Transkript
FORTBILDUNG
Inzidenz, Prävalenz und Risikofaktoren
Das Delir beim neurologischen Patienten: Übersicht zu Diagnosestellung und Management
Das Delir ist ein sehr häufiges akutes neuropsychiatrisches Syndrom, auch im Kontext neurologischer Erkrankungen. An der Pathogenese des Delirs sind verschiedene Mechanismen beteiligt, unter anderem Neurotransmitterveränderungen und Neuroinflammation. Risikofaktoren des Delirs können in Prädispositions- und Präzipitationsfaktoren eingeteilt werden. Akute neurologische Erkrankungen, beispielsweise Schlaganfälle, können auch bei Patienten mit geringer Prädisposition zum Delir führen. Die Diagnosestellung des Delirs bei neurologischen Patienten ist herausfordernd und erfordert eine sorgfältige Differenzialdiagnostik.
Foto: zVg
Carl M. Zipser
von Carl M. Zipser
Einleitung Das Delir ist das häufigste akute neuropsychiatrische Syndrom bei hospitalisierten Patienten, hat erhebliche negative Kurz- und Langzeitfolgen und ist mit sehr hohen Kosten verbunden (1-6). Mindestens jeder vierte Patient auf der neurologischen Bettenstation (7, 8), Stroke-Unit (5, 9–12), und Neurochirurgie (13–15) hat ein Delir. Dies ist im Vergleich zu anderen Fachbereichen verhältnismässig hoch (8, 15), ausgenommen die Intensivstationen. Dort sind Prävalenzen über 60-70% nicht ungewöhnlich (16). Das Delir in der Neurologie ist klinisch hochrelevant, und durch besondere Merkmale im Kontext neurologischer Erkrankungen charakterisiert. Das Delir wird klinisch nach DSM-5 definiert (Kasten 1) und kann einen oder mehrere Auslöser und Prädispositionsfaktoren aufweisen. Viele neurologische Erkrankungen können mit einer akuten Bewusstseinsstörung, Desorientierung und Gedächtnisstörung einhergehen. Diese Symptome gehören zu den häufigsten neurologischen Leitsymptomen in Notaufnahmen (mindestens 14% aller Vorstellungen) (17). In der klinischen Neurologie wird von einigen Autoren die Abgrenzung des Delirs zu Enzephalopathien und Enzephalitiden hervorgehoben, was eine klinische Herausforderung darstellen kann (18). Für die Unterscheidung wird vor allem das Zeitkriterium und die klinisch-neurologische Untersuchung als hilfreich beschrieben. Das Delir tritt akut innerhalb von Stunden oder wenigen Tagen auf, wohingegen die Enzephalopathien und Enzephalitiden einen subakuten Beginn von Wochen oder Monaten zeigten. Eine internationale Expertenkommission mit Vertretern neurologischer, intensivmedizinischer und geriatrischer Fachgesellschaften hat sich gegen eine Unterscheidung der Begriffe Delir und Enzephalopathie ausgesprochen (19). Die Autoren verstehen hier den Begriff der Enzephalopathie zur Beschreibung der pathologischen Prozesse im Gehirn und deren klinischer Präsentation, von denen das Delir eine Form ist. Das
Delir wird nach klinischen Kriterien entsprechend DSM-5 definiert. Zur Vertiefung der terminologischen Diskussion sei auf die zitierten Quellen verwiesen. Um die korrekte klinische Diagnose und Kommunikation nicht weiter zu erschweren, wird von der Benutzung früher geläufiger Synonyme für das Delir abgeraten, z. B. «akute organische Psychose» oder «Durchgangssyndrom» (20). In der Literatur gibt es Pilotstudien, die darauf hindeuten, dass unterschiedliche Meinungen, Perspektiven und Erfahrungen mit Delir und Enzephalopathie möglicherweise auch zu unterschiedlichen Herangehensweisen von Konsiliarpsychiatrie und Neurologie führen (21). So empfahlen hinzugezogene Psychiater bei Patienten mit Verdacht auf Delir häufiger eine symptomorientierte Therapie (41 vs. 12%) als Neurologen und diese eher weitere Diagnostik als Psychiater (36 vs. 15%). In der klinischen Praxis sollte in der Akutsituation immer die Ursachenabklärung im Fokus stehen, direkt gefolgt von einer Therapie der Ursache und symptomorientierten (vor allem nicht-medikamentösen) Massnahmen (22). Differenzialdiagnostisch sollten immer primär-hirnorganische und systemische Auslöser in Betracht gezogen werden.
