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FORTBILDUNG
Akzeptanz- und Commitmenttherapie bei Zwangsstörungen
Ich bemerke und entscheide: Tun, was der Zwang sagt oder was mir wirklich wichtig ist?
Foto: zVg
Jannis Behr
Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) ist ein expositionsorientiertes Verfahren, welches sich für die Behandlung von Zwangsstörungen eignet. Statt Erlebnisvermeidung in Form von Ritualen und Zwangshandlungen stellt sie werteorientiertes Handeln in den Vordergrund. Dabei fördert ACT die Bereitschaft, Zwangsgedanken und Gefühle wie Angst oder Ekel zu erleben.
von Jannis Behr
Einführung: Akzeptanz- und Commitmenttherapie Mit Hilfe der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) (1) kann trainiert werden, das eigene Erleben achtsam zu bemerken und wertfrei zu beobachten, Gedanken loszulassen, Gefühle offen und wohlwollend anzunehmen und dabei das zu tun, was einem wichtig ist. Das übergeordnete Ziel besteht darin, anhand von sechs Kernprozessen (Tabelle, linke Seite) die psychische Flexibilität zu vergrössern (2), das heisst, auch dann werteorientiert im Hier und Jetzt zu handeln, wenn unangenehme oder schmerzhafte Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und Handlungsimpulse auftreten (1, 3, 4). Der psychischen Flexibilität steht die psychische Inflexibilität in Form von sechs pathologischen Kernprozessen gegenüber (Tabelle, rechte Seite). ACT ist Teil der «dritten Welle» der Verhaltenstherapie, wurde als transdiagnostischer Ansatz entwickelt und wird in der Praxis als solcher eingesetzt. Dieser Anwendung liegt die Annahme zugrunde, dass bestimmte pathologische Prozesse störungsübergreifend bestehen und behandelt werden können. Ein Beispiel für einen solchen Prozess ist die wiederholte und inflexible Vermeidung unangenehmen Erlebens (Erlebnisvermeidung) (5). Das Ziel von ACT ist die Verbesserung der Lebensqualität durch das Erlernen eines neuen und langfristig hilfreichen, annäherungs- statt vermeidungsorientierten Umgangs mit dem eigenen inneren Erleben.
Wichtige Aspekte der Therapie von Zwangsstörungen mit ACT Die pathologischen Kernprozesse (Tabelle, rechte Seite) spielen auch bei der Zwangsstörung eine zentrale Rolle. Kasten 1 beinhaltet Beispiele, wie sich diese bei einem Zwangsbetroffenen (Herrn V.) zeigen können. In der Therapie der Zwangsstörung mit ACT bewegt sich die Therapeutin mit dem Klienten grundsätzlich flexibel zwischen den Kernprozessen (6, 7). Ein wichtiger Aspekt zu Beginn ist jedoch das Herausarbeiten der bisherigen «Lösungsstrategien» (z. B. Vermeidung/Zwangshandlungen) und das Einordnen dieser Versuche der Kontrolle von Gedanken und Gefühlen als langfristig nicht hilfreich
und im Gegenteil verstärkend und aufrechterhaltend für die Erkrankung (6, 7). Dass Kontrolle und Erlebnisvermeidung Teil des Problems statt Teil der Lösung sind und die Lebensqualität verringern (6, 8), wird auch anhand von Metaphern und erlebnisorientierten Übungen verdeutlicht (7). Bezüglich der Zwangsstörung zeigte sich empirisch, dass die Verwendung von erlebnisorientierten Übungen im Vergleich zu verbaldidaktischen Erklärungen zu einer stärkeren Reduktion der Zwangssymptome und der psychischen Inflexibilität führt (9). Doch was schlägt ACT statt Kontrolle vor? Der Klient wird ermutigt, seinen Kampf gegen inneres Erleben (z. B. gegen Zwangsgedanken) aufzugeben und sein Handeln an den eigenen Werten auszurichten (7). Dabei wird in der Therapie die an Achtsamkeit, Akzeptanz und Defusion orientierte Grundhaltung eingenommen, dass alle Aspekte des inneren Erlebens beobachtet werden können, willkommen sind und diese weder gefährlich noch direkt verhaltenssteuernd sind (6). Diese Bereitschaft, alles zu erleben was aufkommt, wird als neuer Weg aufgezeigt, um auf Zwangsgedanken zu reagieren (8). Es wird immer wieder geübt, das Erlebte von der Person – dem Erlebenden – zu trennen. So kann zum Beispiel vom «Verstand» gesprochen werden, der Zwangsgedanken «produziert» und vom Klienten, der diese bemerkt und beobachtet. Zwangsgedanken werden dabei als ein Teil des ständig präsenten Gedankenstroms eingeordnet, was es erleichtert, diese nicht als verhaltensrelevanter zu bewerten als andere Gedanken und in der Folge Zwangshandlungen zu unterlassen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung (z. B. Hinterfragen der Befürchtung) findet in ACT nicht statt (6). Die Werteklärung und das engagierte, werteorientierte Handeln stellen weitere Kernaspekte der ACT-Therapie der Zwangsstörung dar, die von Beginn an adressiert werden. Dabei setzen sich die Klienten auch bewusst gefürchteten Stimuli, Gegenständen, Orten, Situationen oder (Zwangs)-gedanken aus (7), weshalb ACT als expositionsorientierte Therapieform eingeordnet wird (6, 10). Die Planung und Durchführung von Expositionsübungen mit ACT wird in einem eigenen Abschnitt dieses Artikels beschrieben. Kasten 1 stellt den Verlauf der Behandlung von Herrn V. inklusive Beispielen für einzelne Übungen dar.
