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FORTBILDUNG
Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen mit einer Autismus-SpektrumStörung im High-Functioning Bereich
«Wut ist wie ein Stein in meinem Gehirn»
In diesem Artikel möchten wir einen praxisbezogenen Einblick in die Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen geben. Wir erläutern die Besonderheiten in der Psychotherapie, betonen aber auch explizit die grossen Ähnlichkeiten zu Therapien mit neurotypischen Personen. Wir erhoffen uns durch unseren Beitrag, die Schwelle zur Übernahme von Psychotherapien von jungen Menschen auf dem Autismus-Spektrum zu senken.
Foto: zVg
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Charlotte Gwerder Karin Wermelinger Evelyn Herbrecht David Bachmann
von Charlotte Gwerder1, Karin Wermelinger1, Evelyn Herbrecht1 und David Bachmann1
Hintergrund Die starke Zunahme an Autismus-Spektrum-Störungen-(ASS-)Diagnosen führt zu einem höheren Unterstützungs- und Förderbedarf für diese Menschen. Trotz relativ guter Aufklärung der Gesellschaft über das Phänomen ASS gibt es seitens Psychotherapeuten häufig noch Hemmungen, solche Therapien anzubieten. Die Sorge, nicht genug «Spezialwissen» zu haben, vielleicht auch die Idee, dass eine genetische Störung wenig behandelbar sei, können hierbei als mögliche Gründe aufgeführt werden. ASS kann nicht «wegtherapiert» werden, der Umgang mit der Neurodiversität kann aber verbessert werden, was zur psychischen Gesundheit der Betroffenen und zu einer besseren sozialen Integration beiträgt. Wir erachten es als persönlich und fachlich bereichernd, dass wir in den Therapien mit Menschen auf dem Autismus-Spektrum unsere eigene Wahrnehmung und Denkweise immer wieder hinterfragen dürfen. Dieser Artikel bezieht sich spezifisch auf die Einzeltherapie von Kindern und Jugendlichen mit ASS im High-Functioning-Bereich. Obwohl sich die therapeutische Grundhaltung sicherlich in vielen Aspekten ähnelt, liegt bei der Behandlung der Fokus bei Menschen auf dem Autismus-Spektrum mit zusätzlicher kognitiver Beeinträchtigung auf heilpädagogischer und ergotherapeutischer Arbeit sowie Elternberatung.
Rahmen- und Umgebungsbedingungen für die Therapie Kinder und Jugendliche mit ASS benötigen einen für sie sensorisch angenehmen Raum, um sich entspannen zu können. Die Licht- und Geräuschverhältnisse spielen mitunter eine bedeutsame Rolle und sollten, wenn möglich, angepasst werden. Aktiv mit den Kindern oder Jugendlichen anzusprechen, was im Raum unangenehm ist, kann helfen, das Vertrauen der Person zu gewinnen, fördert die Selbstwahrnehmung und hilft, Reizüberflutungen vorzubeugen.
1 Klinik für Kinder und Jugendliche der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPKKJ)
Eine regelmässige und möglichst gleichbleibende Terminvereinbarung ist stressreduzierend, zumindest sollten die Rahmenbedingungen klar strukturiert werden. Teilweise kann es auch sinnvoll sein, in Rücksprache mit dem Kind beziehungsweise Jugendlichen die Therapiezeit kürzer oder länger festzulegen als üblich. In der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, den Fokus auf die Entfaltung der Identität, was oft mit höherer Flexibilität und Verständnis für sich und die Umwelt einhergeht, und die Gestaltung der Umwelt zu legen.
Basisvariablen in der Psychotherapie Die in der Psychotherapie gültigen Vorstellungen der Grundbedürfnisse (Sicherheit, Orientierung im Alltag, Vermeiden von Unlust und Stress bzw. Lustgewinn, Bindungserleben und Selbstwerterhöhung) und Wirksamkeitsfaktoren (1) gelten auch für die Therapie mit neurodiversen Menschen. Im Zentrum der Therapie steht wie mit neurotypischen Personen das persönliche Wachstum, die Identitätsentwicklung und der Umgang mit Schwierigkeiten (2). Das Altersspektrum, die Ausprägung der ASS und die Persönlichkeitsvariablen beeinflussen die Therapiegestaltung. Menschen mit ASS erleben durch ihre andersartige Wahrnehmung und Art im Umgang mit der Umwelt in der Regel mehr Stress, Unsicherheit und Ausschluss als andere Menschen, was sich selbstwertvermindernd auswirken kann. Sie erschöpfen schneller, da sie sich mehr anpassen und bewusst orientieren müssen und brauchen deshalb mehr Erholungsräume im Alltag. Das Anpassungsbedürfnis erschwert die Identitätsfindung, was wiederum das Selbstbewusstsein und die Selbstwirksamkeit negativ beeinflusst. Fehlende Entspannung und wenig wohltuende Aktivitäten können einen Teufelskreis auslösen, da eine erhöhte Anspannung und Unausgeglichenheit zu einer verstärkten Reizsensitivität und Rückzugsverhalten führen kann. In der Therapie muss immer auch herausgearbeitet werden, welche Situationen Kraft kosten und in welchen Situationen Energie gewonnen wird (3). Dies kann gut bildlich dargestellt werden oder in eine Art Wochenplan eingebaut werden.