Pathophysiologie des Delirs Klassische Hypothesen für die Entstehung des Delirs sind die der metabolischen Insuffizienzhypothese, die besagt, dass der Energiebedarf des Gehirns nicht gedeckt ist (23), oder die Neurotransmitterhypothese, die ein cholinerges Defizit und exzessive Dopamin-, Norepinephrin-, und Glutamatsekretion beschreibt (24). Neuere Erklärungsmodelle betrachten diese Hypothesen nur als einen Teil mehrerer interagierender Mechanismen (2). Gesamthaft wird von einer sogenannten Systemintegrationsstörung ausgegangen (25, 26). Eine Übersicht über die beteiligten Mechanismen ist in Kasten 2 dargestellt. Eine weitere interessante pathophysiologische Einteilung der Delirätiologie unter neurologischen Gesichtspunkten ist jene nach «direkter Hirnschädigung» und «pathologischer Stressantwort» (27).
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Kasten 1:
Definition Delir nach DSM-5
● Störung von Aufmerksamkeit und Bewusstsein für die Umgebung (z. B. Orientierung)
● Auftreten innerhalb kurzer Zeit und fluktuierend im Verlauf ● Beeinträchtigung kognitiver Funktionen (z. B. Gedächtnis) (≥ 1). ● Störungsbilder aus Kriterien A–C nicht besser durch neurokognitive Grunder-
krankung (z. B. Demenz) oder Koma erklärt. ● Hinweise, dass das Störungsbild die körperliche Folge eines oder mehrerer
medizinischer Faktoren ist.
Quelle: mod. nach deutscher Ausgabe DSM-5® herausgegeben von P. Falkai und H.-U. Wittchen, 2018
Kasten 2:
Pathomechanismen des Delirs
● neuronale Dysfunktion ● Neurotransmitter-Störung ● Neuroinflammation ● metabolische Insuffizienz ● oxidativer Stress ● neuroendokrine Dysfunktion ● Desorganisation neuronaler Netzwerke («Systemintegrationsstörung»)
Quelle: (mod.nach [2, 25])
Als direkte Hirnschädigung wird hier eine regionale Nährstoffunterversorgung (z. B. Hypoxie, Hypoglykämie, Hypoperfusion), metabolische Störung (z. B. Elektrolytstörung), oder Medikamentennebenwirkung verstanden. Unter pathologischer Stressantwort wird eine Fehlfunktion neuroendokriner Netzwerke und beteiligter Hormone verstanden, die in Stressreaktionen involviert sind (z. B. sympathisches Nervensystem und Hypothalamus-Hypophysen- Achse). Die beteiligten Mediatoren sind beispielsweise Hormone wie Corticotropin Releasing Hormone (CRH) und Adrenocorticotropin (ACTH) für die limbisch-hypothalamische Achse, Zytokine wie zum Beispiel Tumornekrosefaktor-alpha (TNF-alpha) für das Immunsystem und Neurotransmitter wie Acetylcholin für das sympathische Nervensystem. Dieses Modell soll eine bessere Unterscheidung der Anteile zum Delirsyndrom von explizit hirnschädigenden Faktoren und der Reaktion der beteiligten Stresssysteme, die unter physiologischen Bedingungen adaptiv sind. Es wird davon ausgegangen, dass in Anwesenheit eines direkt hirnschädigenden Substrats die neuroendokrinen Netzwerke die Netzwerkstörung aufrechterhalten und sogar noch verschlechtern können. Aktuell gibt es noch wenig Literatur zur Pathophysiologie der motorischen Subtypen des Delirs (28). Die Kenntnis der unterschiedlichen hypo-/hyper-/ und subsyndromalen motorischen Subtypen ist wichtig, da Risikoprofile variieren und sich die Differenzialdiagnosen und das Management unterscheiden (29–32). Insbesondere das hypoaktive und subsyndromale Delir wird häufig übersehen. Ein besseres Verständnis der Pathophysiologie des Delirs ist auch für die Weiterentwicklung der Diagnosestellung und Behandlung hochrelevant. Die Vereinheitlichung
des Delirs nach DSM-5-Kriterien, also die Klassifizierung des Phänotyps, ist aus klinischer Sicht sehr sinnvoll, um die Diagnostik und das Management zu vereinheitlichen und um Forschung grösserer Kohorten mit vergleichbaren Charakteristika zu ermöglichen. Dabei werden jedoch Unterschiede in der Pathophysiologie je nach Auslöser und Prädisposition vernachlässigt, also der Endotyp (33–35). Die obigen Ausführungen zur Pathophysiologie lassen erahnen, wie komplex die Interaktionen verschiedener Systeme sind, und wie sich die Physiologie von je nach Auslöser unterscheiden kann. Die innovative neurophysiologische und laborchemische Biomarkerforschung verspricht eine Möglichkeit zur besseren Endotypisierung von Delirsyndromen (1).
