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Hypertonie-Refresher für die neurologische Praxis
Foto: D. Eschle
In der Neurologie kommen wir mit der arteriellen Hypertonie sowie mit Antihypertensiva in Berührung, wenn wir beispielsweise bei der Behandlung des essenziellen Tremors oder zur Migräneprophylaxe bestimmte Betablocker verschreiben oder uns überlegen, welcher Blutdruck auf der Stroke Unit toleriert werden soll, und wenn wir über die beste Sekundärprophylaxe aufklären nach einer Hirnblutung. Die arterielle Hypertonie ist ein Thema, das fächerübergreifend von Relevanz ist. Sie ist häufig, potenziell gefährlich und kann iatrogen entstehen.
Daniel Eschle
von Daniel Eschle
Zusammenfassung Die Hypertonie ist der führende Risikofaktor für alle Formen von Schlaganfällen und fördert auch den kognitiven Abbau. Deshalb sollte der Kontakt mit dem Gesundheitswesen grosszügig für eine Messung des Blutdrucks (BD) genutzt werden. Im Hinblick auf Morbidität und Mortalität ist als Erstes (mit oder ohne Medikation) ein Ziel-BD < 140/90 mmHg wünschenswert für Erwachsene < 65 Jahre. Entgegen der häufig vertretenen Meinung von Patientenseite besteht im Normalfall keine kausale Assoziation zwischen hohem BD und einer Veranlagung für Kopfschmerzen oder Migräne. Nur in Ausnahmefällen führt ein erhöhter BD zu Kopfweh: Es handelt sich dann typischerweise um einen hypertensiven Notfall mit BD-Werten über 180/110 mmHg. Eine Migräneanamnese geht dagegen häufiger mit einer späteren Hypertonie einher. Und verschiedene Antihypertensiva sind wirksam als Migräneprophylaxe – selbst bei noch normalem BD. Basierend auf aktuellen Leitlinien wird in dieser Übersicht weiteres essenzielles Wissen rund um die Hypertonie für den neurologischen Alltag vermittelt.
Einleitung Weltweit kann bei rund einem von drei Erwachsenen davon ausgegangen werden, dass eine arterielle Hypertonie vorliegt. Die meisten Betroffenen sind sich dessen nicht bewusst. Mit einer gut behandelten Hypertonie können die Risiken für diese Erkrankungen demnach gesenkt und vorzeitige Todesfälle vermieden werden. Allerdings erhält weltweit nur ein Bruchteil der Betroffenen eine adäquate Behandlung. Vor diesem Hintergrund benötigen alle in der Neurologie tätigen Ärztinnen und Ärzte stets genügend Hintergrundwissen zum Thema Hypertonie, was mit dieser
Übersicht aufgefrischt werden soll. Im Wesentlichen basiert diese Arbeit auf einschlägigen Leitlinien und Reviews (1–5). Der Fokus liegt auf praktisch anwendbarem Wissen und weniger auf den komplexen pathophysiologischen Hintergründen.
Wie entsteht die arterielle Hypertonie? Mehrheitlich haben wir es mit einer primären oder essenziellen Hypertonie zu tun, die aufgrund einer komplexen Wechselwirkung zwischen altersbedingten Gefässveränderungen, zahlreichen genetischen Einflüssen sowie Umwelt- und Lebensstilfaktoren entsteht (1). Wie wir im Abschnitt zur nicht pharmakologischen Hypertoniebehandlung sehen werden, ist die Veranlagung für erhöhten Blutdruck jedoch kein unausweichliches Schicksal. Nur eine Minderheit der Betroffenen leidet an einer sekundären Hypertonie, die beispielsweise als Folge einer Nierenarterienstenose oder eines Cushing-Syndroms entstehen kann. An die seltene Möglichkeit einer sekundären Hypertonie muss unter anderem bei Personen < 40 Jahre, einer therapieresistenten Hypertonie, Stigmata einer endokrinen Erkrankung oder bei Hinweisen für ein Schlaf-Apnoe-Syndrom gedacht werden. Zudem können gewisse Medikamente einen ungünstigen Effekt auf den BD ausüben: beispielsweise nicht steroidale Antirheumatika, Kortikosteroide oder orale Kontrazeptiva (3). Der BD muss ausserdem im Rahmen einer Migräneprophylaxe mit Erenumab im Auge behalten werden (6). Umgekehrt muss daran gedacht werden, dass gewisse Wirkstoffe den BD senken, obwohl sie nicht für diese Indikation verschrieben werden, wie beispielsweise Tamsulosin oder Timolol-Augentropfen.