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Tabelle:
ACT-Kernprozesse (2)
Kernprozess
Psychische Flexibilität
Präsentsein (Achtsamkeit)
Den Moment und das eigene Erleben im Hier
und Jetzt wahrnehmen.
Beobachter-Ich (Selbst als Kontext) Das eigene Erleben und dessen Veränderungen
wahrnehmen (z. B. «Ich bin mehr als meine
Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen,
ich bin der stabile Beobachter, der all dies
wahrnimmt»).
Gedanken leichtnehmen (Defusion) Gedanken als solche erkennen können und
sich von ihnen lösen (z. B. trotz des Gedankens
«Meine Hände sind kontaminiert», diese
nicht waschen).
Sich öffnen (Akzeptanz)
Sich dem eigenen Erleben gegenüber öffnen,
z. B. Gefühle und Körperempfindungen
wohlwollend, offen und mitfühlend annehmen;
diese willkommen heissen und die Bereitschaft
fördern, alle Teile des inneren Erlebens zu
empfinden, keine Aspekte zu vermeiden oder
zu bekämpfen.
Was ist mir wichtig? (Werte)
Klarheit darüber, was einem in verschiedenen
Bereichen seines Lebens (z. B. Partnerschaft,
persönliche Freizeit, Freundschaften) wirklich
wichtig ist und auf welche Art man diese
Lebensbereiche pflegen möchte.
Engagiertes Handeln
Orientierung des Handelns an Annäherungs-
zielen, basierend auf den eigenen Werten
(oberstes Ziel: tun, was mir wirklich wichtig ist);
engagiertes Handeln muss sich nicht «gut»
anfühlen.
Psychische Inflexibilität Vorstellungen, Gedanken und Gefühle beziehen sich auf Zukunft und Vergangenheit. Verschmelzung mit dem Selbstkonzept (z. B. «Ich bin ein Versager») oder mit dem gegenwärtigen Erleben (z. B. «Ich bin meine Angst»).
Mit Gedanken verschmolzen sein und diese als Realität, Tatsache oder Gesetz ansehen (z. B. aufgrund des Gedankens «Meine Hände sind kontaminiert», diese wiederholt waschen. Erlebnisvermeidung: z. B. unangenehme Gefühle oder Körperempfindungen vermeiden oder bekämpfen durch Vermeidung von Situationen oder Handlungen, Ablenkung, Betäubung mit Substanzen etc. Zwangshandlungen sind als Erlebnisvermeidung von z. B. Angst, Ekel oder Unsicherheit einzuordnen. Fehlende Klarheit darüber, was einem persönlich wirklich wichtig ist (unabhängig von der Bewertung oder Erwartung anderer) oder Orientierung an starren Normen oder gelernten «Werten» («man sollte…; man muss…»). Orientierung des Handelns an Vermeidungszielen (oberstes Ziel: Erlebnisvermeidung) oder unwirksames Handeln wie Prokrastination, Impulsivität oder Untätigkeit.
