Transkript
FORTBILDUNG
Verwendung der ICD-11 in der Psychiatrie
Empfehlungen der Fachgesellschaften Erwachsenenpsychiatrie und der Swiss Insurance Medicine
Die ICD-11, Nachfolge von ICD-10, wurde von der WHO im Januar 2022 eingeführt und liegt auch in einer deutschen Übersetzung vor. Geplant ist, dass sie in den nächsten 5 Jahren nach Publikation die aktuell gültige ICD-10 ablösen wird. ICD-11 enthält bedeutsame, für die klinische wie für die gutachterlich psychiatrische Diagnosestellung wichtige Änderungen. Die Diagnostik und Schweregradeinteilung richtet sich vermehrt auf funktionelle Einschränkungen aus und bezieht dimensionale Aspekte stärker mit ein, was seitens psychiatrischer Fachverbände und der Swiss Insurance Medicine begrüsst wird.
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Gerhard Ebner
von Gerhard Ebner
I n der ICD-11 werden die psychischen Störungen völlig neu kodiert. Zudem ergeben sich in ICD-11 inhaltlich Revisionen und neue Kategorien und von Störungen (1). Zwischenzeitlich habe man aber feststellen müssen, dass jetzt schon die psychiatrische Diagnosestellung und Kodierung nach ICD-11 stattfindet, wozu die Fachgesellschaften der Erwachsenenpsychiatrie und die Swiss Insurance Medicine eine Empfehlung in der Ärztezeitung abgeben haben (1): «Da noch keine offizielle deutschsprachige Übersetzung vorliegt und auch die klinischen Beschreibungen sowie die diagnostischen Anforderungen ausstehen, sollten sich Psychiaterinnen und Psychiater – ausser in begründeten Ausnahmefällen – nach wie vor am bisherigen Klassifikationssystem ICD-10 orientieren. (…)», da der vorliegende deutsche Entwurf nicht in einer offiziell bearbeiteten Version vorliege. Darauf wird auf der offiziellen Homepage der deutschen Version des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (2) auch hingewiesen. Die Autoren des Artikels verweisen ferner darauf, dass die Bearbeitung der klinischen Beschreibungen und diagnostischen Anforderungen, welche die eigentlichen diagnostischen Kriterien darstellen, erst in der Folge publiziert werden. «Der auf der Homepage des deutschen Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgeführte Entwurf bezieht sich lediglich auf die MMS (Mortalitäts- und Morbiditätsstatistik) und die Beschreibungen (…) des Kapitels 6». Sie verweisen darauf, dass der Entwurf der deutschen Übersetzung noch nicht in einer offiziell bearbeiteten Version vor liegt.
Diese Empfehlung ist auch deshalb von Bedeutung, weil sich bei der Kodierung nach ICD-11 beispielsweise die Schwelle zur Diagnosestellung verändern kann: «Einige Diagnosen erhalten neu Schweregradeinteilungen und/oder eine Beschreibung des psychosozialen Funktionsniveaus; in einigen Fällen werden neue Diagnosen (z. B. die komplexe posttraumatische Belastungsstörung, die körperdysmorphe Störung, das pathologische Horten, die Binge-Eating-Störung, die anhaltende Trauerstörung) eingeführt oder Störungen anderen Bereichen zugeordnet (…). Besonders auffällig sind die Veränderungen bei den Persönlichkeitsstörungen in Bezug auf ICD-10 und DSM-5 (u. a. Aufgabe der Subtypen, Einführung einer Schweregraduierung).» Aus diesen Gründen wird im Artikel in der Schweizerischen Ärztezeitung (1) von einer Übernahme von ICD-11 zum aktuellen Zeitpunkt mit Ausnahme der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung abgeraten, «bevor nicht ein Manual mit den ‹Klinischen Beschreibungen und diagnostischen Anforderungen› publiziert ist.» Zudem stelle ICD-10 die Basis für die Tarifstruktur der stationären psychiatrischen Leistungserbringung dar, sodass im