Wie messen wir den Blutdruck korrekt? Aufgrund der hohen Hypertonieprävalenz und deren grossen Relevanz für die individuelle sowie allgemeine Gesundheit sollte der Kontakt mit dem Gesundheitswe-
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Tabelle:
Einteilung der Blutdruckwerte gemäss der European Society of Hypertension sowie der Nationalen Versorgungsleitlinie «Hypertonie» aus Deutschland (1–3). Für die Schweiz können Empfehlungen zur Hypertonieabklärung und -behandlung über www.swisshypertension.ch abgerufen werden. Praktisch sind die in verschiedenen Landessprachen erhältlichen Zusammenfassungen für die Kitteltasche (Pocketcards). Die Leitlinien aus Österreich stammen noch von 2019, weshalb sie hier nicht aufgeführt wurden.
Einteilung der Blutdruckwerte (1–3)
Kategorie
systolisch (mmHg)
diastolisch (mmHg)
optimal
< 120
und < 80
normal
120–129 und 80–84
hoch-normal
130–139
und/oder 85–89
Hypertonie Grad 1
140–159
und/oder
90–99
Hypertonie Grad 2
160–179
und/oder
100–109
Hypertonie Grad 3
≥ 180
und/oder
≥ 110
sen grosszügig für eine BD-Messung genutzt werden. Die formalen Rahmenbedingungen für eine korrekte BD-Messung sind recht aufwändig (7) (Kasten). Es gibt Stimmen, die davon ausgehen, dass kaum eine diagnostische Massnahme dermassen fehlerbehaftet durchgeführt wird wie die BD-Messung. Gemäss einer Studie aus den Niederlanden, die Krankengeschichten in der Grundversorgung auswertete, erfolgten eine Hypertoniediagnose und -behandlung bei einem beträchtlichen Anteil der Fälle basierend auf lediglich 1 bis 2 Messungen in der Praxis (8), was einschlägigen Guidelines widerspricht. Wenn der Blutdruck in der Praxis erhöht ist – es wird eine Schwelle von ≥ 140/90 mmHg empfohlen – muss zunächst an die Möglichkeit einer Weisskittelhypertonie gedacht werden. Diese Personen benötigen eine Instruktion, damit sie zuhause weitere BD-Kontrollen selbständig durchführen oder es wird ein sogenanntes ambulantes BD-Monitoring über 24 Stunden mit einem Messgerät geplant, das ständig getragen wird. Der Vorteil dieser Methode ist, dass auch nächtliche BD-Werte erfasst werden. In der Nacht sollte der BD bei Personen ohne Neigung zu Hypertonie tiefer sein als tagsüber. Nicht vergessen gehen sollte, dass auch einmal am anderen Arm gemessen wird. Das ist beispielsweise sinnvoll bei Patienten mit einem vaskulären Ereignis in der Vorgeschichte (und mutmasslich erheblicher Arteriosklerose) oder im Rahmen einer Schwindelabklärung (Suche eines Subclavian-Steal-Phänomens). Eine Blutdruckmessung im Stehen ist ebenfalls sinnvoll, um eine orthostatische Hypotonie mit erhöhtem Synkopenrisiko zu suchen, dies vor allem bei älteren Menschen nach Einleitung einer antihypertensiven Therapie. Bei der eigentlichen Synkopenabklärung wird allerdings eine BD- und Pulsmessung liegend/stehend bevorzugt (Schellong-Test), um eine orthostatische Hypotonie oder ein posturales Tachykardiesyndrom zu suchen.