Zusammenfassend ist das Ziel einer ACT-Therapie bei Zwangsstörungen also, sich durch konkrete Handlungen in eine werteorientierte Richtung zu bewegen und sich dabei für alle Aspekte des auftauchenden Erlebens zu öffnen. Die Therapie gilt als erfolgreich, wenn der Klient vermehrt werteorientiert handelt und dadurch Vermeidung und Zwangshandlungen abnehmen. Ob und wie viele Zwangsgedanken weiterhin auftauchen und welche Gefühle sich wie stark zeigen, und wie lange sie bestehen bleiben, spielt dabei aus therapeutischer Sicht keine Rolle (6). Die häufig zu beobachtende Abnahme der Zwangsgedanken oder ihrer subjektiven Bedrohlichkeit ist dabei ein willkommener Nebeneffekt, jedoch kein Ziel.
Wirksamkeit von ACT bei der Behandlung von Zwangsstörungen Nachdem zunächst Fallstudien die Wirksamkeit von ACT bei der Behandlung von Zwangsstörungen nahelegten, konnte im Verlauf in vielen randomisierten, kontrollierten Studien die Überlegenheit von ACT gegenüber Wartekontrollgruppen gezeigt werden (11). Die Behandlung mit ACT ergab auch im Vergleich zu einem Training progressiver Muskelentspannung eine stärkere Reduktion der Zwangssymptome (12). Verglichen mit einer Pharmakotherapie zeigte sich, dass sowohl ACT allein als auch ACT kombiniert mit einer Pharmakothe-
rapie (z. B. SSRI) eine stärkere Reduktion der Zwangssymptome bewirkte als eine Behandlung mit SSRI allein. Dieser Effekt blieb auch bestehen, wenn es sich um eine ACT-Gruppentherapie handelte (11, 13). Die zusätzliche Gabe von SSRI verbesserte zudem die Wirksamkeit von ACT nicht (14). Dass ACT eine wirksame Therapiemethode bei Zwangsstörungen darstellt, liess sich in weiteren Studien unabhängig davon zeigen, ob in Therapiesitzungen Expositionsübungen durchgeführt wurden (15) oder nicht (16). Im neuesten systematischen Review wird ACT zusammenfassend als kurz- und langfristig wirksame Therapiemethode zur Reduktion von Zwangssymptomen bei Erwachsenen eingeordnet (17). In der Mehrzahl der darin berücksichtigen Studien wurde ein ACT-Manual (18) verwendet, nach welchem Zwangsstörungen ohne Expositionsübungen während der Sitzung behandelt wurden. Die Autoren folgerten daraus, dass die Kernelemente von ACT zur Reduktion der Symptomatik führten (17). Die Wirksamkeit von ACT ohne die Durchführung von Expositionsübungen innerhalb der Therapiesitzung lässt sich durch die konzeptuelle Nähe zwischen ACT und Expositionsübungen erklären: Klienten werden angeleitet, sich mit gefürchteten und bisher vermiedenen Stimuli, Situationen oder Teilen des inneren Erlebens (z. B. Gedanken oder Gefühlen) zu konfrontieren, ihre dysfunktionalen Reaktionen zu unterlas-
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sen und stattdessen einen neuen Umgang zu erlernen (7). Das zeigt sich auch in dem oben genannten ACT-Manual für Zwangsstörungen, welches keine Expositionsübungen während der Sitzung beinhaltet: Erstens wurden dort die an Expositionen besonders beteiligten Kernprozesse Defusion, Akzeptanz und engagiertes, werteorientiertes Handeln in den Sitzungen adressiert und geübt. Zweitens wurde mit den Klienten geplant, dass sie sich zwischen den Sitzungen gefürchteten Stimuli und Situationen aussetzen, um werteorientiert zu handeln (18). Es zeigt sich somit, dass ACT per se eine expositionsorientierte Therapieform ist (6) und eine ACT-Therapie der Zwangsstörung nicht als eine grundsätzlich andere Therapieform, sondern eher als eine andere Erscheinungsform der Expositionstherapie gesehen werden kann (10). Es werden dabei sehr ähnliche Wirkmechanismen vermutet (7, 10, 19). Es zeigte sich auch empirisch, dass das ACT-Rational statt eines klassisch-verhaltenstherapeutischen Habituations-Rationals bei der Durchführung einer Expositionstherapie verwendet werden kann: Beide Varianten waren bei der Behandlung der Zwangsstörung hochwirksam. Es ergaben sich keine Unterschiede bezüglich der kurz- und langfristigen Symptomreduktion, der Veränderungsprozesse oder der Akzeptanz der Methode (19). Dies spiegelt sich in der aktuellen S3-Leitlinie der DGPPN für die Behandlung von Zwangsstörungen (20) jedoch noch nicht wider: Dort wird eine störungsspezifische KVT einschliesslich Exposition als Psychotherapie der ersten Wahl empfohlen (Empfehlungsgrad A). Zu ACT heisst es, dass ACT für die Therapie von Zwangsstörungen in Erwägung gezogen werden kann (Empfehlungsgrad 0). Ob aufgrund der neuesten Forschungsergebnisse ACT einschliesslich Exposition zukünftig stärker empfohlen wird, bleibt abzuwarten.
