Transkript
FORTBILDUNG
Neurowissenschaft der Gliome
Alte Medikamente für neue Erkenntnisse
Die Entdeckung, dass elektrische Signale zwischen Gliomzellen und Synapsen von Neuronen auf Gliomzellen das Tumorwachstum antreiben, hat in den vergangenen Jahren die «Neurowissenschaft der Krebserkrankungen» begründet. Erste randomisierte klinische Studien versuchen, die gewonnenen Erkenntnisse für Patienten zu nutzen – auch in der Schweiz. Dabei kommen vorrangig bereits für andere neurologische Indikationen zugelassene Medikamente zum Einsatz. Die rasante Entwicklung dieses Felds weckt für die kommenden Jahre die Erwartung einer Vielzahl neuartiger Behandlungskonzepte für Hirntumorpatienten.
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Hans-Georg Wirsching
von Hans-Georg Wirsching
Gliome sind elektrisch aktive Gewebe Die Neurowissenschaft von Krebserkrankungen oder «cancer neuroscience» wurde in weniger als einer Dekade zu einer bedeutenden Disziplin der Krebsforschung weit über die Neuroonkologie hinaus. Bereits in den 1930er-Jahren hatte der Neuropathologe HansJoachim Scherer eine enge räumliche Beziehung von Neuronen und Gliomzellen beschrieben und die Frage einer funktionellen Bedeutung seiner Beobachtungen aufgeworfen (1). Jedoch folgte erst rund 80 Jahre später die Initialzündung für einen umfassenden Einzug der Neurowissenschaften in die Krebsforschung. Im Jahr 2015 konnte erstmals gezeigt werden, dass Gliome elektrisch aktive Gewebe sind, deren Zellen über porenartige Kanäle, sogenannte «gap junctions», untereinander verbunden sind (2). Durch «gap junctions» werden neben kleineren Molekülen auch Kalziumsignale weitergeleitet, teils über weite Distanzen entlang «nanotubes» genannter Membranausziehungen. Die präklinischen Versuche, die erstmals diese verbundene elektrische Aktivität von Gliomen demonstrierten, konnten in Tiermodellen zudem zeigen, dass eine Blockade von «gap junctions» das Tumorwachstum hemmte und gegenüber Strahlentherapie sensibilisierte (2). Zudem wurden Verbindungen von Tumorzellnetzwerken mit Astrozyten beschrieben, die ebenfalls über «gap junctions» verbunden sind und Kalziumsignale weiterleiten (3, 4). Einzelne Schrittmacher-Gliomzellen zeigen darüber hinaus autonome Kalziumoszillationen, die durch den Ionenkanal KCa3.1 getrieben sind (4). Die genetische Hemmung von KCa3.1 führte in präklinischen Zell- und Tiermodellen zu einer vollständigen Blockade
der Kalziumsignale innerhalb der Gliomastrozytennetzwerke und hemmte das Tumorwachstum.
Neuronale Synapsen auf Gliomzellen Die Neurowissenschaft von Krebserkrankungen erfuhr schliesslich 2018 weiteren Auftrieb, als in einer Ausgabe des Fachjournals «Nature» zeitgleich mehrere Arbeiten publiziert wurden, die elektrochemisch aktive, neuronale Synapsen auf Hirntumorzellen zeigten (5–7). Diese Synapsen sind exzitatorisch und aktivieren durch präsynaptische Freisetzung von Glutamat postsynaptische ionotrope Rezeptoren vom AMPA-Typ. Eine besondere, post-transkriptionell modifizierte Untereinheit des AMPA-Rezeptors führt dazu, dass diese auch für Kalzium durchlässig sind. Diese Kalziumsignale wiederum führen zu einer Aktivierung wachstums- und invasionsfördernder Signalkaskaden. Neurogliale Synapsen finden sich vorrangig auf Gliomzellen, die in der Infiltrationszone der Tumoren liegen und nicht über «gap junctions» miteinander verbunden sind (3). Die Axone der beteiligten Neuronen projizieren oft über weite Entfernungen und trieben in Mausmodellen z. B. die Migration von Tumorzellen über den Balken hinweg in die kontralaterale Hirnhemisphäre (8). Jene Gliomzellen, die durch «nanotubes» und «gap junctions» untereinander verbunden sind, finden sich demgegenüber eher im Kern der Tumoren, wo nur wenige Axone und synaptische Verbindungen vorkommen. Die mögliche klinische Bedeutung dieser synaptischen Verbindungen wird dadurch unterstrichen, dass die Tumorprogression nach einer radiografischen Komplettresektion nurmehr durch solche Gliomzellen, die bereits das gesunde Gehirngewebe infiltriert haben, angetrieben werden kann.