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Das Erleben von sozialem Ausschluss, was in der Schulzeit oft als Mobbing erfahren wird, kann sich auch noch später im Erwachsenenalter als hartnäckiger Schmerz und Selbstwert-mindernde Erfahrung niederschlagen. Das kann zu sozialem Rückzug, Misstrauen und in vielen Fällen zu rezidivierenden Zuständen von Depression, Isolation und Suizidalität führen. Menschen auf dem Autismus-Spektrum benötigen Freundschaften, suchen Bindung, auch wenn der Prozess des Bindungsaufbaus schwieriger ist. Die Angst vor Enttäuschung, die Unsicherheit, das Gegenüber richtig einzuschätzen und dessen Handlungsskript zu verstehen, hemmen Jugendliche und Erwachsene mit ASS in der Interaktion sowie im Aufbau von Freundschaften und Intimität. Bei Kindern ist diese Hemmung in der Regel weniger deutlich und wird stark durch Erfahrungen geprägt. Umso wichtiger ist es, schon früh in der Familie, der Schule und in der Therapie, die Kinder im Aufbau von freundschaftlichen Beziehungen zu unterstützen.
Wirkfaktoren und therapeutische Grundhaltung Die von Grawe genannten, schulenunabhängigen Wirkfaktoren der Psychotherapie gelten auch in der Therapie mit Kindern und Jugendlichen mit ASS.
Beziehungsaufbau Psychotherapie setzt immer an den Beziehungen im therapeutischen Setting und übertragend in der Familie und der Umwelt an. Schon im jüngsten Alter können autistische Kinder in diesem Setting mittels Spielinteraktionen, dem intensiven Erleben abgestimmter sozialer Interaktion mit ihren Eltern bzw. Bezugspersonen gefördert werden, wie das beispielsweise im systemischspieltherapeutisch orientierten intensiven Frühinterventionsansatz FIAS (Frühintervention bei autistischen Störungen) für Kleinkinder zwischen 2 und 4 Jahren und ihre Eltern geschieht (4). Bei Kindern, Jugendlichen, aber auch bei den Eltern ist der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung, die Vertrauen und Akzeptanz beinhaltet, sehr wichtig. Wie in der Psychotherapie mit neurotypischen Personen ist es in der Arbeit mit autistischen Kindern und Jugendlichen essenziell, sich neugierig und offen auf die individuelle Welt der Person einzulassen. Nicht wir, sondern der betroffene Mensch ist Spezialist für ASS, wir helfen eher als Brückenbauer zwischen Subjekt und Aussenwelt. Autistische Kinder und Jugendliche reagieren oft besonders empfindlich auf Irritationen oder Konflikte. Schon das Ansprechen, dass jemand zu spät in die Therapie kommt, kann als Vorwurf oder Wütend-Sein missverstanden werden. Umso mehr sind klare Kommunikation, sensibles Ansprechen von speziellen Verhaltensweisen und wie diese auf das Gegenüber wirken, unerlässlich. Bei guter Beziehung können heiklere Punkte gut angesprochen werden, kann sich das Kind bzw. der Jugendliche durch gezieltere Introspektion besser in der Wirkung nach aussen kennen lernen. So hat beispielsweise das Ansprechen auf die Tendenz, dass die Klientin die Therapeutin oft unterbricht, geholfen, dass diese sich in den nächsten Tagen auf dieses Phänomen konzentriert hat und daraus eine Verhaltensadaptation ableiten konnte. Autistische Menschen
geben in der Regel klare Rückmeldungen und sprechen Unzufriedenheit an, was die Einschätzung der therapeutischen Beziehung erleichtert. In diesem Zusammenhang sollten auch ASS-typische Kompetenzen wie Ehrlichkeit, Loyalität und Klarheit hervorgehoben werden.