Was spricht besonders für das Einnehmen der ACT-Haltung bei der Therapie der Zwangsstörung? Aus einer psychotherapeutischen Perspektive sprechen viele Aspekte dafür, das ACT-Rational bei der Behandlung von Zwangsstörungen anzuwenden. 1. Bei Zwangsbetroffenen liegen sehr häufig komorbid
weitere psychiatrische Erkrankungen vor (21). Mit ACT als transdiagnostischem Ansatz können mit einem Konzept und den gleichen Übungen verschiedene Störungsbilder behandelt werden. So kann beisielsweise die neu erlernte Fähigkeit, Gedanken leicht zu nehmen, sowohl bei Zwangsgedanken als auch bei depressiven Gedanken angewendet werden; oder der akzeptanzorientierte Umgang mit Angst vor Kontamination kann auf den Umgang mit Trauer über einen Verlust übertragen werden. 2. ACT setzt einen Schwerpunkt auf die Förderung der Bereitschaft, unangenehme Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen zu erleben. Diese Bereitschaft zeigte sich empirisch als Prädiktor für eine erfolgreiche Expositionstherapie bei Erwachsenen mit einer Zwangsstörung (22). 3. Es gibt Hinweise darauf, dass sich eine ACT-Therapie bei Zwangsstörungen, verglichen mit klassischer KVT, leicht positiver auf die Lebensqualität der Betroffenen auswirkt (11). Dies stimmt mit dem über-
Kasten 1
Fallbeispiel: Psychische Inflexibilität bei Herrn V.
Der 28-jährige, von der Sozialhilfe lebende Herr V. leidet seit fast 10 Jahren an einer schweren Zwangsstörung. Er hat besonders grosse Angst davor, sich mit dem Fuchsbandwurm zu infizieren und Jahrzehnte später an alveolärer Echinokokkose zu erkranken und zu versterben. Bei der genaueren Exploration zeigt sich die Kernangst vor einem langsamen, qual- und leidvollen Sterbeprozess. Aufgrund dieser Angst vermeidet es Herr V. möglichst, das Haus zu verlassen. Wenn er es doch verlässt, meidet er Grünflächen, Parks und Wälder. Er geht zudem während des Aufenthalts draussen und bei der Rückkehr in seine Wohnung Zwangshandlungen nach (z. B. bei Hundekot die Strassenseite wechseln, seine Kleidung wechseln und waschen, die Schuhe waschen und desinfizieren, Handschuhe tragen, Händewaschen etc.) Nachdem ambulante Behandlungsversuche keine deutliche und nachhaltige Besserung bewirkt haben, beginnt Herr V. eine intensive stationäre Psychotherapie auf der Abteilung Verhaltenstherapie stationär (VTS) der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel. Die Behandlung basiert auf dem ACT-Konzept, wobei Expositionsübungen mit Reaktionsmanagement ein zentraler Bestandteil der Therapie sind. Bezüglich der ACT-Kernprozesse zeigt sich zu Beginn der Behandlung:
Präsentsein (Achtsamkeit): Herr V. ist durch seine Befürchtungen einerseits in der Zukunft («Ich könnte erkranken, leiden und sterben») und andererseits in der Vergangenheit gefangen («Bin ich vorhin zu nah am Strauch im Vorgarten vorbeigegangen?»). Zudem bemerkt er häufig nicht bewusst, wenn er damit beginnt, Zwangshandlungen auszuführen. Er beschreibt, dass diese in seinem Erleben quasi automatisch ablaufen.
Beobachter-Ich (Selbst als Kontext): Herr V. verschmilzt häufig mit den gerade präsenten Gefühlen: «Ich bin meine Angst» sowie mit dem Selbstkonzept «Ich bin ein Versager», was sich vor allem auf seine fehlende Berufstätigkeit bezieht. Als Folge vermeidet er es, auch unabhängig von der Zwangssymptomatik, neue Menschen kennenzulernen.