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Tabelle:
Randomisierte Studien mit neurowissenschaftliche Konzepten bei Glioblastompatienten
Akronym, Phase
Zeitpunkt
MecMeth (NOA-24)
1. Rezidiv
Phase I/II
PerSurge (NOA-30)
jedes Rezidiv,
Phase IIa
geplant für Resektion
GBM-AGILE
Neudiagnose
Phase II/III
oder 1. Rezidiv
GLUGLIO
Neudiagnose
Phase Ib/II
Behandlungsarme Temozolomid vs. Temozolomid + Meclofenamat Plazebo vs. Perampanel für 60 Tage Chemostrahlentherapie mit Temozolomid (Neudiagnose) oder Lomustin (Rezidiv) vs. Troriluzol Chemostrahlentherapie mit Temozolomid vs. Chemostrahlen- therapie mit Temozolomid plus täglich Gabapentin, Sulfasalazin und Memantin
Primärer Endpunkt progressionsfreies Überleben Einzelzell-RNA- Konnektivitätssignatur Gesamtüberleben
progressionsfreies Überleben nach 6 Monaten
Anzahl Patienten n = 6–12 (Phase I) n = 60 (Phase II) n = 66
nicht definiert
n = 60
Epileptische Aktivität könnte Gliomen Vorschub leisten Die Frage nach der Rolle von Epilepsie für den klinischen Verlauf von Hirntumoren wurde lange kontrovers diskutiert und ist weiterhin nicht vollständig geklärt. Diese Frage ist jedoch von übergeordneter Bedeutung, da ein kausaler Zusammenhang von Epilepsie mit ungünstiger Prognose eine aggressivere Epilepsiebehandlung und womöglich eine prophylaktische Behandlung von Hirntumorpatienten mit anfallssupprimierenden Medikamenten implizieren würde. Die oben diskutierten präklinischen Arbeiten deuten darauf hin, dass Gliome durch die Sezernierung von Glutamat lokal neuronale Hyperexzitabilität fördern und als Folge daraus über die Aktivierung neuroglialer Synapsen ein aggressiveres Tumorwachstum bedingen könnten. Die Annahme, dass Epilepsie als klinischer Ausdruck dieser Hyperexzitabilität das Überleben von Gliompatienten beeinflusst, konnte klinisch bislang jedoch nicht belegt werden. Tatsächlich ist Epilepsie als diagnoseweisendes Symptom sogar mit längerem Gesamtüberleben von Gliompatienten assoziiert (9). Dies dürfte allerdings den Umstand widerspiegeln, dass epileptische Anfälle bereits durch verhältnismässig kleine, oft oberflächlich im Bereich des kortikalen Bandes gelegene Tumoren ausgelöst werden können. So kann Epilepsie zu einer früheren Diagnosestellung während des Krankheitsverlaufs von Hirntumorpatienten führen, und es kann womöglich eine umfassendere chirurgische Resektion erreicht werden, als wenn Tumoren in der Tiefe der weissen Substanz durch extensive Gewebedestruktion symptomatisch werden. Zudem wurde in früheren Untersuchungen der Assoziation von Epilepsie und dem Krankheitsverlauf von Hirntumorpatienten keine molekulare Klassifikation der Tumoren vorgenommen. So zeigen Astrozytome mit Mutationen in den Isozitrat-Dehydrogenase-1 oder -2 (IDH) kodierenden Genen eine verhältnismässig günstigere Prognose und werden häufiger aufgrund epileptischer Anfälle diagnostiziert als solche mit Wildtyp IDH (10). Für eine retrospektive Kohortenstudie bei Patienten mit IDH-Wildtyp-Glioblastom, Hirnmetastasen oder Meningeom wurde das Auftreten eines Status epilepticus als
