattfinden, sinnvoll. Sie ermöglichen eine kritische Dis-
tanz und laden über die Institutionsgrenzen hinweg
zum Diskurs über Gleiches und Anderes ein (16). Um
Haltungen und Einstellungen bearbeiten zu können, ist
ein Dialog über die zugrundeliegenden Annahmen not-
wendig. Dabei sind bestimmte Lernprozesse transpa-
rent zu machen, die die Umformung von implizitem
Wissen («Hier ist es offenbar so») zu explizitem Wissen
ermöglichen (17). Erst durch diese Transparenz kann die
(implizite) Einstellung, dass Zwang natürlicherweise und
unhinterfragt zum Berufsauftrag gehört, einer kritischen
Reflexion unterzogen werden. Diese ermöglicht es, die
eigene berufliche Identität weiterzuentwickeln, einer
empfundenen Störung derselben entgegenzuwirken
und die Motivation zur Veränderungsarbeit aufrechtzu-
erhalten.
In der oben berichteten Online-Umfrage wurde die in-
terprofessionelle Zusammenarbeit bei Zwangsmass-
nahmen aus Sicht der Ärzte und Psychologen besonders
positiv bewertet. Im klinischen Alltag wird den Pflege-
fachpersonen jedoch oft die «sichernde» und den Ärz-
ten und Psychologen die «therapeutische» Rolle
zugeschrieben. Das führt zu einem interprofessionellen
Gefälle zwischen den Berufsgruppen, was im Verstehen
und in der alltäglichen Kommunikation als störend
empfunden werden kann. Durch gemeinsame interpro-
fessionelle Weiterbildungen könnten hier Hürden ab-
gebaut werden. Schliesslich besteht selbstverständlich
auch die Notwendigkeit, die Betroffenenperspektive
gleichwertig in Aus- und Weiterbildungsangebote zum
Thema Zwang zu integrieren.
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Korrespondenzadresse: Sebastian Rüegg
Zentrum für Ausbildung im Gesundheitswesen Turbinenstrasse 5 8400 Winterthur
E-Mail: sebastian.rueegg@zag.zh.ch
Referenzen: 1. Chieze M et al.: Effects of seclusion and restraint in adult psychiatry:
A systematic review. Front Psychiatry. 2019;10:491. 2. Richter D: Menschenrechte in der Psychiatrie. Köln: Psychiatrie
Verlag; 2024.
Merkpunkte:
● Es gibt Hinweise, dass Berufseinsteiger kritische Einstellungen gegenüber Zwangsmassnahmen haben, die jedoch im Lauf der beruflichen Sozialisation nachlassen, bis hin zur Akzeptanz von «Zwang als notwendiges Übel».
● Daher sollte in der Ausbildung von Fachpersonen bereits frühzeitig eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema Zwang erfolgen.
● Zudem sollten Weiterbildungen, über sicherheitsorientierte Aspekte hinaus, künftig vermehrt auch psychotherapeutische Konzepte beinhalten, die zur Prävention von Zwangsmassnahmen beitragen können.
● Für die Prävention von Zwangsmassnahmen sind schliesslich auch Reflexionsräume für einen offenen Austausch und eine konstruktive Fehlerkultur in den psychiatrischen Kliniken entscheidend.
3. Doedens P et al.: Influence of nursing staff attitudes and characteristics on the use of coercive measures in acute mental health services - A systematic review. J Psychiatr Ment Health Nurs. 2020;27(4):446-459.
4. Morandi S et al.: Mental health professionals› feelings and attitudes towards coercion. Int J Law Psychiatry. 2021;74:101665.
5. Krieger E et al.: Coercion in psychiatry: A cross-sectional study on staff views and emotions. J Psychiatr Ment Health Nurs. 2021;28(2):149-162.
6. van Doeselaar M et al.: Professionals› attitudes toward reducing restraint: the case of seclusion in the Netherlands. Psychiatr Q. 2008;79(2):97-109.
7. Bottlender R et al.: Zwang und Gewalt in der Psychiatrie: die individualpsychologische Dimension der Gewaltanwendung auf Seite der Behandler. Fortschr Neurol Psychiatr. 2019;87(10):540-547.
8. Rüegg S: Berufliche Sozialisation wider Willen!? Bearbeitung der Auswirkungen von Gewaltanteilen psychiatrischer Arbeit in Studium. Nervenheilkunde. 2023;42:843-849.
9. Rüegg S: «Wenn es zu bunt wird, gehe ich wieder!» Sichtweisen zum Umgang mit Gewaltanteilen psychiatrischer Pflege. In Vorbereitung.
10. Jansen TL et al.: Moral distress in acute psychiatric nursing: Multifaceted dilemmas and demands. Nurs Ethics. 2020;27(5):13151326.
11. Hoff P: Ein schwieriger Spagat: Warum die Psychiatrie einen offenen, kritischen Diskurs über Autonomie und Zwang braucht und die Defensive keine Option ist. Psyche im Fokus. 2017:56-59.
12. Gavrilovic Haustein N: Psychoanalytische Praxis in der stationären psychiatrisch psychotherapeutischen Grundversorgung. Psychoanalyse in Institutionen. Journal für Psychoanalyse. 2020;61:22-36.
13. Wullschleger A et al.: Beiträge zur Vermeidung von Zwang in der Akutpsychiatrie. Fortschr Neurol Psychiatr. 2018;86(8):500-508.
14. Gehring K et al.: Speak Up für mehr Sicherheit in der Patientenversorgung. Zürich: Stiftung für Patientensicherheit; 2016; Available from: https://patientensicherheit.ch/wp/wp-content/ uploads/2023/03/Schriftenreihe_08_DE_Speak_Up.pdf. Letzter Abruf: 23.8.24.
15. Rüegg S et al.: «Ich kann diesen Job so nicht mehr machen!» Denkanstösse zum Umgang mit den Auswirkungen von Zwangsmassnahmen auf Fachpersonen. Sozialpsychiatrische Informationen. 2023;53(3):24-27.
16. Clement U: Berufliche Sozialisation und berufliches Lernen. In: Arnold R, Lipsmeier A, editors. Handbuch Berufsbildung. Wiesbaden: Springer; 2020. p. 56-64.
17. Oertel R et al.: Wann und wie lernen Teams? Ein integriertes Modell des Teamlernens mit Berücksichtigung zeitlich-situativer Einflussfaktoren. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie. 2013;57(3):132-144.
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