Transkript
FORTBILDUNG
ICD-11 im Vergleich zur ICD-10
Strukturelle und inhaltliche Veränderungen
Mit der ICD-11 wird gegenüber der ICD-10 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein umfassend überarbeitetes und erweitertes Klassifikationssystem auch für psychische Störungen vorgelegt. Veränderungen und Neuerungen beziehen sich unter anderem auf die Gesamtstruktur des Systems, die Veränderung einzelner Störungen, die Neuaufnahme und Umgruppierung von Störungen sowie auf grundlegend veränderte Kodierungsregeln.
Foto: zVg
Rolf-Dieter Stieglitz
von Rolf-Dieter Stieglitz
Einleitung Klassifikationssysteme sind keine statischen Konstrukte, sondern unterliegen einer kontinuierlichen Weiterentwicklung (1, 2). So wurden z. B. 1992 von der WHO als Nachfolgerin der ICD-9 (International Classification of Diseases), orientiert am DSM-System, die klinisch-diagnostischen Leitlinien ICD-10, herausgeben und kurz darauf 1993 die Forschungskriterien. Diese wurden in weiteren Auflagen als Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis bezeichnet, die das eigentliche Pendant zum DSM-IV darstellten, da sie ähnlich präzise die Störungen definierten (3). Zentrale gemeinsame Kennzeichen von DSM und ICD waren ab dann (1): l Eine operationalisierte Diagnostik, d. h. Festlegung
expliziter diagnostischer Kriterien, von Zeit- und Verlaufsmerkmalen sowie Ausschlusskriterien, l das Komorbiditätsprinzip, d. h. die Möglichkeit, mehr als eine Diagnose bei einem Patienten zu vergeben sowie l ein multiaxiales System, d. h. die Beschreibung von Patienten über die Diagnose hinaus auf verschiedenen als klinisch relevant angesehenen Achsen. DSM-IV wie ICD-10 waren erstmalig viele Jahre ohne Veränderungen in Anwendung, bevor 2013 DSM-5 publiziert wurde und 2019 ICD-11 von der Vollversammlung der WHO offiziell verabschiedet wurde.
Die International Classification of Diseases (ICD) Die Einführung der ICD-10 war mit wesentlichen Veränderungen gegenüber ihrem Vorgänger ICD-9 verbunden (1, 3). Diese lassen sich in strukturelle und konzeptuelle Veränderungen unterteilen. Zu den strukturellen Veränderungen zählten unter anderem die Einführung einer operationalisierten Diagnostik mit der Einführung von Symptom-, Zeit- und Verlaufskriterien und entsprechenden Algorithmen zur Diagnosestellung, die Neustrukturierung des Systems in insgesamt zehn Hauptgruppen und Einführung eines offenen alphanumerischen Systems (allg.: Fxx.xx; Tabelle 2). Zu den inhaltlichen Veränderungen waren unter anderem eine veränderte Begrifflichkeit (z. B. Aufgabe der traditionellen Begriffe Neurose oder Psychose bzw. psy-
chogen/psychosomatisch als Einteilungskriterium), die Verwendung des Begriffs Störung statt Krankheit und die Einführung des Komorbiditätsprinzips zu rechnen. Weiter wurde die Akzeptanz des Systems durch die Anwender verschiedener Nationalitäten wie Kulturen gefordert, eine leichte Verständlichkeit sowie einen leichten Gebrauch und damit verbunden auch eine leichte Übersetzbarkeit in verschiedene Sprachen. Zudem wurde eine Anwendbarkeit in verschiedenen Bereichen durch unterschiedliche Berufsgruppen angestrebt. Entsprechend dieser Überlegungen wurde eine sogenannte «family of instruments» (1) entwickelt, deren Kernstück die klinisch-diagnostischen Leitlinien und die Forschungskriterien bildeten. Obwohl ursprünglich nur für einen Zeitraum von zirka 10 Jahre konzipiert, ist die ICD-10 jetzt schon mehr als 30 Jahre der Anwendung und wurde erst 2022 durch die ICD-11 offiziell abgelöst, für welches jedoch aktuell noch kein deutschsprachiges Manual mit entsprechenden Übersetzungen der Begrifflichkeiten und Kodierungsanweisungen existiert, sodass nachfolgend teilweise die englischen Bezeichnungen verwendet werden.