Therapiemotivation Es ist wichtig, sich in der Therapie mit Kindern und Jugendlichen die individuellen Ansichten, Narrative und Herausforderungen ausführlich beschreiben zu lassen. Sie beschäftigen sich häufig mit Fragen und Details, die von neurotypischen Personen nicht bedacht oder nicht priorisiert werden. Ohne Klärung dieser Fragen kann es zu Missverständnissen kommen, was wiederum Verunsicherung auslösen kann. Bekommen die Kinder und Jugendliche mit ASS aber die Möglichkeit, ausführlich und auf ihre Art ihre Themen zu schildern (siehe Zitat im Titel), wird dies meist als selbstwertfördernde Erfahrung erlebt. Im Sinn der Ressourcenaktivierung bietet der therapeutische Zugang zum Kind oder zum Jugendlichen über die häufig vorhandenen Sonderinteressen eine Möglichkeit der Stärkung der therapeutischen Allianz und Motivationsbildung. So bietet es sich beispielsweise an, dass ein Kind einen Gegenstand in die Therapie mitbringt, der Teil des Sonderinteresses ist. Dieser Gegenstand kann beschrieben oder vorgeführt werden und dadurch in einem zu Beginn vielleicht verunsichernden Umfeld, das der therapeutische Raum durchaus darstellen kann, eine Kompetenz- oder Selbstwirksamkeitserfahrung darstellen. Zudem bieten sich Sonderinteressen als hilfreiche Brücke zur Besprechung von Alltagssituationen oder zur Beschreibung von emotionalen und/ oder sozialen Abläufen an. Themen wie Meteorologie, Mythologie oder Fahrzeuge verschiedenster Art liefern zahlreiche Möglichkeiten für massgeschneiderte Symbolbilder und für die symbolische Darstellung von sozialen und emotionalen Abläufen im Alltag. Die Intensität des Sonderinteressens kann das Defizit des metaphorischen und symbolischen Denkens bei einigen Kindern und Jugendlichen mit ASS zumindest teilweise kompensieren. Als Beispiel: Die 13-jährige S. hat als Sonderinteresse griechische Mythologie, in der zahlreiche familiäre oder freundschaftliche Beziehungen und Verstrickungen, Liebschaften, Verrat und Hintergehungen vorkommen. Diese sind, auf den realen Alltag bezogen, meist überspitzt und dramatisiert, bieten jedoch starke Symbolbilder und Vergleichsmöglichkeiten für Auslöser bestimmter Emotionen. Ähnlich lässt sich ein Sonderinteresse im technischen oder IT-Bereich nutzen, es erfordert dabei lediglich die Kreativität und das Wissen der Kinder und Jugendlichen. Je fortgeschrittener eine Therapie ist, desto weniger stehen Sonderinteressen im Zentrum und desto mehr werden zwischenmenschliche Erlebnisse, Sorgen, Ängste oder soziale Unsicherheiten thematisiert. Ressourcen aufzudecken und ins Zentrum zu stellen, wird oft als erleichternd und aufbauend erlebt. Menschen mit ASS müssen häufig darauf hingeführt werden, so dass sie ihre Fähigkeiten als Stärken einstufen und stolz darauf sind. Je mehr Selbstkonzept in der Therapie erarbeitet wurde, desto mehr werden eigene Ressourcen erkannt, gewürdigt und im Alltag genutzt.
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Problembewältigung Die Art und Weise der Problembewältigung weicht insgesamt wohl am meisten von der Therapie mit neurotypischen Menschen ab. Als Therapeut oder Therapeutin muss man sich der autistischen Wahrnehmung mit Konkretismus (Sprache im wörtlichen Sinne), Detailorientierung und anderem bewusst sein, um Reaktionen besser zu verstehen (5). Die Metapher des Adlers, der immer wieder in die Höhe fliegt, um Überblick zu erhalten, der bei Unklarheiten auch ins Detail gehen kann, nach unten fliegt, bewährt sich in allen Altersstufen. Rollenspiele, um sozial anspruchsvoll erlebte Situationen durchzuspielen, werden in der Regel als gewinnbringend erlebt. Einige Kinder mit ASS spielen spät, teilweise erst im Jugendalter, imaginär und können durch das Schlüpfen in Rollen Verhaltensweisen «ausprobieren» und Neues entdecken. Auch imaginäre Freunde oder innere Stimmen (innere Gespräche führen) können vorkommen. Dadurch werden Mentalisierungsprozesse, Impulsregulation, Perspektivwechsel und strategisches Denken in der Interaktion angeregt. Tagebucheinträge, Darstellung von eigenen inneren Anteilen durch Symbolkarten oder Spiele, Zeichnungen oder Mindmaps können hilfreich sein. Menschen mit ASS sind in der Regel gerne bereit, Hausaufgaben zu machen, was hilft, die in der Therapie aufgenommenen Impulse in den Alltag zu übertragen.