Surrogat für extensive neuronale Hyperexzitabilität untersucht und auch das Auftreten epileptischer Anfälle während des Krankheitsverlaufs nach der Diagnosestellung berücksichtigt. Dabei schien eine Assoziation von Epilepsie mit ungünstiger Prognose für Glioblastome und Hirnmetastasen vorzuliegen, was jedoch nicht für die meist extraaxial wachsenden Meningeome der Fall war (11). Die Frage, ob eine anfallssupprimierende Therapie den Krankheitsverlauf von Glioblastompatienten günstig beeinflusst, wurde in einer post-hoc-Analyse mehrerer klinischer Phase-III-Studien mit nahezu 2000 Patienten aufgenommen (12). Ein Zusammenhang zwischen der Einnahme von Levetiracetam oder Valproat mit dem Überleben von Glioblastompatienten fand sich dabei jedoch nicht. Das Kernproblem retrospektiver Untersuchungen eines möglichen Zusammenhangs zwischen Epilepsie und dem Überleben von Hirntumorpatienten ist darin begründet, dass epileptische Anfälle zu jedem Zeitpunkt während der Erkrankung erstmals auftreten können. Somit steigt mit längerer Überlebenszeit die Wahrscheinlichkeit, dass Patienten epileptische Anfälle erleiden und anfallssupprimierend behandelt werden, was wiederum einen Zusammenhang mit günstiger Prognose vortäuschen kann. Um diese Verzerrung zu umgehen, kann die Frage, ob anfallssupprimierende Medikamente das Überleben von Hirntumorpatienten beeinflussen können, letztlich nur in einer prospektiven, randomisierten Studie beantwortet werden.
Neurowissenschaftlich basierte randomisierte Studien in Gliompatienten Mehrere randomisierte klinische Studien untersuchen derzeit, ob die oben dargelegten neurowissenschaftlichen Konzepte therapeutisch genutzt werden können (Tabelle). Dabei handelt es sich ausschliesslich um akademische Studien, die bereits zugelassene Medikamente untersuchen. Dies spiegelt zum einen die rasante, akademisch getriebene Dynamik der «cancer neuroscience» wider, die den Entwicklungen der Pharmaindustrie noch vorausgeht. Zum anderen hat der Zusammenschluss von Neurowissenschaften und Neuroonkologie ein weites Feld bekannter und bereits
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zugelassener neuromodulatorischer Medikamente erschlossen. Da die Patente dieser Medikamente zum Teil abgelaufen sind, wäre die Beschaffung im Fall einer nachgewiesenen Wirksamkeit vergleichsweise günstig, sodass das in den hier beschriebenen randomisierten Studien umgesetzte Konzept des «drug repurposing» letztlich auch eine gesundheitspolitische Dimension hat.
Meclofenamat: MecMeth-Studie (NOA-24) Die Phase-I/II-MecMeth-Studie der Deutschen Neuroonkologischen Arbeitsgemeinschaft untersucht bei Glioblastompatienten mit erstem Rezidiv die Verträglichkeit und Wirksamkeit einer Fortführung der Standardchemotherapie mit Temozolomid und der Hinzunahme des nicht steroidalen Antirheumatikums Meclofenamat (13). Die Rationale für diese Studie ist darin begründet, dass Meclofenamat «gap junctions» blockiert und so in präklinischen Versuchen Therapieresistenz vermittelnde Tumorzellnetzwerke «diskonnektiert» hat (4). Im Anschluss an eine Dosisfindungsphase werden zur Exploration der Effektivität je 30 Patienten mit Temozolomid mit oder ohne Meclofenamat behandelt. Die Studie fokussiert auf Glioblastome mit einer Hypermethylierung des Genpromotors von O-6-Methylguanin-DNA-Methyltransferase (MGMT), das ein etablierter Biomarker für die Effektivität von Temozolomid beim Glioblastom ist (14). Der primäre Endpunkt der MecMeth-Studie ist progressionsfreies Überleben.