Entwicklung der ICD-11 Bezogen auf den Bereich «Mental Health» sind insgesamt vier Kapitel relevant: l Kapitel 6: Psychische Störungen, Verhaltensstörun-
gen oder neuronale Entwicklungsstörungen, l Kapitel 7: Schlaf-Wach-Störungen, l Kapitel 8: Krankheiten des Nervensystems, l Kapitel 17: Zustände mit Bezug zur sexuellen Ge-
sundheit. Der Entwicklung der ICD-11 ging ein langjähriger Prozess der Zusammenarbeit von Arbeitsgruppen weltweit voraus (4). Nach Registrierung bei der WHO konnten sich zudem Interessenten aus der ganzen Welt an der Entwicklung beteiligen (https://gcp.network). Heute finden sich dort auch die neuen Leitlinien auf Englisch. Die Entwicklung zentrierte sich, wie schon bei der ICD10, um die klinisch-diagnostischen Leitlinien (engl. Clinical Descriptions and Diagnostic Guidelines, CDDG). Im Unterschied zur ICD-10 wird es jedoch keine Forschungskriterien geben. Das scheint auch sinnvoll, da die Forschungskriterien der ICD-10 im Vergleich zu den verschiedenen DSM-Versionen in Studien kaum zur
2/2024
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
5
FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Metastruktur von ICD-10 und ICD-11
ICD-10 ICD-11
V (F) Psychische und Verhaltensstörungen
06 Psychische Störungen, Verhaltensstörungen oder neuronale Entwicklungs-
störungen
F0 Organische einschliesslich symptomatischer
6D70-6E0Z Neurokognitive Störungen
psychischer Störungen
F1 Psychische und Verhaltensstörungen durch
6C40-6C5Z Störungen durch Substanzgebrauch oder Verhaltenssüchte
psychotrope Substanzen
F2 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen 6A20-6A2Z Schizophrenie oder andere primäre psychotische Störungen
6A40-6A4Z Katatonie
F3 Affektive Störungen
6A60-6A8Z Affektive Störungen
F4 Neurotische-, Belastungs- und somatoforme Störungen 6B00-6B0Z Angst- oder furchtbezogene Störungen
6B20-6B2Z Zwangsstörungen oder verwandte Störungen
6B40-6B4Z Störungen, die spezifisch Stress-assoziiert sind
6B60-6B6Z Dissoziative Störungen
6C20-6C2Z Störungen der körperlichen Belastung oder des körperlichen Erlebens
F5 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen 6B80-6B8Z Fütter- oder Essstörungen
und Faktoren
6E20-6E2Z Psychische Störungen oder Verhaltensstörungen in Zusammenhang
mit Schwangerschaft, Geburt oder Wochenbett
6E40-6E40Z Psychologische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei anderenorts
klassifizierten Störungen oder Erkrankungen
(7 Schlaf-Wach-Störungen)
F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
C70-6C7Z Störungen der Impulskontrolle
6D10-6D11.5 Persönlichkeitsstörungen und zugehörige Persönlichkeitsmerkmale
6D30-6D3Z Paraphile Störungen
6D50-6D5Z Artifizielle Störungen
(HA60-HA6Z Genderinkongruenz)
F7 Intelligenzminderung
6A00.0-6A00.Z Störungen der Intelligenzentwicklung
F8 Entwicklungsstörungen
6A00-6A06.Z Neuronale Entwicklungsstörungen
F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn
6C00-6C0Z Ausscheidungsstörungen
in der Kindheit und Jugend
6C90-6C9Z Disruptives Verhalten oder dissoziale Störungen
F99 Nicht näher bezeichnete psychische Störungen
6E60-6E6Z Sekundäre psychische oder Verhaltenssyndrome bei anderenorts
klassifizierten Störungen oder Erkrankungen
Anwendung kamen beziehungsweise in der Forschung vor allem DSM präferiert wurde. Die Entwicklung der ICD-11 wurde durch drei zentrale Zielvorstellungen geleitet: l «applicability – feasibility: easy to use», d. h. die Ein-
fachheit der praktischen Anwendung, l «reliability – consistency: gives same results in the
hands of all», d. h. die möglichst hohe Übereinstimmung unterschiedlicher Urteiler, l «utility – added value: renders useful information», d. h. der klinische Nutzen in der Anwendung. Für die Entwicklung der ICD-11 wurden verschiedene Studien weltweit konzipiert (4, 5). Besonders zu erwähnen sind die internetbasierten Feldstudien sowie die klinikbasierten Studien. Erstere zielten darauf ab, die Nützlichkeit der vorgeschlagenen Änderungen zu bewerten. Die zweite Gruppe von Studien fokussierte darauf, den klinischen Nutzen der ICD-11 im Kontext der Praxis zu beurteilen. Zu den Ergebnissen der Studien findet sich eine Zusammenfassung bei Fabrazzo (6), Reed et al. (7) und Reed (11). Diese ersten Ergebnisse zur ICD-11 belegen gesamthaft bereits jetzt die Akzeptanz der Anwender und die befriedigenden bis guten Interrater-Reliabilitäten (11).