Wann ist der Blutdruck zu hoch? Der BD ist zunächst «nur» eine physiologische Variable, die wir nicht invasiv und mit geringem apparati-
Korrekte Blutdruckmessung (7)
● Ruhiger Raum mit angenehmer Temperatur, während der Messungen nicht sprechen oder telefonieren.
● 30 min vor der Messung Verzicht auf Rauchen, Kaffee, Essen, körperliche Anstrengung, und es sollte kein Harndrang vorliegen.
● Nach 3 bis 5 min entspanntem Sitzen auf einem Stuhl mit Rückenlehne und beiden Füssen auf dem Boden erfolgt die erste Messung am entkleideten Oberarm auf Herzhöhe mit dem Arm auf einer Tischoberfläche.
● Verwendung eines zertifizierten Gerätes, und die Blutdruckmanschette sollte eine passende Grösse in Relation zum Oberarmumfang aufweisen.
● 3 Messungen im Abstand von 1 min (dazu gehört auch die Messung der Pulsfrequenz) mit Verwertung des Durchschnitts der beiden letzten Messungen.
● Bei der Erstkonsultation den Blutdruck auch auf der Gegenseite messen. ● Reproduzierbare Seitenunterschiede über 15 bis 20 mmHg systolisch müssen
weiter abgeklärt werden (und in Zukunft nur auf der höheren Seite messen). ● Vor allem bei älteren Menschen nach Einleitung einer antihypertensiven Thera-
pie lohnt sich noch eine Messung im Stehen zur Suche einer orthostatischen Hypotonie mit einem Blutdruckabfall systolisch über 20 und/oder diastolisch über 10 mmHg nach 3 min.
vem Aufwand messen können. Aufgrund epidemiologischer und anderer Studien – im Hinblick auf die zukünftige Morbidität und Mortalität – wurden bestimmte Grenzwerte für den «normalen» BD ermittelt, siehe Tabelle. Nebst dem Grad der Hypertonie basierend auf den Messwerten existiert auch noch eine Stadieneinteilung von 1 bis 3 mit zunehmenden Endorganschäden (1–3).
Flankierende Massnahmen Bei allen Personen mit bestätigter Hypertonie wird unter anderem ein 12-Kanal-EKG sowie eine Labordiagnostik mit Elektrolyten, Serumkreatinin mit Clearanceberechnung, einem Lipidstatus, einer Glukose- und/ oder einer HbA1c-Bestimmung sowie einem Urinstatus (z. B. mittels Streifentest zur Abschätzung einer allfälligen Proteinurie) empfohlen. Die körperliche
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Untersuchung konzentriert sich – nebst der Messung von BD und Puls – auf den Body-Mass-Index, die Auskultation von Herz und Karotiden, die Inspektion der unteren Extremitäten (im Hinblick auf Ödeme und Stauungszeichen) und auf die Palpation der peripheren Pulse (3).