Perampanel: PerSurge-Studie (NOA-30) Die plazebokontrollierte Phase-II-Studie PerSurge der Deutschen Neuroonkologischen Arbeitsgemeinschaft untersucht bei Patienten mit Rezidiv eines Glioblastoms, bei denen eine chirurgische Resektion des geplant ist, Effekte einer Behandlung mit dem anfallssupprimierenden, AMPA-Rezeptoren hemmenden Medikament Perampanel (15). Hintergrund sind präklinische Arbeiten, die zeigen konnten, dass Perampanel die glutamaterge synaptische Übertragung zwischen Neuronen und Gliomzellen hemmen kann (5, 6). Je 33 Patienten werden dazu für 30 Tage vor der geplanten Tumorresektion und anschliessend für weitere 30 Tage mit Perampanel oder Plazebo behandelt. Der primäre Endpunkt der PerSurge-Studie ist ein Konnektivitätsscore, der auf der Einzelzell-RNA-Sequenzierungsanalyse von Glioblastomzellen beruht. Zudem werden verschiedene Sicherheits- und Effektivitätsendpunkte sowie das Auftreten epileptischer Anfälle, Lebensqualität und Neurokognition erfasst. Das übergeordnete Ziel der PerSurge-Studie ist es, das zugrunde liegende Konzept und die Machbarkeit einer Effektivitätsstudie mit Perampanel bei Glioblastompatienten zu untersuchen.
Troriluzol: GBM-AGILE-Studienplattform GBMAGILE steht für Glioblastoma Adaptive, Global, Innovative Learning Environment und bezeichnet eine internationale Phase-II/III-klinische Studienplattform zur Untersuchung der Effektivität neuartiger Behandlungskonzepte für Patienten mit Glioblastom (16). Dabei werden Patienten kontinuierlich in einen Kontrollarm oder in verschiedene Behandlungsarme randomisiert. Medikamente, die in einem Phase-II-Teil der Studie ein Effektivitätssignal zeigen, werden in eine Phase-III-Studie
überführt. Der Vorteil der parallelen Testung mehrerer Medikamente ist vor allem ein effizienter Einsatz von Ressourcen mit frühzeitiger Effektivitätsanalyse. Troriluzol ist ein Prodrug von Riluzol, das für die Behandlung der Amyotrophen Lateralsklerose zugelassen ist. Der Wirkmechanismus von Riluzol ist nicht abschliessend geklärt, jedoch wurden direkte oder indirekt inhibierende Effekte auf verschiedene Glutamatrezeptoren nachgewiesen. Die Rationale für die Testung von Troriluzol im Rahmen der GBM-AGILE-Plattform ist es, vorrangig die synaptische Übertragung von Neuronen auf Gliomzellen zu hemmen. Die Studie rekrutiert Teilnehmer in Basel, Lausanne und Zürich.
Gabapentin, Sulfasalazin, Memantin: GLUGLIO Studie Die randomisierte, unverblindete Phase-Ib/II-Studie GLUGLIO untersucht bei 120 Patienten in der Schweiz mit neu diagnostiziertem Glioblastom die optimale Dosis und Wirksamkeit einer Dreifachbehandlung mit antiglutamatergen Medikamenten als Zusatz zur Standardchemostrahlentherapie mit Temozolomid (17). Die Studie versucht die ungünstige Wirkung von Glutamat im Glioblastom auf verschiedenen Ebenen zu unterbinden. Das anfallssupprimierende Medikament Gabapentin hemmt das für die Synthese von Glutamat wichtige Enzym BCAT-1 (branched chain amino acid transferase 1) und verminderte in präklinischen Versuchen die Konnektivität von Gliomzellen (18, 19). Das entzündungshemmende, für die Behandlung der Colitis ulzerosa zugelassene Medikament Sulfasalazin hemmt einen Glutamat-Cystin-Antiporter, durch den Gliomzellen Glutamat sezernieren (20). Das zur Behandlung der Alzheimer-Demenz zugelassene Medikament Memantin hemmt postsynaptisch Glutamatrezeptoren vom NMDA-Typ, die für die Ausbildung stabiler Synapsen relevant sind (7). Alle drei Medikamente werden im Rahmen der Studie in dem experimentellen Studienarm kontinuierlich von Beginn der Strahlenchemotherapie bis zur Progression verabreicht. Der primäre Endpunkt der Studie ist das progressionsfreie Überleben nach 6 Monaten, weitere Endpunkte sind unter anderem das Gesamtüberleben, Epilepsie, Lebensqualität, Neurokognition und Glutamatmessungen in der MRI-Spektroskopie. Letztlich wird diese Studie erstmals den klinischen Verlauf einer kontinuierlichen anfallssupprimierenden Therapie unabhängig von dem Vorhandensein einer Epilepsie randomisiert untersuchen und somit auch einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung der Frage einer kausalen Bedeutung von Epilepsie für die Prognose von Glioblastompatienten abgeben. Die Studie rekrutiert Teilnehmer in Basel, Bern, Chur, Genf, Luzern, St. Gallen und Zürich.