Dynamik in der therapeutischen Beziehung Die Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamik gestaltet sich bei autistischen Kindern- und Jugendlichen oft anders als bei neurotypischen Personen. So ist sie durch die konkretistische Denkweise- und besondere Beziehungsgestaltung vordergründig oft weniger intensiv und bedarf besonderer Aufmerksamkeit und Sensibilität. Häufig entstehende Dynamiken sind, dass die behandelnde Person in die Rolle des «Allwissenden» gerät, und die Kinder und Jugendlichen dazu geneigt sind, die eingebrachten Ideen in genau der vorgeschlagenen Weise umsetzen zu wollen. Diese Dynamik anzusprechen, scheint uns von grosser Bedeutung, um das Kind bzw. den Jugendlichen darin zu fördern, seinen individuellen Weg zu finden. Eine ebenfalls häufig auftretende Dynamik zeigt sich darin, dass Kinder und Jugendliche mit ASS im Vergleich zu neurotypischen Personen oft grosse Mühe haben, spontan Themen in die Therapie einzubringen. In der Gegenübertragung kann das Gefühl von Leere, Anspannung und Druck, Themen zu finden, entstehen. Bei autistischen Menschen ist es besonders in der Anfangsphase wichtig, diesem Gefühl nachzugeben und gemeinsam nach Spielideen oder Gesprächsthemen zu suchen. Autistische Kinder- und Jugendliche drücken sich weniger über das freie Symbolspiel, Zeichnungen oder projektive Verfahren aus. Dies im Gegensatz zu neurotypischen Gleichaltrigen, bei denen oft gerade durch diese Methoden schnell eine Beziehung aufgebaut werden kann. Diese Dynamik ist nicht im Sinne einer Abwehr zu verstehen, sondern als eine andere Art zu kommunizieren und innerpsychische Prozesse auszudrücken, welche nicht verändert werden sollen. So sind auch «Deutungen» von Symptomen, die explizit in Zusammenhang mit dem Autismus stehen (Reizüberflutung, stereotypes Spiel usw.) oft wenig zielführend.
Wir möchten an dieser Stelle aber betonen, dass es bei autistischen Kindern besonders wichtig ist, genau zu verstehen, was ein Kind mit seinen Verhaltensauffälligkeiten ausdrückt bzw. was es wütend oder traurig macht. Da autistische Kinder unter Schwierigkeiten leiden, innerpsychische Prozesse bei sich selbst und bei anderen Personen zu verstehen und in Worte zu fassen, ist es von besonderer Bedeutung, mit dem Kind zusammen ein Verständnis für seine Gefühlswelt zu erarbeiten und es gezielt in seiner Mentalisierungsfähigkeit zu fördern (6).
Einbezug von Eltern beziehungsweise Bezugspersonen Bei jüngeren Kindern stellen die Eltern im Alltag der Kinder eine Brücke zur Aussenwelt dar, die wir bewusst nutzen. Sie sind häufig «Experten» und haben ihr Kind auch vor der Diagnosestellung angemessen gefördert und unterstützt. Der Einbezug in die Therapie ist in der Regel fruchtbar und kann die therapeutische Beziehung stärken. Bei älteren Jugendlichen treten die Eltern immer weiter in den Hintergrund, sie können aber bei Bedarf auch neue Themen einbringen und helfen, eine gute Problemaktualisierung zu gestalten. Die Eltern von autistischen Kindern- und Jugendlichen spüren oft schon früh, dass bei ihrem Kind etwas «anders» ist. Der Prozess, bis die Diagnose vollständig akzeptiert werden kann, ist für viele Eltern dennoch lang. Wir erachten es als wichtig, den Eltern Raum zu bieten, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie es für sie ist, ein autistisches Kind zu haben und was ihre Sorgen sind. So ist es für viele Eltern schwierig, da das Kind wenig von sich erzählt, und der Alltag mit einem autistischen Kind kann sehr herausfordernd sein. Zusätzlich machen sich die Eltern oft Sorgen, was die Zukunft ihres Kindes betrifft: Wird es ein eigenständiges Leben führen können und erfüllende Freundschaften haben? Wird es im Berufsleben Fuss fassen? Häufig berichten Eltern auch, dass sie sich im Alltag exponiert fühlen. So sieht man autistischen Kindern ihre andere Wahrnehmung nicht an, ihr Verhalten kann jedoch zu Irritationen führen. Wir erachten es als hilfreich, mit den Eltern offen über diese Themen zu sprechen und sie in ihrer Elternrolle sowie ihrer Selbstwirksamkeit zu stärken. Eltern in ihrer eigenen Stresswahrnehmung und im Umgang mit Anspannung zu sensibilisieren und den Impact auf die Kinder zu verdeutlichen, ist sinnvoll. Die feine Wahrnehmung der betroffenen Kinder, die Anspannungen aus der Umwelt aufnehmen (gute emotionale Empathie), jedoch häufig nicht in einen Erklärungs- und Reaktionskontext setzen können (eingeschränkte kognitive Empathie), führt zu Spannung. Je gelassener und authentischer die Bezugspersonen bleiben, desto entspannter schwingen die Kinder mit und desto einfacher gestaltet sich für sie das Lesen des Gegenübers. Im Wissen, dass diese Dynamik auf beide Seiten wirkt, das heisst, auch den Bezugspersonen mehr Möglichkeiten bietet, das Kind in seiner Befindlichkeit zu erfassen, lohnt es sich, Eltern sowie weitere Bezugspersonen darauf anzusprechen und bei vorhandener Offenheit entsprechend anzuleiten (7).