Gedanken leicht nehmen (Defusion): Seine Gedanken setzt Herr V. häufig mit einer Tatsache gleich: «Meine Hände sind kontaminiert», was dann scheinbar unweigerlich zu einer Zwangshandlung führt: «Ich muss sie jetzt waschen». Dass auch Letzteres lediglich ein Gedanke ist, bemerkt Herr V. am Anfang noch nicht.
Sich öffnen (Akzeptanz): Die einzige Orientierung im bisherigen Alltag von Herrn V. bietet die Erlebnisvermeidung: die Angst vor Leiden und einem qualvollen Tod führt zur Vermeidung von Situationen, Hobbies und Begegnungen. Herr V. kämpft mit Zwangshandlungen verzweifelt gegen die Angst an, um diese möglichst klein zu halten. Ein Grossteil seiner Lebensenergie verpufft im Versuch, das eigene Erleben zu kontrollieren und «in den Griff» zu bekommen.
Was ist mir wichtig? (Werte): Zu Beginn der Behandlung kann Herr V. nicht benennen, was ihm wichtig ist. Seine Zwangsstörung hat in den letzten Jahren so viel Raum und Zeit eingenommen, dass andere Lebensbereiche verarmt sind. Er hat wenige soziale Kontakte, geht keiner Berufstätigkeit nach und für Hobbies bleibt aufgrund der langen Wasch- und Putzrituale ebenfalls keine Zeit.
Engagiertes Handeln: Das Handeln von Herrn V. orientiert sich bisher an der Erlebnisvermeidung. Die Zwangshandlungen sind kurzfristig wirksam (die Angst reduziert sich leicht), langfristig jedoch unwirksam (es kommen neue Zwangshandlungen hinzu oder sie nehmen mehr Zeit in Anspruch).
geordneten Ziel von ACT überein, durch eine grössere psychische Flexibilität die Lebensqualität zu verbessern. 4. Bei einem klassisch-verhaltenstherapeutischen Vorgehen während der Expositionsübung hat die zwangsbetroffene Person die Erwartung, dass die Angst habituiert und bestenfalls verschwindet. Dadurch lernen Betroffene, dass es sich lohnt, einen Weg zu suchen, damit unangenehmes Erleben
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Kasten 2
Fallbeispiel: Vergrösserung der psychischen Flexibilität bei Herrn V.
Im Lauf der Therapie gelang es Herrn V. mit Hilfe der ACT-Therapie, die psychische Flexibilität zu steigern. Dies äussert sich auf der Ebene der Kernprozesse:
Präsentsein (Achtsamkeit): Herr V. konnte durch Achtsamkeitsübungen (z. B . Atem-Meditation, Body-Scan) trainieren, den Impuls zum Ausführen einer Zwangshandlung besser zu bemerken. Er kann nun häufiger aus dem «Autopiloten» aussteigen und selbst entscheiden, ob er bei aufkommender Angst und Zwangsimpulsen den Zwangshandlungen nachgeht oder nicht (Punkt der Entscheidung). Stattdessen kann er nun häufiger etwas tun, was ihm wichtig ist (z. B. keinen Umweg nehmen, sondern durch den Park gehen und dadurch pünktlich und verlässlich sein).
Beobachter-Ich (Selbst als Kontext): Herr V. konnte (z. B. mit Hilfe der Schachbrett-Metapher) die Erfahrung machen, dass er mehr ist als einzelne Gefühle und Gedanken. Es gelingt ihm inzwischen häufiger, Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und Handlungsimpulse aus der Perspektive seines stabilen «Beobachter-Ichs» zu betrachten. Er kann diese auch besser benennen: «Ich bemerke, dass gerade Angst da ist» oder «Ich bemerke, dass ich den Impuls habe, meine Hände zu waschen». Dies ermöglicht ihm, bewusstere Entscheidungen zu treffen. Bezüglich des Selbstkonzeptes fasst Herr V. es so zusammen: «Ich bin kein Versager, ich bin der Beobachter des Gedankens, dass ich ein Versager bin».
Gedanken leichtnehmen (Defusion): Durch verschiedene Übungen, um Gedanken loszulassen und leicht zu nehmen (Defusionsübungen, z. B. Gedanken wie Wolken ziehen lassen), kann Herr V. sich besser aus seinem «Gedankengefängnis» befreien. Dabei helfen ihm auch veränderte Formulierungen: «Ich habe den Gedanken, dass meine Hände kontaminiert sind und ich sie waschen muss». Durch die neue Formulierung bemerkt Herr V. einen gewissen Abstand zu seinen Gedanken und kann sein Verhalten bewusster steuern. Dies wird ihm anhand der Busfahrer-Metapher (23 [p.241]) besonders deutlich. Sein Fazit: «Die Gedanken sind weiterhin Fahrgäste in meinem Bus, sie reissen mir aber weniger oft das Steuer aus der Hand».