Neuerungen der ICD-11 Als Ergebnisse aller Bemühungen sind grundlegende Veränderungen gegenüber der ICD-10 zu erkennen (7–11), die unterteilt werden können in strukturelle und inhaltliche Veränderungen. Zu den strukturellen Veränderungen zählen z. B.: l Überarbeitung des alphanumerischen Systems für
die gesamte ICD-11, auch in anderen medizinischen Disziplinen, mit Erweiterung der Kodierungsmöglichkeiten von 14 000 auf 55 000 l Gruppierung der Störungen nach ihrer empirischen Evidenz und klinischen Bedürfnissen sowie kulturund landesspezifischen Bedürfnissen l Neustrukturierung der Darstellung einzelner Störungsgruppen l Organisation entlang der Entwicklungsperspektive, beginnend bei neuronalen Entwicklungsstörungen bis zu neurokognitiven Störungen l «Life span approach», d.h. Gruppierung der Störungen nach gemeinsamen Symptomen, unabhängig davon, zu welcher Lebenszeit sie auftreten können (z. B. Trennungsangst jetzt bei «furchtbezogenen Störungen», d. h. Angststörungen).
6
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
2/2024
FORTBILDUNG
Tabelle 2:
Gegenüberstellung der Kodierungen von Störungen in der ICD-10 und ICD-11 am Beispiel depressiver Störungen
ICD-10 ICD-10
ICD-10 Bedeutung
Ebene Kodierung
1 F
Hinweis auf das Vorliegen einer psychischen Störung
hier V (F): Psychische und Verhaltensstörungen
2 Fa
Hauptkategorie, Hinweis auf als zusammengehörig anzusehende Störungen
Beispiel: F3 Affektive Störungen
3 Fab
Kategorie, Kennzeichen der einzelnen Störungsgruppe
Beispiel: F32 Depressive Episode
4 Fab.c Spezifizierung der Subgruppe hinsichtlich unterschiedlicher Kriterien,
wie z. B. Erscheinungsbild oder Schweregrad
Beispiel: F32.1 Mittelgradig depressive Episode
5
Fab.cd
Zusatzspezifikation hinsichtlich unterschiedlicher Kriterien wie z. B. Wahn
oder Schweregrad
Beispiel: F32.3 schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen
ICD-11 Kodierung hier: 06 Psychische Störungen, Verhaltensstörungen oder neuronale Entwicklungsstörungen 6A Affektive Störungen
6A70 Einzelne depressive Episode
6A70.1 Mittelgradig depressive Episode ohne psychotische Symptome 6A70.2 Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen
Zu den inhaltlichen Veränderungen zählen z. B.: l Festlegung von «essential (required) features» als ge-
meinsame Kennzeichen der jeweiligen Störung (ähnlich den diagnostischen Kriterien in der ICD-10) l In der Regel Verzicht auf Cut-off-Werte bzw. Symptomauszählung sowie Dauer der Symptomatik l Einbeziehung kulturrelevanter Aspekte l verstärkte Berücksichtigung dimensionaler Ansätze innerhalb eines immer noch kategorialen Systems l Umgruppierung von Störungen in andere Kapitel der ICD-11 (z. B. Schmerzstörungen nach Kapitel 8 Krankheiten des Nervensystems) l eigene Kapitel für bestimmte Störungsbereiche (07: Schlaf-Wachstörungen, 17: Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit u. a. mit sexuelle Dysfunktion, Geschlechtsinkongruenz) l Einbeziehung neuer diagnostischer Kategorien l Revisionen bei einzelnen Störungen
Auf einige dieser Neuerungen soll nachfolgend kurz genauer eingegangen werden (7, 10, 12). Auffällig ist zunächst die völlig neue Gesamtstruktur und Neugliederung des Kapitels zu den psychischen Störungen (Tabelle 1): l Die ICD-11 besteht jetzt aus 21 Störungskapiteln
(ICD-10: 10 Kapitel F0 - F9). l 15 Subkapitel wurden neu eingeführt. l Störungen mit Gemeinsamkeiten wurden in Grup-
pen zusammengefasst, bezogen auf die Metastruktur (z. B. Angst- und furchtbezogene Störungen, Zwangsstörungen oder verwandte Störungen) als auch auf der Störungsebene (z. B. Autismus-Spektrum-Störung). l Neu eingeführt wurden sogenannte «specifiers» (manchmal auch als «qualifier» bezeichnet [12]) zur weiteren Spezifizierung und Differenzierung von Störungen.