Rahmen einer flächendeckenden Einführung von ICD-11 auch entsprechende Anpassungen in dieser Tarifstruktur vorgenommen werden müssten. Als einzige Ausnahme wird von den Autoren des Artikels die Diagnosestellung Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-11 empfohlen, da eine solche Diagnose in ICD-10 und DSM-5 nicht vorgesehen ist, hierfür aber klinisch wie forschungsmässig genügend Evidenz bestehe, sodass diese Empfehlung auch in den deutschen Leitlinien zur psychiatrischen und psychosomatischen Begutachtung erfolgt sei (3). Die dafür bis anhin nach ICD-10 oft verwendete Diagnose
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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FORTBILDUNG
Merkpunkte:
● Es liegt noch keine offizielle deutschsprachige Übersetzung für ICD-11 vor. ● Die klinischen Beschreibungen und diagnostischen Anforderungen – die
eigentlichen diagnostischen Kriterien – werden erst in der Folge publiziert werden. ● Aus diesen Gründen sollte nur in begründeten Ausnahmefällen nach ICD-11 kodiert werden. ● Bei der Kodierung nach ICD-11 kann sich beispielsweise die Schwelle zur Diagnosestellung verändern, was besonders bei den Veränderungen bei den Persönlichkeitsstörungen auffällig ist. ● Einzige Ausnahme stellt die Diagnosestellung komplexe Posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-11 dar, da eine solche Diagnose in ICD-10 und DSM-5 nicht vorgesehen ist, hierfür aber klinisch und forschungsmässig genügend Evidenz besteht. ● Die Umstellung auf ICD-11 wird auch Anpassungen der Tarifstrukturen TARPSY und SwissDRG erfordern. ● Bei einer unkritischen oder zu frühen Anwendung von ICD-11 besteht die Gefahr von nomenklatorischen Missverständnissen, in der Folge von mangelnder Vergleichbarkeit, damit von Rechtsunsicherheit.
Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastungen als
Ersatz hierfür werde unkritisch verwendet und sei auch
nicht operationalisiert.
Bei allen anderen psychischen Störungen raten die Au-
torinnen und Autoren dieser Stellungnahme vorerst
davon ab, «die ICD-11 zur Diagnostik und Kodierung zu
verwenden; sie befürchten, dass es bei einer unkriti-
schen, zu frühen Anwendung von ICD-11 in Diagnostik,
Behandlung und Begutachtung zu einer Sprachverwir-
rung, d. h. zu nomenklatorischen Missverständnissen
kommt und dass in der Folge aufgrund mangelnder
Vergleichbarkeit eine Rechtsunsicherheit droht. Eine
längerfristige Umstellung auf ICD-11 wird auch eine
entsprechende Anpassung der Tarifstruktur TARPSY er-
fordern. Auch SwissDRG, das Vergütungssystem für die
stationäre Akutsomatik, wird entsprechend umgestellt
werden müssen, was einen hohen administrativen Auf-
wand verursachen dürfte.»
l
Korrespondenzadresse Dr. med. Gerhard Ebner M.H.A (Univ. Bern) Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Seefeldstrasse 25 8008 Zürich
Diese Publikation basiert auf einer Publikation der Schweizerischen Ärztezeitung SAeZ 2023;104(10):34–35: Ebner, G. et al.: Empfehlungen der Fachgesellschaften Erwachsenenpsychiatrie und der Swiss Insurance Medicine zur Verwendung von ICD-11 in der Psychiatrie.
Referenzen: 1. Ebner G et al.: ICD-11 – Empfehlung zur Verwendung in der
Psychiatrie. Schweiz Ärzteztg. 2023;104(10):34-35. https://doi. org/10.4414/saez.2023.21604. 2. https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD11/uebersetzung, letzter Zugriff 28.02.2024. 3. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-029.html. Letzter Zugriff: 28.2.24.
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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