Risikofaktoren des Delirs Die Risikofaktoren des Delirs werden häufig eingeteilt nach: l auslösenden (Präzipitations-) und begünstigenden
(Prädispositions-) Faktoren l modifizierbaren und nicht-modifizierbaren Faktoren
sowie l pharmakologischen und nicht-pharmakologischen
Faktoren In der Literatur werden über 30 Prädispositionsfaktoren und über 100 mögliche Auslöser eines Delirs beschrieben (36). Ein gut etabliertes Prädiktionsmodell beschreibt, dass bei hoher Prädisposition bereits ein schwacher Auslöser erforderlich ist, wohingegen bei niedriger Prädisposition ein starker Auslöser erforderlich ist, um ein Delir auszulösen. Akute neurologische Erkrankungen stellen einen schweren Auslöser dar, sodass auch gering prädisponierte Patienten in Anwesenheit dieses Auslösers ein Delir entwickeln können. Hierfür fand sich unterstützende Evidenz in einer spitalweiten prospektiven Kohortenstudie am Universitätsspital Zürich (37). Während auf der Stroke-Unit vor allem die Schwere des Schlaganfalls das Delirrisiko erhöhte (5), war auf der kardiologischen Bettenstation vor allem eine hohe Prädisposition durch Demenz und Schlaganfall in der Vorgeschichte ausschlaggebend (38) (Abbildung 1). Des Weiteren konnten wir nachweisen, dass bei Erwachsenen unter 65 Jahren die Delirraten jenen älterer Patienten ähneln, sofern ein ausreichend schwerer Auslöser vorhanden ist (39). Zur Einschätzung des Delirrisikos eines Patienten ist es sinnvoll, verschiedene medizinische und demografische Faktoren zu berücksichtigen und hieraus individuelle Risikoprofile abzuleiten (Abbildung 2). Ferner ist bei neurologischen Erkrankungen hervorzuheben, dass sie sowohl bei Erstauftreten ein Delir verursachen können, also präzipitierender Faktor sind, als auch nach durchgemachter Erkrankung einen prädisponierenden Faktor darstellen. So kann ein Schlaganfall oder eine Hirnblutung in der Akutsituation ein Delir auslösen, und infolge eines bleibenden strukturellen Hirndefekts in Anwesenheit neuer, auch nicht neurologischer Faktoren, Prädispositionsfaktor für ein Delir sein. Im Vergleich dazu sind der Grossteil der übrigen Delirrisikofaktoren entweder Auslöser oder Prädispositionsfaktor. Dies lässt sich am Beispiel des postoperativen Delirs verdeutlichen, das einen sehr häufigen Delirauslöser darstellt. Hier sei aber noch betont, dass generell nach erstmaligem Auftreten eines Delirs, unabhängig von der Ursache, immer ein erhöh-
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FORTBILDUNG
Abbildung 1:
Delirrisikofaktoren in drei unterschiedlichen Abteilungen – Stroke-Unit, Kardiologie und Neurologische Bettenstation – erhoben im Rahmen einer spitalweiten prospektiven Kohortenstudie am Universitätsspital Zürich (37).