Auffällig sind auch die von der ICD-10 deutlich abweichende Kodierungsebenen. Das alphanumerische System reicht jetzt von 1A00.00 bis ZZ9.Z.ZZ. Die Kapitel werden an 1. Stelle mit einer Zahl oder einem Buch-
staben gekennzeichnet, die nachfolgenden mit Buchstaben und Zahlen. Unterschieden wird allgemein zwischen: l Stammcodes (Stem codes): Basiskodierung für eine
bestimmte Störung (Kategorie) wie z. B. 6A70.2 für Einzelne mittelgradig depressive Episode mit psychotischen Symptomen l Zusatzcodes (Extension codes): Kodierung von Zusatzinformationen wie z. B. XS5W für chronisch leichtgradig insomnische Störung. Zusatzcodes können jedoch nie allein, sondern nur in Verbindung mit Stammcodes verwendet werden (z. B. 6A70.2 & XS5W) Explizite Kodierungsbeispiele finden sich auch in Tabelle 2. Die in der ICD-10 stringenten und dadurch auch leicht lernbaren Kodierungsebenen sind in der ICD-11 unter dem Aspekt der Digitalisierung und einer möglichst differenzierten Kodierung aufgegeben worden, was erhöhte Anforderungen an die Nutzer stellt, unter Zuhilfenahme von entsprechenden digitalisierten Angeboten. In die ICD-11 wurden zudem eine Reihe neuer Störungsgruppen aufgenommen, die in Tabelle 3 enthalten sind. Die Anzahl ist überschaubar, entspricht den klinischen Erfahrungen und Bedürfnissen sowie neueren Erkenntnissen der Forschung. Das betrifft zum Beispiel die komplexe PTSD als Reaktion auf überdauernde Extrembelastung mit über die PTSD-Symptomatik zusätzlichen Symptomen oder die verzögerte Trauerreaktion als persistierende Trauerreaktion von mindestens 6 Monaten mit Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen. Exemplarisch zu nennen ist auch das in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnene pathologische Spielen als persistierendes Muster von Spielverhalten über mindestens 12 Monate mit daraus resultierenden Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen. Alle Störungsgruppen werden nach einer einheitlichen Struktur dargestellt (Tabelle 4). Das stellt im Vergleich zur ICD-10 eine deutliche Verbesserung der Benutzerfreundlichkeit dar. In der ICD-10 sind die einzelnen Störungen meist eher unübersichtlich strukturiert, zudem nicht ein-
2/2024
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
7
FORTBILDUNG
Tabelle 3:
Neue Störungsgruppen in der ICD-11 (5, 8)
Katatonie Binge-eating-Störung
Bipolare Störung Typ II
Vermeidend-restriktive Ernährungsstörung
Körperdysmorphe Störung
Körper-Integritätsstörung-Identitätsstörung
Eigengeruchswahn
Pathologisches Spielen
Zwanghaftes Horten
Störung mit zwanghaftem Sexualverhalten
Skin-Picking-Störung
Intermitterende explosive Störung
Komplexe posttraumatische Prämenstruelle dysphorische Störung
Belastungsstörung
Verlängerte Trauerstörung