Sich öffnen (Akzeptanz): Im Verlauf der Behandlung kann mit Hilfe der Übung «Kreative Hoffnungslosigkeit» mit Herrn V. herausgearbeitet werden, dass keiner der bisherigen Kontroll- und Vermeidungsversuche langfristig gegen die Angst vor einem qualvollen Tod geholfen hat. Noch weniger haben sie ihm dabei geholfen, die Dinge zu tun, die ihm wirklich wichtig sind. Es gelingt Herrn V., sich im Rahmen von Expositionsübungen seinen Gedanken und Gefühlen zu stellen, ohne Zwangshandlungen nachzugehen. Die dabei aufkommenden starken Ängste kann er benennen, mitfühlend beobachten und im Körper lokalisieren. In den Kampf gegen seine Gefühle steigt Herr V. ab und zu aus Gewohnheit noch ein, kann dies jedoch rascher bemerken und den Kampf dann oft beenden.
Was ist mir wichtig? (Werte): Durch verschiedene Übungen (z. B. «Wie sieht für mich ein idealer Tag aus?» oder «Können Sie sich an einen Moment erinnern, der für Sie stimmig war? Was genau hat dort für Sie so richtig gut gepasst?») konnte Herr V. nach und nach mit dem in Kontakt kommen, was ihm in verschiedenen Lebensbereichen wichtig ist. Er wünscht sich, wieder Waldspaziergänge machen zu können (Wert: Erholung und Bewegung in der Natur) und seine Familie auf dem Land zu besuchen (Wert: Den persönlichen Kontakt zu meiner Familie pflegen). Zu wissen, was ihm wichtig ist, motiviert Herrn V. und bietet während der Therapie eine wichtige Orientierung, auch für die Planung und Durchführung von Expositionsübungen.
Engagiertes Handeln: In begleiteten und zunehmend selbstständig durchgeführten Expositionsübungen kann Herr V. wieder vermehrt Dinge tun, die ihm wichtig sind. Dabei lässt er sein Handeln nicht mehr durch seine Gedanken und Gefühle dominieren. Herr V. sagt: «Mich immer wieder für den neuen Weg zu entscheiden ist anstrengend und es fühlt sich meistens anfangs nicht gut an, die Ängste begleiten mich ab und zu bei dem, was ich tue. Und: Ich tue es wieder – das zählt.
nachlässt und aufhört und das «Problem» gelöst ist. Im Gegensatz dazu besteht in ACT eine deutlich grössere Flexibilität: Es wird geübt, alle Facetten des
Erlebens (z. B. auch starke Gefühle) annehmen zu können und gleichzeitig das eigene Verhalten völlig unabhängig davon zu steuern. Eine Hypothese ist daher, dass das Trainieren der offenen, wohlwollenden und neugierigen ACT-Grundhaltung und das gleichzeitige Zusteuern auf wertebasierte Lebensziele Klienten dabei unterstützt, auch mit anderen zukünftigen Belastungen einen langfristig hilfreichen Umgang zu finden. Ob sich dies beispielsweise in einer im Verlauf geringeren Prävalenz anderer psychischer Erkrankungen zeigt, gilt es empirisch zu untersuchen.
Planung und Durchführung von Expositionen nach ACT bei Zwangsstörungen Die folgenden Abschnitte basieren auf der eigenen klinischen Erfahrung sowie zwei hilfreichen Artikeln (6, 8) (siehe Lesetipps).
Förderliche Ausgangslage Um mit Expositionsübungen zu beginnen, sollte es dem Klienten ermöglicht werden, die ACT-Haltung durch erlebnisorientierte Übungen (z. B. «Tauziehen mit dem Monster») zu verinnerlichen. Zudem gilt es, die Erwartungen zu klären: Bei einer ACT-Exposition geht es darum, etwas zu tun, was einem wichtig ist. Die Reduktion der Zwangsgedanken oder Habituation der Gefühle wie Angst ist dabei nicht das Ziel. Stattdessen sollen Zwangsgedanken und die damit verbundenen Gefühle in jedem einzelnen Moment offen wahrgenommen werden können, ohne Zwangshandlungen oder andere Formen der Erlebnisvermeidung durchzuführen.