Was sind die BD-Zielwerte bei der Behandlung? Der langfristige Nutzen einer antihypertensiven Behandlung stellt ein Kontinuum dar. Es ist kein «Alles oder Nichts». Und vor allem ist der Nutzen grösser, je höher die BD-Ausgangswerte sind und je «ungesünder» die Betroffenen sind. Exemplarisch folgen einige Werte aus einer amerikanischen Studie (9). Der «Number Needed to Treat (NNT)» zur Vermeidung eines kardiovaskulären Ereignisses wurde eine systolische BD-Reduktion von 12 mmHg über 10 Jahre zugrunde gelegt. Bei einem BD-Ausgangswert von 140–159/90–99 mmHg beträgt die NNT 20 für gesunde Personen. Die NNT sinkt auf 11, wenn Risikofaktoren vorliegen wie Alter ≥ 60 Jahre, Rauchen und/oder erhöhte Cholesterinwerte. Mit unter anderem einer diabetischen Stoffwechsellage, einem Herzinfarkt und/oder Schlaganfall in der Anamnese beträgt die NNT 9. Die NNT werden noch besser bei einem BD-Ausgangswert von ≥ 160/100 mmHg. Bei der BD-Behandlung braucht es also eine langfristige Perspektive. Aber es lohnt sich und jeder mmHg zählt! Um die Akzeptanz, langfristige Adhärenz und Verträglichkeit einer antihypertensiven Behandlung zu gewährleisten, empfiehlt die deutsche Leitlinie individualisierte Therapieziele für den BD festzulegen, dies im Dialog mit den Patienten und Patientinnen. Bei diesem pragmatischen Ansatz reicht der Zielkorridor von 120/70 bis 160/90 mmHg, wobei BD-Werte <140/90 wünschenswert wären (3). Einflussgrössen wie beispielsweise Alter, Lebenserwartung, Nebenwirkungen durch die Medikation, weitere vaskuläre Risikofaktoren, Proteinurie sowie Begleiterkrankungen sollen mitberücksichtigt werden. Es ist klar erwiesen, dass auch ältere Menschen von einer Hypertoniebehandlung profitieren, aber man soll vorsichtig(er) vorgehen, um das Risiko orthostatischer Symptome oder einer dramatischen Verschlechterung der Nierenfunktion zu vermeiden. Je mehr vaskuläre Risikofaktoren bekannt sind oder wenn es bereits zu einem vaskulären Ereignis gekommen ist, desto günstiger ist ein tieferer BD-Zielwert! Um eine Organminderperfusion und andere Nebenwirkungen zu vermeiden, sollen aber auch besonders niedrige Werte vermieden werden, siehe Untergrenze von 120/70 mmHg im Rahmen des genannten Zielkorridors.
Wie soll eine Hypertonie behandelt werden? Voraussetzung für eine Behandlung ist, dass durch korrekt und mehrfach durchgeführte Messungen eine arterielle Hypertonie bestätigt wurde. Das klingt banal, aber wird in der Realität teils nur halbherzig befolgt (8). Grundsätzlich können bereits bei hochnormalem BD als nicht medikamentöse Massnahmen zur BD-Senkung und zur Reduktion des kardiovaskulären Risikos eine Kochsalzreduktion und weitere Ernährungsanpassungen, körperliche Aktivität, Gewichtsreduktion, Tabakver-
zicht sowie eine Zurückhaltung beim Alkoholkonsum empfohlen werden (3). Liegt eine Hypertonie Grad 1 mit geringem kardiovaskulärem Risiko vor, wird zunächst eine antihypertensive Monotherapie empfohlen. Wenn vaskuläre Risikofaktoren vorliegen oder ein vaskuläres Ereignis bekannt ist und/oder eine Hypertonie Grad 2 oder 3, wird heutzutage die antihypertensive Behandlung mit einer (fixen) Kombination aus zwei niedrig dosierten Substanzen mit unterschiedlichem Wirkmechanismus empfohlen. Dazu gehört beispielsweise eine Kombination aus einem Kalziumantagonist mit einem Sartan (Angiotensin-2-Rezeptor-Blocker [ARB]) oder einem ACE-Hemmer (angiotensin-converting enzyme inhibitor). Falls das nicht ausreicht, wird zum Beispiel noch ein Thiaziddiuretikum dazu gegeben. Bei Thiaziddiuretika sollte das Risiko einer Hyponatriämie im Auge behalten werden. Zu beachten ist ferner, dass Sartane und ACE-Hemmer nicht kombiniert werden sollen, und Betablocker heutzutage selten die erste Wahl sind (sie sind allerdings sinnvoll bei gewissen kardialen Komorbiditäten). Bei älteren Menschen wird man eher mit einer Monotherapie starten, um orthostatische Symptome zu vermeiden. Idealerweise wird die Wirkung der Medikation durch regelmässige Heimblutdruckmessungen dokumentiert und alle 4 bis 6 Wochen in der Praxis neu evaluiert, siehe partizipative Entscheidungsfindung betreffend BD-Ziel (3). Wenn keine relevanten Begleiterkrankungen vorliegen und ein zufriedenstellender BD erzielt wurde, werden jährliche Kontrollen geplant (ansonsten alle 3 Monate bei Begleiterkrankungen). Die deutsche Leitlinie definiert nicht genau, ab wann jemand «älter» ist und deshalb behutsamer im Kontext der BD-Therapie vorgegangen werden soll. Die europäische Leitlinie bezeichnet Personen ab 65 Jahre als «älter» und hebt hervor, dass ab 80 Jahre zusätzliche Vorsicht geboten ist, um orthostatische Synkopen oder «Schwindel» zu vermeiden. Selbständigkeit im Alltag und Gebrechlichkeit (frailty) sind Faktoren, die mehr zählen als das chronologische Alter per se (1). Das Vorgehen im Rahmen einer hypertensiven Entgleisung wird unten skizziert.
