Transkript
E D I T O R I A L Schwindel:
häufigste Gründe für die Illusion
D ie vorliegende Ausgabe von «Psychiatrie + Neurologie» widmet sich mit dem Schwerpunkt «Schwindel» den beiden in der klinischen Praxis wahrscheinlich häufigsten Entitäten, die zu einer illusorischen Wahrnehmung einer Eigenoder Umgebungsbewegung führen: zum einen dem funktionellen Schwindel und zum anderen der vestibulären Migräne. Des Weiteren steht in dieser Ausgabe vor allem die Entwicklung der letzten Jahre im Rahmen der Forschung zu CANVAS (Zerebelläre Ataxie, Neuropathie und vestibuläres AreflexieSyndrom) im Vordergrund. Sarah Hösli befasst sich in ihrem Artikel zu funktionellem Schwindel in erster Linie mit dem Störungsbild, das im Jahr 2017 von einer Expertenkommission der Barany Society mit dem Begriff der Persistent Postural Perceptual Dizziness (PPPD) gekennzeichnet wurde. Dieser Begriff definiert eine anhaltende, teilweise undulierende, chronische Schwindelsensation, die eine Verstärkung beim Stehen und Gehen erfährt, sowie Schwindelsensationen, die bei visueller Exposition gegenüber einer belebten Umwelt erscheinen können. Es handelt sich um eine vergleichsweise häufige funktionelle Störung, die bevorzugt als Folge einer vestibulären Störung oder einer anderweitigen Erkrankung auftritt. Man geht heute davon aus, dass ungefähr ein Viertel der Patienten mit akuten vestibulären Beschwerden eine PPPD entwickeln. Im Rahmen der Behandlung dieser Störung ist es entscheidend, dass man weitere, koexistente und gegebenenfalls auslösende vestibuläre Störungen, wie beispielsweise einen benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel oder eine vestibuläre Migräne konsequent behandelt. Die pathophysiologischen Grundlagen der PPPD sind weiterhin nur unzureichend verstanden. Multimodale Therapieansätze erscheinen vielversprechend. Der Artikel «Vestibuläre Migräne» soll Ihnen eine aktuelle Übersicht, mit Schwerpunkt auf der klinischen Präsentation dieser Störung, anhand von aktuellen klinischen Studienergebnissen geben. Migräneassoziierte Schwindelbeschwerden sind häufig. Allerdings handelt es sich weiterhin um eine unterdia-
gnostizierte und zu selten erkannte Störung. Chroni-
sche Verlaufsformen werden wahrscheinlich im klini-
schen Alltag häufig als rein psychosomatische
Störungen oder auch mittlerweile seit Kurzem als
PPPD diagnostiziert, da eine Unterscheidung in
manchen Fällen nicht möglich ist und Biomarker bis
dato fehlen (1). Im Hinblick auf chronische Schwin-
delsyndrome bestehen vor diesem Hintergrund
sowohl diagnostische als auch definitorische Her-
ausforderungen.
Alexander Tarnutzer beschreibt in seinem Beitrag die
Entwicklung der Erforschung des gemeinsamen Auf-
tretens von zerebellärer Ataxie und bilateraler Vesti-
bulopathie seit den 1990er-Jahren mit erstmaliger
syndromaler Einordnung im Jahr 2011 als CANVAS,
nachdem bei diesem Patientengut zusätzlich eine
rein sensible Neuropathie, die insgesamt eine Selten-
heit darstellt, beobachtet wurde. Retrospektiv findet
sich eine deskriptive Schilderung dieses Syndroms
erstmals in einem Artikel von Chambers und Gresty
aus dem Jahr 1983 (2). 2019 konnte hierfür als
genetisch bedingte Ursache eine biallelische Penta-
nukleotidexpansion im RFC1-Gen nachgewiesen
werden. Das klinische Spektrum der RFC1-assoziier-
ten Erkrankungen ist durchaus variabel, insbe-
sondere was den Beginn und die Dynamik der Ent-
wicklung der neurologischen/vestibulären Defizite
betrifft. Dies und die zumeist langsame Progression
haben wahrscheinlich dazu geführt, dass dieses Syn-
drom erst im Lauf des letzten Jahrzehnts eine ent-
sprechende Aufmerksamkeit erfahren hat.
Ich hoffe, wir haben interessante Beiträge für Sie zu-
sammengefasst, und wünsche Ihnen eine span-
nende Lektüre.
l
Referenzen: 1. Tarnutzer AA et al.: What‘s in a Name? Chronic Vestibular Migraine or
Persistent Postural Perceptual Dizziness? Brain Sci. 2023;13(12):1692. doi: 10.3390/brainsci13121692. 2. Chambers BR et al.: The relationship between disordered pursuit and vestibulo-ocular reflex suppression. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 1983 Jan;46(1):61-6. doi: 10.1136/jnnp.46.1.61.
Foto: zVg
Heiko M. Rust
Korrespondenzadresse: Dr. Heiko M. Rust Oberarzt Leiter der Abteilung
für Vestibuläre Neurologie Neurologische Klinik und Poliklinik
Stv. Leiter des universitären Zentrums für Schwindel und
Gleichgewichtsstörungen Universitätsspital Basel Petersgraben 4 4051 Basel
E-Mail: heiko.rust@usb.ch hrust@ic.ac.uk
1/2024
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
23