heitlich bei den Störungen, oft wenig informativ und beinhalten meist nur Differenzialdiagnosen und dazugehörige Begriffe. Besonders zu erwähnen in der ICD-11 sind auch die jeweiligen Abgrenzungen zur «Normalität», Verlaufscharakteristika, Präsentation im Entwicklungsverlauf und kulturspezifische Manifestationen. Nachfolgend einige Neuerungen und Veränderungen bei ausgewählten Störungskapiteln (12): l Neuronale Entwicklungsstörungen: u. a. völlige Neu-
gruppierung, Integration der Intelligenzstörungen, ADHS ab 12 Jahren möglich; Autismus-Spektrum-Störungen (ohne Asperger-Syndrom) l Affektive Störungen: u. a. ist Manie keine eigene Störungskategorie mehr, Unterscheidung von vier affektiven Episoden l Angst-und furchtbezogene Störungen: u. a. eigenständige Gruppe mit Trennungsangst und selektiver Mutismus l Zwangsstörungen und verwandte Störungen: u. a. eigenständige Gruppe, neue Störungen Hypochondrie, Hoarding l Störungen, die spezifisch stressassoziiert sind: u.a. eigenständige Gruppe, neu aufgenommen komplexe PTSD, verzögerte Trauerreaktion l Störungen durch Substanzen oder Verhaltenssüchte: u. a. Erweiterung des Spektrums von Störungen, Vereinfachung, veränderte Begrifflichkeiten, neu nicht-stoffgebundene Störungen l Persönlichkeitsstörungen und zugehörige Persönlichkeitsmerkmale: grundlegende Neukonzeptualisierung, Aufgabe von Subtypen (vgl. im Detail Artikel Schmeck in dieser Ausgabe) l Schizophrenie und andere primäre psychotische Störungen: u. a. Aufgabe der Subtypen, dafür Einführung von «specifiers», weitestgehend Aufgabe Erstrangsymptome nach K. Schneider, umfassende Beschreibung der Wahnstörungen. Die ICD-11 ist weiterhin überwiegend kategorial konzipiert (13). Es gibt jedoch bei einer Reihe von Störungen die Möglichkeit mittels der bereits erwähnten «specifiers», eine zusätzliche Differenzierung im Hinblick auf Symptom-, Verlaufs oder Schweregradpräsentationen vorzunehmen. So lässt sich beispielsweise bei den Zwangsstörungen der Grad der Einsicht in die Symptomatik kodieren, bei der Schizophrenie der Verlauf und Schweregrad sowie Spezifizierungsmöglichkeiten für die im Vordergrund stehende Symptomatik (z. B. Positivoder Negativsymptomatik) und bei der depressiven
Episode der Schweregrad sowie das Vorliegen von psychotischen Symptomen. Es wird kein multiaxiales System mehr geben, jedoch werden die darin enthaltenen Informationen, wie im DSM-5, auch erfassbar sein. So finden sich im Kapitel 24 für Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen oder zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen, die alten Z-Kodierungen der ICD-10 wieder. Explizit zu verweisen ist auf die akute Stressreaktion (QE84) oder auch der unkomplizierte Trauerfall (QE62), die hier abgebildet werden, aber auch auf das Burnout-Syndrom (QD85), das weiterhin keine eigenständige Störung darstellt, jedoch im Gegensatz zur ICD-10 definiert ist. Weiterhin findet sich hier auch die akzentuierte Persönlichkeitszüge der ICD-10 (jetzt: QE50.7 Persönlichkeitsproblematik). Im Kapitel V: Ergänzender Abschnitt für die Einschätzung der Funktionsfähigkeit lassen sich mittels der WHO-DAS 2.0 Funktionseinschränkungen abbilden.