Stroke-Unit
OR (CI)
mittelschwerer bis schwerer 36 (8–160)
Schlaganfall (NIHSS)
Demenz
16 (3–91)
Immobilität
9 (4–22)
Kardiologie OR (CI)
Demenz
18 (6–57)
Schlaganfall- 7 (1–32) anamnese Druckulzera 4 (1–12)
Neurologie Meningitis
OR(CI) 21 (1–380)
akutes
10 (1–89)
Nierenversagen
Substanzabusus 4 (2–8)
Abkürzungen: OR: Odds Ratio; CI: Konfidenzintervall; NIHSS: National Institutes of Health Stroke Scale.
tes Wiederholungsrisiko angenommen wird. Auch beim postoperativen Delir lässt sich nicht ausschliessen, dass es anhaltende, wenigstens funktionelle und mikrostrukturelle Veränderungen gibt, die für ein Delir prädisponieren. Hierauf deuten auch Studien hin, die einen Zusammenhang zwischen Delir und Demenz beschreiben (40). Der Schweregrad von strukturellen Hirndefekten bei primär-hirnorganischen Erkrankungen im Vergleich zu systemischen Auslösern erlaubt dennoch die potenzielle Doppelrolle als Prädispositions- und Präzipitationsfaktor hervorzuheben. Auch bei Einteilung nach pharmakologischen und nicht pharmakologischen Risikofaktoren besteht bei neurologischen Erkrankungen eine besondere Situation. Es kann nicht genug betont werden, dass Arzneimittel häufig Auslöser oder zumindest begünstigender Faktor eines Delirs sind, wie beispielsweise Benzodiazepine oder Opiate und insbesondere bei Polypharmazie (41– 43). Für neurologische Patienten im Besonderen ist die delirogene Wirkung von Medikamenten, die bei diesen Patienten spezifisch zum Einsatz kommen, hervorzuheben. Dies sind beispielsweise Levetiracetam in der Anfallsprophylaxe oder Anticholinergika in der Behandlung einer neurogenen Blasenstörung bei Multiple Sklerose.
Neurologische Differenzialdiagnostik Die klinische Einordnung akuter «Verwirrtheitszustände» und Bewusstseinsstörungen bei neurologischen Patienten kann herausfordernd sein. In diesem Kontext sei nochmal daran erinnert, dass ein Delir ein neuropsychiatrisches Syndrom ist, definiert nach DSM-5, und keine Krankheitsentität im eigentlichen Sinn. Diese Schwierigkeit wird teilweise berücksichtigt, indem bei Unterpunkt D) der DSM-5-Kriterien explizit gefordert wird, dass die «Störungsbilder aus Kriterien A–C nicht besser durch eine neurokognitive Grunderkrankung (z. B. Demenz) oder Koma erklärt [sind]». Dennoch bieten diese Kriterien nur eine geringe Trennschärfe zwischen primär hirnorganischen Erkrankungen und systemischen Auslösern. Ferner ist beim Delir in der Neurologie zu beachten, dass Diagnosestellung und Verlaufskontrollen mittels gängiger Delir-Assessment- nstrumente durch Aphasie und Bewusstseinsstörungen erschwert sind (44, 45). Die so schon beträchtliche Variabilität unterschiedlicher hochwertiger und gut etablierter Testmethoden (46, 47), beispielsweise Confusion Assessment Method (CAM), 4 «A» Test (4AT) und Delirium Observation Screening Scale (DOS), wird hierdurch wahrscheinlich noch
Delir?