Ausblick Die rasante Entwicklung von «cancer neuroscience», einer Neurowissenschaft der Krebserkrankungen, hat in den vergangenen Jahren ein weites Feld eröffnet, das jenseits eines verbesserten Verständnisses der biologischen Eigenschaften von Gliomen auch eine Vielzahl möglicher therapeutischer Ansätze aufzeigt. Unser Verständnis dieser neuen Komplexität steht jedoch noch am Anfang. So bleibt beispielsweise trotz der unbestrittenen, vielschichtigen Rolle von Glutamat auf den
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Merkpunkte:
● Gliomzellen formen ein elektrisch aktives Gewebe. ● Neuronale glutamaterge Synapsen auf Gliomzellen fördern die Tumorinfiltra-
tion in das normale Hirngewebe. ● Die schweizerische Studie GLUGLIO untersucht den möglichen Nutzen einer
anti-glutamatergen Behandlung für Glioblastompatienten.
malignen Phänotyp von Gliomen derzeit offen, wie dem
therapeutisch entgegengewirkt werden kann. Auch
scheinen verschiedene Mechanismen in unterschiedli-
chen Tumorregionen von Bedeutung zu sein – die Ver-
bindung und elektrischen Signale zwischen Tumorzellen
wurden als Treiber des Tumorwachstums und der
Therapieresistenz im Kern von Gliomen beschrieben,
wohingegen Wachstum und Invasion fördernde synap-
tische Verbindungen zwischen Neuronen und Gliom-
zellen vorrangig in der Infiltrationszone vorkommen (3).
Letztlich bestehen auf molekularer Ebene auch grosse
Unterschiede zwischen den Tumoren verschiedener Pa-
tienten und selbst zwischen einzelnen Tumorzellpopu-
lationen derselben Patienten (21).
Ein neuartiges Konzept, das von den Entwicklern wegen
der mikroskopiebasierten Methodik «Pharmakoskopie»
genannt wurde und bereits erfolgreich bei hämatologi-
schen Erkrankungen zur Anwendung kommt (22),
versucht der Komplexität dieser Heterogenität zu be-
gegnen. Dabei werden Tumoren unmittelbar nach der
chirurgischen Resektion in eine Einzelzellsuspension
überführt und einem Medikamentenscreening unter-
zogen. Für Hirntumorpatienten ist in der Schweiz der-
zeit eine klinische Studie in Vorbereitung, die dieses
Konzept zum Screening von über 100 zugelassenen
Medikamenten, die die Bluthirnschranke passieren kön-
nen, anwenden wird, darunter zahlreiche Psychophar-
maka sowie anfallssupprimierende und andere in der
Neurologie gängige Medikamente. Dieser Ansatz wird
der Suche nach neuen Indikationen für kostengünstige
Medikamente ohne Patentschutz Vorschub leisten.
Insgesamt kann für Hirntumorpatienten in den kom-
menden Jahren eine Vielzahl neuartiger, neurowissen-
schaftlich basierter Behandlungskonzepte erwartet
werden, doch bleiben die Ergebnisse randomisierter
Effektivitätsstudien im Hinblick auf eine mögliche klini-
sche Implementation dieser Konzepte abzuwarten. Jen-
seits von Gliomen wurde in den vergangenen Jahren
zudem intensiv eine mögliche Rolle des Nervensystems
für den extrakraniellen malignen Phänotyp verschiede-
ner Tumorentitäten wie dem Pankreas- oder Mamma-
karzinom untersucht, auch hier ist die klinische
Bedeutung dieser neuen Erkenntnisse jedoch noch
nicht geklärt.
l
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Hans-Georg Wirsching
Klinik für Neurologie Universitätsspital Zürich
Frauenklinikstrasse 26 8091 Zürich
E-Mail: hans-georg.wirsching@usz.ch
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