ICD-11 und DSM-5: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Die Systeme der WHO, die ICD, sind weltweit verbindliche Nomenklaturen zur Klassifikation aller Erkrankungen, inklusive der psychischen Störungen, finden jedoch seit jeher in der Forschung im Gegensatz zu den Systemen der APA, den DSM-Versionen, weniger Beachtung. DSM fokussiert zudem auch nur auf die psychischen Störungen. DSM hat jedoch auch, speziell bezogen auf DSM-5, den Anspruch ein «prozedurales Manual» zu sein mit Beschreibungen von Regeln und Richtlinien zur Diagnosestellung (14, 15) und stellt somit vom Anspruch her ein klinisch- und forschungsrelevantes System dar. Da die Systeme der WHO und der APA beides anerkannte Klassifikationssysteme darstellen, wurde bei der Entwicklung der ICD-11 der Versuch einer «Harmonisierung» im Hinblick auf eine gemeinsame Metastruktur unternommen, wozu eine «advisory group» (u. a. Experten aus allen WHO-Regionen, Vertreter von Fachgesellschaften) sowie eine «DSM-ICD harmonisation coordinatory group» eingerichtet wurde (9). Dennoch bestehen weiterhin Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten, auf die nachfolgend kurz hingewiesen werden soll. Der Versuch, bei der Entwicklung beider Systeme eine möglichst grosse Konvergenz zu erreichen, zeigt sich bereits bei der Entwicklung des DSM-5 darin, dass im Manual immer auch die entsprechenden ICD-10-Kodierungen aufgeführt werden. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass automatisch eine vollständige Übereinstimmung zwischen beiden Systemen vorliegt. Es gilt jeweils im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob die spezifischen Symptom-, Zeit- und Verlaufskriterien für die einzelnen Störungen tatsächlich erfüllt sind! Folgende Unterscheidungen zwischen ICD-11 und DSM-5 sind besonders relevant (9): l Unterschiede in der Metastruktur: Unterschiede be-
treffen vor allem die affektiven Störungen und depressive Störungen im DSM-5, die in der ICD-11 beide unter affektive Störungen zusammengefasst sind. Schlaf-Wachstörungen, sexuelle Funktionsstörungen und Geschlechtsdysphorie des DSM-5 finden sich in der ICD-11 nicht bei den psychischen
8
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
2/2024
FORTBILDUNG
Tabelle 4:
Struktur der Darstellung der einzelnen Störungsgruppen (4)
Anmerkungen
Kategorienname (category name)
Kodierung und Name der Störung
Zentrale (notwendige) Merkmale
Diagnostische Kriterien
(essential [required] Features)
Spezifikationen (specifier)
Subspezifizierungen (nicht bei allen Störungen)
Zusätzliche klinische Merkmale
Begleitphänomene
(additional clinical features)
Abgrenzung zur Normalität
Grenze zur «Normalität»
(boundary with normality [threshold])
Verlaufsmerkmale (course features)
Hinweise zum Krankheitsverlauf
Entwicklungsdarstellung (developmental presentations) Hinweise zur möglichen Präsentation im
Krankheitsverlauf
Kulturbezogene Merkmale (culture related features)
Hinweise zur Präsentation in unterschiedlichen
Kulturen
Gender-bezogene Merkmale (Gender-related features)
Hinweise zur Präsentation in der Abhängigkeit
vom Geschlecht
Grenze zu anderen Störungen und Bedingungen
Differenzialdiagnosen
(Differenzialdiagnosen) (boundaries with other disorders
and conditions [differential Diagnosis])
Anmerkung: Da noch keine offiziellen deutschsprachigen Übersetzungen der Begriffe vorliegen, wurden die englischsprachigen Begriffe in Klammern ergänzt.
Störungen, sondern im gesonderten Kapitel Schlaf-Wach-Störungen bzw. Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit. l Unterschiede bezüglich einzelner Störungsgruppen (9): – Störungen, die nur in einem System, aber nicht
im anderen enthalten sind (z. B. ICD-11 komplexe PTSD; DSM-5 schizophreniforme Störung) – Störungen mit deutlichen Unterschieden in beiden Systemen (z. B. schizoaffektive Störung) – Störungen mit geringen Unterschieden in beiden Systemen (z. B. ADHS) – Störungen mit fast identischen Definitionen in beiden Systemen (z. B. einzelne depressive Episode. Die Unterschiede zwischen den Systemen sind im Lauf der Zeit geringer geworden. ICD-10/-11 werden aber vermutlich auch zukünftig primär in der Praxis eingesetzt, vor allem auch deshalb, da es für ICD-11 keine Forschungskriterien geben wird. DSM-5 wird, wie die Vorgängerversionen, das wichtigste Klassifikationssystem in der Forschung bleiben.