Alter ≥ 65
33,6%
epileptische Anfälle
Nein
28,5%
Patient kommt aus Pflegeheim
Ja
58,3%
Nein
25,0%
Ja
46,4%
Ja
18,0%
Alter < 65 12,3% epileptische Anfälle Nein 9,4% Schlaganfall Ja 22,4% Nein 5,1% Abbildung 2: Prädiktionsmodell für das Auftreten des Delirs in einer Neurologischen Bettenstation (mod. nach [7]). Kasten 3: Befunde, die auf eine primär hirnorganische Delirursache hindeuten ● fokal-neurologische Defizite ● Sprach-/Sprechstörung ● Meningismus ● Semiologie und klinische Zeichen epileptischer Anfälle ● Kopfschmerz Quelle: (mod. nach [54]) erhöht. Daher bleibt der Goldstandard zur Diagnose des Delirs die ärztliche Untersuchung mit Prüfung der Diagnosekriterien nach DSM-5 (48). Wegweisend ist auch die klinisch-neurologische Untersuchung. Ein Überblick über Befunde, die auf eine primär hirnorganische Ursache hindeuten, ist in Kasten 3 dargestellt. Es sei darauf hingewiesen, dass diese klinischen Befunde für eine primär-hirnorganische Pathologie nicht beweisend sind, sondern zum Teil auch bei systemischen Delirursachen auftreten können. Beim hypoaktiven Delir sind epileptische Anfälle eine wichtige Differenzialdiagnose, insbesondere der non konvulsive Status epilepticus und die postiktale Phase. Erschwerend kommt hinzu, dass die Prävalenz der Epilepsien mit steigendem Alter zunimmt (49), und dass einige primär hirnorganische Epilepsieauslöser auch im chronischen Stadium das relative 3/2024 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 15 FORTBILDUNG Kasten 4: Häufige primär hirnorganische Differenzialdiagnosen, die sich klinisch mit Delir präsentieren können ● postiktale Phase (bei Semiologie und klinischen Hinweisen auf epileptischen Anfall) ● Schlaganfall (Delir-Risiko steigt mit höherem NIHSS-Score) ● Hirntumore und Hirnmetastasen (als Erstmanifestationssymptom möglich) ● demenzielle Syndrome (Überlappung Demenz-Delir häufig) ● Schädel-Hirn-Trauma (Ausschluss intrakranieller Blutung wichtig) Quelle: (mod. nach [54]) Risiko für ein Delir erhöhen wie beispielsweise Schlaganfall (50) und Schädel-Hirn-Trauma (51). Besondere Beachtung erfordert auch die Differenzierung zwischen einer chronischen Beeinträchtigung kognitiver Funktionen, zum Beispiel bei Demenz, und einem akuten Delir. Hierzu sei auf DSM-5-Kriterium B) verwiesen, bei dem ein «Auftreten innerhalb kurzer Zeit…» gefordert wird (48). Die Zusammenhänge zwischen Delir und Demenz werden intensiv erforscht und das Delir teils als modifizierbarer Risikofaktor einer Demenz aufgefasst (40). Eine manifeste Demenz ist einer der wichtigsten Risikofaktoren für das Eintreten eines Delirs, auch wenn nur ein schwacher Auslöser vorliegt. Zum Beispiel konnten wir im Rahmen unserer spitalweiten Studie bei Patienten der kardiologischen Abteilung ein mindestens 6-fach erhöhtes Risiko für das Auftreten eines Delirs bei Demenzpatienten nachweisen (52). Für genaueres zum wichtigen Thema Demenz-Delir sei auf den separaten Artikel in diesem Heft verwiesen. An dieser Stelle sei betont, dass hohes Alter für sich genommen zwar einen Risikofaktor für ein Delir darstellt, aber die Kombination im Rahmen eines «geriatrischen Syndroms» noch bedeutsamer ist (53). Dies umfasst neben höherem Alter unter anderem auch Harninkontinenz und reduzierte Mobilität. Häufige primär hirnorganische Differenzialdiagnosen, die sich klinisch mit Delir präsentieren können, sind in Kasten 4 zusammengefasst (modifiziert nach [54]). Zur genauen Ursachenabklärung sollte bei Bedarf entsprechende neurologische Zusatzdiagnostik erfolgen, meistens mithilfe von Kopf-MRI (Magnetresonanztomografie) oder CT (Computertomografie), Elektroenzephalografie (EEG) oder Lumbalpunktion (LP). Es ist ferner zu