Vorbereitung Die Auswahl einer Expositionsübung orientiert sich an den Werten des Klienten (z. B. «den persönlichen Kontakt zu meiner Familie pflegen»). Bei der konkreten Planung wird eine Aktivität definiert, wobei auch die Dauer berücksichtigt werden kann (z. B. «mich mit meiner Familie für eine Stunde im Park treffen»). Entsprechend werden verschiedene mögliche Expositionsübungen gesammelt. Diese werden anhand ihrer Wichtigkeit bezüglich der eigenen Werte und anhand dessen, wie bereit der Klient ist, sich ohne Erlebnisvermeidung in diese Situation zu begeben, in eine hierarchische Reihenfolge gebracht. Die Bereitschaft kann dabei beispielsweise mit Werten zwischen 0 und 100 quantifiziert werden. Letztlich sucht der Klient eine der Situationen aus. Es sollte auch vorbesprochen und praktisch geübt werden, wie der Klient mit auftauchendem unangenehmem Erleben umgehen möchte (z. B. «Gefühlen Raum geben» (23 [p.70]) oder Gedanken mit «Ich habe den Gedanken, dass…» ergänzen).
Durchführung Während der Expositionsübung handelt der Klient werteorientiert. Die ACT-Therapeutin exploriert dabei, wie der Klient mit seinem inneren Erleben umgeht (z. B. «Gibt es irgendetwas, wogegen Sie gerade ankämpfen?»). Sie ermutigt ihn, sich gegenüber unangenehmem Erleben zu öffnen (z. B. «Können Sie dem Gefühl der Angst noch etwas mehr Raum verschaffen und mir
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beschreiben, wo Sie die Angst spüren?»). Während der
Expositionsübung übt der Klient zudem, seine Gedan-
ken leicht zu nehmen (z. B. «Ich nehme meine Zwangs-
gedanken wahr und handle entsprechend meiner
Werte») und sein Erleben aus einer Beobachterperspek-
tive wahrzunehmen (z. B. «Ich bemerke meine Gedanken,
Gefühle, Körperempfindungen und Handlungsimpulse»).
Die Grösse der Bereitschaft dazu, alle Aspekte des Erle-
bens zu spüren, kann wiederholt abgefragt werden (z. B.
zwischen 0 und 100). Die Übung kann dann beendet
werden, wenn die vorbesprochene werteorientierte
Handlung für die geplante Dauer ausgeführt wurde. Da-
durch macht der Klient die Erfahrung, dass er zuvor ver-
miedene Situationen (z. B. Aufenthalt im Park), die ihm
wichtig sind (z. B. da er dort seine Familie trifft), auch dann
aufsuchen kann, wenn Zwangsgedanken und -impulse
sowie starke unangenehme Gefühle und Körperempfin-
dungen präsent sind.
Die ersten Expositionsübungen sollten gemeinsam
durchgeführt werden. Zwischen den Therapiesitzungen
ist das selbstständige Üben mit geplanten und sponta-
nen Expositionen unerlässlich.
l
Korrespondenzadresse: M. Sc. Jannis Behr
Leitender Psychologe Verhaltenstherapie stationär VTS Zentrum für Psychosomatik und Psychotherapie Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Wilhelm-Klein-Strasse 27 4002 Basel
E-Mail: Jannis.Behr@upk.ch
Referenzen: 1. Hayes SC et al.: Acceptance and commitment therapy: an experiential
approach to behavior change. Paperback ed. Guilford Press; 1999. 2. Hayes SC et al.: Acceptance and commitment therapy: model,
processes and outcomes. Behav Res Ther. 2006;44(1):1-25. doi:10.1016/j.brat.2005.06.006. 3. Hayes SC et al.: Measuring experiential avoidance: a preliminary test of a working model. Psychol Rec. 2004;54(4):553-578. doi:10.1007/ BF03395492. 4. Doorley JD et al.: Psychological flexibility: What we know, what we do not know, and what we think we know. Soc Personal Psychol Compass. 2020;14(12):1-11. doi:10.1111/spc3.12566. 5. Hayes SC et al.: Experiential avoidance and behavioral disorders: a functional dimensional approach to diagnosis and treatment. J Consult Clin Psychol. 1996;64(6):1152-1168. doi:10.1037/0022006X.64.6.1152. 6. Twohig MP: The application of acceptance and commitment therapy to obsessive-compulsive disorder. Cogn Behav Pract. 2009;16(1):1828. doi:10.1016/j.cbpra.2008.02.008. 7. Tolin DF. Alphabet Soup: ERP, CT, and ACT for OCD. Cogn Behav Pract. 