Zusammenfassung Mit dem DSM-5 und der ICD-10/-11 existieren unverändert zwei konkurrierende Klassifikationssysteme, die jedoch zunehmend konvergieren. Es bestehen jedoch unverändert Unterschiede, vor allem bezogen auf einzelne Störungsgruppen (Stellenwert, Definition). Die ICD-11 trat am 1. Januar 2022 in Kraft, mit einer flexiblen Übergangszeit von fünf Jahren. Das bedeutet, dass ICD10 und ICD-11 über mehrere Jahre hinweg parallel verwendet werden können bzw. müssen. Bisher liegt lediglich eine deutsche Entwurfsfassung der ICD-11 vor, welche das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel
und Medizinprodukte (BfArM) auf seiner Homepage zur
Verfügung stellt (QR-Link). Diese Entwurfsfassung wird
derzeit mit den medizinischen Fachgesellschaften ab-
gestimmt. Es kann noch nicht abgesehen werden, wann
die ICD-11 Eingang in den klinischen Alltag finden wird.
Zudem sind bis zur Ablösung der ICD-10 durch ICD-11
eine Reihe von praktischen Problemen (u. a. Kodierungs-
fragen, Implementierung) zu lösen (13). Das Fehlen
einer offiziellen deutschsprachigen Übersetzung sowie
eines Manuals (Papierversion und/oder digitalisiert)
steht der gegenwärtigen praktischen Anwendung noch
im Weg. Speziell ein Manual mit konkreten Hinweisen
zum praktischen Einsatz bei den zahlreichen Neuerun-
gen der ICD-11 ist unbedingt notwendig.
l
QR-Link ICD-11: deutsche Entwurfsfassung
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Rolf-Dieter Stieglitz
Obere Dorfstrasse 10a 4126 Bettingen
rdstieglitz@bluewin.ch
Merkpunkte:
● Mit der ICD-11 liegt ein an das Digitalisierungszeitalter angepasstes modernes Klassifikationssystem vor.
● Gegenüber der ICD-10 wurden grundlegende Veränderungen auf struktureller und inhaltlicher Ebene vorgenommen.
● Es wurden erste Schritte in Richtung einer dimensionalen Betrachtungsweise von Störungen eingeführt (vor allem bei den Persönlichkeitsstörungen).
● Es wird nur klinisch-diagnostische Leitlinien, aber keine Forschungskriterien geben, die oft auch im klinischen Alltag eingesetzt wurden.
2/2024
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
9
Referenzen: 1. Stieglitz RD: Diagnostik und Klassifikation in der Psychiatrie.
Stuttgart: Kohlhammer 2008. 2. Stieglitz RD et al.: Status und Zukunft psychiatrischer
Klassifikationssysteme. Verhaltenstherapie 2020;30:311-322. 3. Dilling H et al. (Hrsg.): Von der ICD-9 zur ICD-10. Bern. Huber 1994. 4. First MB et al.: The development of the ICD-10 clinical descriptions
and diagnostic guidelines for mental and behavioural disorders. World Psychiatry 2015;14:82-90. 5. Gaebel W et al.: Changes from ICD-10 to ICD-11 and future directions in psychiatric classification. Dialogues Clin Neurosci 2020;22:7-15. 6. Fabarazzo M: Internet-based field trials of the ICD-11 chapter on mental disorders. World Psychiatry 2022;21:163-164. 7. Reed GM W et al.: Innovations and changes in the ICD-11 classification of mental, behavioural and neurodevelopmental disorders. World Psychiatry 2019;18:3-19. 8. Gozi A: Highlights of ICD-11 classification of mental, behavioral, and neurodevelopmental disorders. Indian Journal of Private Psychiatry 2019;13:11-17. 9. First MB W et al.: An organization- and category-level comparison of diagnostic requirements for mental disorders in ICD-11 and DSM-5. World Psychiatry 2021;20:34-51. 10. Stein DJ W et al.: Mental, behavioural and neurodevelopmental disorders in ICD-11: an international perspective on key changes and controversies. BMC Medicine 2020; 18: 21. 11. Reed GM: Development an innovation in the ICD-11 Chapter on Mental, Behavioural and Neurodevelopmental Disorders. In: Tyrer P (ed.), Making Sense of the ICD-11. Cambridge: University Press 2023. p. 5-16. 12. Tyrer P (Ed.): Making Sense of the ICD-11. Cambridge: University Press 2023. 13. Gaebel W: ICD-11 zwischen Entwicklung und Implementierung. Fortschr Neurol Psychiatr 2023;91:394-396. 14. American Psychiatric Association (APA): Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5th ed.). Washington DC: APA 2013. 15. Falkai P et al. (Hrsg.): Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5®. Göttingen: Hogrefe 2015.
FORTBILDUNG
10
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
2/2024