beachten, dass viele Patienten mit akuter «Verwirrtheit» und Bewusstseinsstörungen im Notfall nicht selten in der Neurologie vorgestellt werden, auch wenn keine neuro- Merkpunkte: ● Das Delir ist das häufigste akute neuropsychiatrische Syndrom bei hospitalisierten Patienten. ● Bei Delir immer an neurologische Erkrankungen als Auslöser denken. ● Häufig kann das Delir bei Schlaganfall, Epilepsie, Hirntumor und Demenz auf- treten. ● Bei Verdacht auf Delir: 1. Ursachensuche- und Therapie, 2. symptomorientierte Behandlung. logische Grunderkrankung vorliegt. Neurologen haben dann die Aufgabe, beispielsweise eine Sepsis, Niereninsuffizienz, einen Alkohol- bzw. anderen Substanzentzug oder Blutzuckerentgleisungen schnell zu identifizieren, um die Patienten gegebenenfalls den verantwortlichen Fachbereichen vorzustellen. Delirmanagement bei neurologischen Patienten Prinzipiell gelten für neurologische Patienten die gleichen Empfehlungen wie bei anderen Patienten mit Delir: Prävention (insbesondere bei Risikopatienten), Ursachensuche- und Therapie, konservatives Multikomponentenmanagement und (mit Vorsicht) symptom-orientierte pharmakologische Behandlung. Die grösste Evidenz für spezifische neurologische Erkrankungen mit Delir gibt es für das Delir nach Schlaganfall (Post-Stroke-Delir). In einer prospektiven Multizenter Studie auf Stroke-Units wurde gezeigt, dass eine standardisierte Erfassung und interprofessionelle Behandlung, inklusive nicht-pharmakologischer Interventionen (Re-Orientierung, Mobilisation, etc.) prinzipiell machbar ist (55). Diese Multikomponentenintervention zeigte nur eine geringe Reduktion des Delirschweregrads und keine Verkürzung der Delir- oder Aufenthaltsdauer. Das bedeutet, so die Autoren, dass das Post-Stroke-Delir im Vergleich zu anderen Delirursachen schwieriger behandelbar ist. Die grosse Relevanz des Post-Stroke-Delirs zeigt sich auch anhand der deutlich schlechteren Langzeitergebnisse hinsichtlich neurologischer Erholung und Alltagsfunktionen (5). Ein wichtiger Schritt wäre die nicht medikamentöse und pharmakologische Prävention bei Schlaganfallpatienten mit Risikoprofil noch vor Eintreten eines Delirs. Spezifische Evidenz zur Wirksamkeit nicht medikamentöser präventiver Massnahmen bei Schlaganfall steht noch aus (für eine Übersicht siehe z. B. [56]). Beispielhaft zur pharmakologischen Prävention wurde in einer neueren prospektiven Propensity-Score-Matching-(PSM-)Studie gezeigt, dass eine Gabe von Melatonin innerhalb von 24 Stunden nach Schlaganfall das Auftreten eines Delirs reduzieren könnte (57). Randomisiert kontrollierte Studien hierzu stehen noch aus. Schlussfolgerung Das Delir beim Patienten mit neurologischer Erkrankung ist häufig und eine diagnostische und therapeutische Herausforderung. Eine sorgfältige klinische Differenzial- diagnostik und, falls erforderlich, apparative Zusatz- diagnostik sind essenziell für die Ursachenabklärung des Delirs. Eine bessere Charakterisierung des Delir- endotyps, beispielsweise mittels Blut- und Neurophysio- logie-Biomarker, kann in Zukunft helfen, ein individua- lisiertes Management bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen zu etablieren. l Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Carl Moritz Zipser, FEBN, M.A. Universitätsklinik Balgrist Forchstrasse 340 8008 Zürich E-Mail: carlmoritz.zipser@balgrist.ch 16 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 3/2024 FORTBILDUNG Referenzen: 1. Zipser CM et al.: [Delirium Update: Risk Factors, Management, and Biomarkers]. Praxis (Bern 1994). 2023;112(12):599-604. 2. Wilson JE et al.: Delirium. Nat Rev Dis Primers. 2020;6(1):90. 3. 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