Blutdruckanstieg über 180 mmHg systolisch und/oder 110 mmHg diastolisch In diesem Zusammenhang existieren verschiedene Bezeichnungen, die verwirrend ähnlich klingen und als Synonyme, übergeordnete Begriffe oder separate Entitäten uneinheitlich verwendet werden. Damit sind die hypertensive Krise, Entgleisung, Gefahrensituation und der hypertensive Notfall gemeint nebst den englischsprachigen Begriffen «hypertensive urgency» und «emergency» sowie «acute severe hypertension». Es herrscht zumindest Konsens darüber, wann von einem hypertensiven Notfall (hypertensive emergency) auszugehen ist. Nebst BD-Werten über 180 mmHg systolisch und/oder 110 mmHg diastolisch wird über Symptome wie Atemnot, Thorax- oder Kopfschmerzen berichtet, oder es sind klinische Zeichen einer Organdysfunktion vorhanden wie beispielsweise ein Lungenödem, ein akutes Koronarsyndrom, eine Enzephalopathie, eine Eklampsie oder ein Schlaganfall.
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Abbildung 1: Posteriores reversibles Enzephalopathiesyndrom im MRT. Links T2-Sequenz mit vergrössertem Ausschnitt, der das posteriore Ödem mit ausgespartem Kortex darstellt. Rechts analoger Bereich in der FLAIRSequenz. (Bild: © D. Eschle)
Akuter Schlaganfall
intrazerebrale Blutung
zerebrale Ischämie
Symptomdauer < 6 Stunden
Symptomdauer ≥ 6 Stunden
i. v. Therapie oder mechanische Thrombektomie
Thrombektomie oder Thrombolyse
nicht möglich
BD < 140/90 mmHg mit i. v. Therapie
BD < 220 mmHg: langsam < 140/90 mmHg
BD ≥ 220 mmHg: langsam < 180 mmHg
BD < 180/105 mmHg mit i. v. Therapie
BD < 220/120 mmHg: so tolerierbar
BD ≥ 220/120 mmHg: vorsichtig senken
Abbildung 2: Akuter Schlaganfall und Blutdruck. Quelle: Zusammengestellt gemäss der europäischen Hypertonieleitlinie von 2023 (Abbildung mod. nach [1]).
Ohne zusätzliche Symptome oder Anzeichen einer akuten Organdysfunktion – nur der BD ist erhöht und die Betroffenen fühlen sich gesund und wirken auch so – ist in der deutschen und europäischen Hypertonie-Leitlinie von hypertensiver Entgleisung respektive einer «urgency» die Rede (1, 3, 10). Wird beispielsweise in der Sprechstunde eine hypertensive Entgleisung ohne akute Begleitsymptome entdeckt, sollte eine BD-Kontrolle nach 30 min erfolgen. Bei Persistenz erfolgt eine medikamentöse BD-Senkung mit einem oralen Präparat unter Vermeidung kurzwirksamer und sublingualer Wirkstoffe. Falls die Betroffenen nebst dem erhöhten BD auch Begleitsymptome zeigen oder berichten, haben wir es mit einem hypertensiven Notfall zu tun und eine umgehende Krankenhauseinweisung ist angezeigt (3). In einer Notfallsituation kommen typischerweise i. v. Präparate wie beispielsweise Labetol oder Urapidil zum Einsatz.