2009;16(1):40-48. doi:10.1016/j.cbpra.2008.07.001 8. Twohig MP et al.: Exposure therapy for OCD from an acceptance and commitment therapy (ACT) framework. J Obsessive-Compuls Relat Disord. 2015;6:167-173. doi:10.1016/j.jocrd.2014.12.007. 9. Ong CW et al. Moderators and processes of change in traditional exposure and response prevention (ERP) versus acceptance and commitment therapy-informed ERP for obsessive-compulsive disorder. J Obsessive-Compuls Relat Disord. 2020;24:100499. doi:10.1016/j.jocrd.2019.100499 10. Hannan SE et al.: Mindfulness- and acceptance-based behavior therapy for obsessive-compulsive disorder. In: Orsillo SM, Roemer L (Eds.) Acceptance and mindfulness-based approaches to anxiety. Series in anxiety and related disorders. Springer US; 2005:271-299. doi:10.1007/0-387-25989-9_11. 11. Philip J et al.: Acceptance and commitment therapy in the treatment of obsessive-compulsive disorder: a systematic review. J ObsessiveCompuls Relat Disord. 2021;28:100603. doi:10.1016/j. jocrd.2020.100603. 12. Twohig MP et al.: A randomized clinical trial of acceptance and commitment therapy versus progressive relaxation training for obsessive-compulsive disorder. J Consult Clin Psychol. 2010;78(5):705716. doi:10.1037/a0020508. 13. Soondrum T et al.: The applicability of acceptance and commitment therapy for obsessive-compulsive disorder: a systematic review and meta-analysis. Brain Sci. 2022;12(5):656. doi:10.3390/brainsci12050656.
Merkpunkte:
● Die Therapie der Zwangsstörung soll Expositionsübungen beinhalten. ● ACT ist ein expositionsorientiertes Verfahren. ● Statt eines Habituations-Rationals kann bei Expositionsübungen die
ACT-Grundhaltung eingenommen werden. ● Expositionsübungen nach ACT orientieren sich an den Werten und der Bereit-
schaft des Klienten. ● Die Bereitschaft, alle Aspekte des Erlebens zu empfinden, kann vor und wäh-
rend Expositionsübungen trainiert werden – am besten in Form von erlebnisbasierten Übungen.
Lesetipps:
Für Therapeuten ● Twohig MP et al.: Exposure therapy for OCD from an acceptance and commit-
ment therapy (ACT) framework. J Obsessive-Compuls Relat Disord. 2015;6:167173. doi:10.1016/j.jocrd.2014.12.007. ● Twohig MP: The application of acceptance and commitment therapy to obsessive-compulsive disorder. Cogn Behav Pract. 2009;16(1):18-28. doi:10.1016/j. cbpra.2008.02.008.
Für Betroffene ● Mazza MT: The ACT Workbook for OCD: mindfulness, acceptance, and exposu-
re skills to live well with obsessive-compulsive disorder. New Harbinger Publications; 2020.
14. Vakili Y et al.: Acceptance and commitment therapy, selective serotonin reuptake inhibitors and their combination in the improvement of obsessive-compulsive symptoms and experiential avoidance in patients with obsessive-compulsive disorder. Iran J Psychiatry Behav Sci. 2015;9(2). doi:10.17795/ijpbs845.
15. Arch JJ et al.: Randomized clinical trial of cognitive behavioral therapy (CBT) versus acceptance and commitment therapy (ACT) for mixed anxiety disorders. J Consult Clin Psychol. 2012;80(5):750-765. doi:10.1037/a0028310.
16. Twohig M et al.: Acceptance and commitment therapy for obsessive compulsive disorder and obsessive compulsive spectrum disorders: A Review. Curr Psychiatry Rev. 2014;10(4):296-307. doi:10.2174/1573400 510666140714172145.
17. Evey KJ et al.: A systematic review of the use of acceptance and commitment therapy to treat adult obsessive-compulsive disorder. Behav Ther. 2023;54(6):1006-1019. doi:10.1016/j.beth.2022.02.009.
18. Twohig MP et al.: Increasing willingness to experience obsessions: acceptance and commitment therapy as a treatment for obsessivecompulsive disorder. Behav Ther. 2006;37(1):3-13. doi:10.1016/j. beth.2005.02.001.
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23. Wengenroth M: Therapie-Tools Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT): mit E-Book inside und Arbeitsmaterial. 2. Auflage. Beltz; 2017.
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