Posteriores reversibles Enzephalopathiesyndrom (PRES) Das PRES kann als Sonderfall der hypertensiven Enzephalopathie betrachtet werden (10). Der Begriff «Enzephalopathie» umfasst hier Kopfschmerzen, epileptische Anfälle, Sehstörungen und/oder quantitative wie qualitative Bewusstseinsalterationen. Das PRES kann einerseits im Kontext eines hypertensiven Notfalls entstehen, wobei mutmasslich nicht nur das Ausmass der Hypertonie entscheidend ist, sondern auch das Tempo des BD-Anstiegs eine Rolle spielen könnte. Andererseits gibt es auch weitere PRES-Ursachen wie beispielsweise infolge Eklampsie, Nierenversagen und durch systemische Autoimmunopathien sowie zytotoxische und immunsuppressive Medikamente (11). Durch eine Störung der Autoregulation und/oder durch endotheliale Dysfunktion zerebraler Gefässe entsteht ein vasogenes Ödem vornehmlich in
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posterioren Hirnregionen. Gemäss epidemiologischen Daten ist das PRES eine seltene Entität mit einer Inzidenz von 3/100 000/Jahr (12). Dieser Durchschnittswert täuscht allerdings, da die Inzidenz bei zunehmendem Alter, weiblichem Geschlecht und afro-amerikanischer Abstammung um einiges höher ist. In der MRT (Magnetresonanztomografie) zeigt sich ein charakteristisches Muster mit einem mehrheitlich in posterioren Hirnregionen lokalisierten subkortikalen Hirnödem (Abbildung 1). Der Name suggeriert, dass das Syndrom reversibel ist. Allerdings hängt die Prognose von verschiedenen Faktoren ab, und nicht in allen Fällen kann a priori ein guter Outcome erwartet werden. Die Prognose ist günstig(er), je schneller das PRES erkannt und behandelt wird, wobei die zugrundeliegende Erkrankung sowie sekundäre Komplikationen durch Anfälle, Infarzierungen oder Hirnblutungen eine relevante Rolle spielen (12).
Hoher BD in ausgewählten Situationen Aus Platzgründen muss betreffend BD-Management in der Schwangerschaft auf die einschlägigen Leitlinien verwiesen werden (1). Ebenfalls würde es den Rahmen sprengen, das Thema Blutdruck beim akuten Schlaganfall
Merkpunkte:
● Der Kontakt mit dem Gesundheitswesen sollte grosszügig für BD-Messungen genutzt werden.
● Erhöhter Blutdruck ist der führende Risikofaktor für unter anderem die koronare Herzkrankheit, alle Formen von Schlaganfällen und auch kognitive Defizite.
● Wünschenswert als primäres Ziel ist zunächst ein BD <140/90 mmHg für Erwachsene < 65 Jahre (mit oder ohne antihypertensive Behandlung).
● Es ist erwiesen, dass auch ältere Menschen von einer Hypertoniebehandlung profitieren, aber man soll vorsichtig(er) vorgehen, um das Risiko für orthostatische Symptome oder für eine Verschlechterung der Nierenfunktion zu vermeiden.
● Epidemiologische Studien zeigen keine statistisch signifikanten Hinweise, dass eine Hypertonie prädisponierend wirkt für Kopfschmerzen oder Migräne.
● Langzeitbeobachtungen zeigen hingegen, dass eine Migräneanamnese häufiger mit einer späteren Hypertonie einhergeht.
● Zur Migräneprävention (auch ohne Hypertonie) kommen unter anderem die Antihypertensiva Candesartan, Atenolol, Bisoprolol und Propranolol in Frage.
Lesetipps
● Weber T et al.: Die neuen Hypertonie-Guidelines 2023 der European Society of Hypertension: Was ist relevant? J Hyperton. 2023;27(2):20-28.
https://www.kup.at/kup/pdf/15443.pdf. Letzter Abruf: 12.4.24. ● Triplett JD et al.: Posterior reversible encephalopathy syndrome (PRES): diagno-
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hier detailliert abzuhandeln. Es sei deshalb ebenfalls auf Leitlinien verwiesen und die schematische Zusammenfassung in Abbildung 2 (1, 13, 14). Im Setting des Schlaganfalls werden in der Regel intravenöse Antihypertensiva wie beispielsweise Urapidil oder Labetol eingesetzt.
Blutdruck, Kopfschmerzen und Migräne
Immer wieder wird von Patienten die Meinung vertre-
ten, dass sie einen erhöhten BD in Form von Kopf-
schmerzen spüren müssten. Erhöhter BD ist allerdings
– bis auf wenige Ausnahmen – eine schmerzlose An-
gelegenheit und wird deshalb von der WHO als «silent
killer» bezeichnet (4). Kopfschmerzen in kausalem Zu-
sammenhang mit erhöhten BD-Werten sind in erster
Linie bei einem hypertensiven Notfall zu erwarten (siehe
oben). Ansonsten zeigen epidemiologische Studien
keine statistisch signifikanten Hinweise, dass eine Hy-
pertonie prädisponierend wirkt für Kopfschmerzen oder
Migräne (15). Dabei muss betont werden, dass bei die-
sen Erhebungen (noch) keine antihypertensive Behand-
lung im Spiel war.
Langzeitbeobachtungen an tausenden von Personen,
die initial keine Hypertonie aufwiesen, zeigten aber, dass
eine Migräneanamnese häufiger mit einer späteren
Hypertonie einhergeht (16–18). Das ist sicher ein Aspekt,
der in der hausärztlichen wie auch neurologischen
Sprechstunde beachtet werden muss.
Traditionell waren Betablocker diejenigen BD-Medika-
mente, die im Rahmen der Migräneprophylaxe zum Ein-
satz kamen. Es gibt aber gute Hinweise, dass andere
Substanzklassen ebenfalls wirksam sein können und
unter Umständen besser verträglich sind als Betablo-
cker. Gemäss der Übersicht von Carcel kommen fol-
gende BD-Präparate zur Migräneprävention in Frage
(19): Clonidin, Candesartan, Atenolol, Bisoprolol, Propra-
nolol, Timolol, Nicardipin und Verapamil. Die Wirkung
von Metoprolol sowie Lisinopril wurde als statistisch
nicht signifikant eingestuft, obwohl diese Präparate als
Option in den DGN-Migräneleitlinien erwähnt werden
(20).
Der Mechanismus, warum sich Antihypertensiva güns-
tig auf die Migränehäufigkeit auswirken, wird noch
nicht vollständig verstanden, insbesondere weil wir es
bei Migränebetroffenen ja mehrheitlich mit jungen
Frauen zu tun haben, die typischerweise einen norma-
len bis sogar optimalen BD aufweisen. Kritisch muss
allerdings erwähnt werden, dass die Prophylaxestudien
mit Antihypertensiva keine bis lediglich spärliche Infor-
mationen zum BD der Teilnehmenden liefern (19). Be-
ruhigend ist, dass Schwindel als möglicher Ausdruck
eines zu niedrigen BD auch häufig in den Plazebo- und
nicht nur Verumgruppen berichtet wurde (21, 22).
Somit spielt die Erwartungshaltung bezüglich Neben-
wirkungen öfters eine Rolle als der BD senkende Effekt
per se.
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Korrespondenzadresse Dr. med. Daniel Eschle Facharzt für Neurologie
Kantonsspital Uri 6460 Altdorf
daniel.eschle@ksuri.ch
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Interessenkonflikte: Es bestehen im Zusammenhang mit diesem Manuskript keine Interessenkonflikte.
Danksagung: Ein grosses Dankeschön geht an Herrn Prof. Dr. med. Andreas Gantenbein, Facharzt für Neurologie, sowie Dr. med. David Bruhin, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und Nephrologie, für ihr wertvolles Feedback zum Manuskript.
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