Psychotherapie und Autismus? Die Psychoedukation der Betroffenen und des Umfeldes, der gemeinsame Weg des Verstehens und das
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Wagen von gezielter Anpassung, aber auch das Aushalten und Schätzen von Anderssein, das alles sind Etappen im Verlauf der Psychotherapie, die sich mehr auf Selbstentdecken als auf bewusstes Lernen beziehen. Psychotherapie stellt ergänzend zu den etablierten pädagogischen und medizinischen Massnahmen wie Ergotherapie, Logopädie oder Heilpädagogik einen wichtigen Teil der Unterstützung von ASS-Betroffenen dar und kann so einen Beitrag zur psychischen Gesundheit leisten (8). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich die psychotherapeutische Arbeit mit autistischen Kindern und Jugendlichen nicht wesentlich von der Behandlung von neurotypischen Personen unterscheidet. Ist man bereit, sich auf die individuelle Wahrnehmung der Welt des Kindes einzulassen, so ist der wichtigste Grundstein zur Behandlung von autistischen Menschen gelegt. l
Korrespondenzadresse: Charlotte Gwerder, lic. phil. Fachpsychologin Psychotherapie und Kinder/
Jugendpsychologie FSP Klinik für Kinder und Jugendliche der Universitären
Psychiatrischen Kliniken Basel (UPKKJ) Kornhausgasse 7 4051 Basel
E-Mail: Charlotte.Gwerder@upk.ch
Merkpunkte:
● Authentisches Auftreten und wertschätzende Grundhaltung ● Umgang mit spezifischer Wahrnehmung und Eigenheit ● Anfangs weniger offene, sondern klar strukturierte Fragen ● Spezialinteressen als Ressourcen nutzen ● Mögliche Missverständnisse aufdecken, nachfragen ● Gemeinsame Begriffsklärung ● Einbezug der Eltern oft sehr wichtig ● Während Therapieverlauf Fortschritte aufzeigen ● Potenzielle Mobbingerfahrungen beachten, erfragen. Cave: Oft sind schwere
und prägende Erlebnisse vorhanden. ● Beachte Komorbiditäten (Angst, Depression, Zwänge u. a.), inklusive potenzi-
elle Medikation ● Entspannung und Körperwahrnehmung miteinbeziehen
Referenzen: 1. Grawe K et al.: Psychotherapie im Wandel. 2001, Hogrefe. 2. Dziobek I et al.: Hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen, ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Manual.
2019, Kohlhammer. 3. Tebartz van Elst L: Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter. 2021, Medizinisch Wissenschaftliche
Verlagsgesellschaft. 4. Herbrecht E et al.: Become related: FIAS, an intensive early intervention for young children with autism
spectrum disorders. Psychopathology. 2015; 48:162-172. 5. Attwood T: Das Asperger-Syndrom. Das erfolgreiche Praxis-Handbuch für Eltern und Therapeuten. 2022, Trias. 6. Cook J: Der Guide für Jugendliche mit Asperger-Syndrom. Die geheimen sozialen Regeln verstehen und mit
anderen besser klarkommen. 2023, Trias. 7. Gibbs V: Self-Regulation and Mindfulness: Over 82 Exercises & Worksheets for Sensory Processing Disorder,
ADHD, & Autism Spectrum Disorder. 2017, PESI Publishing and Media. 8. Bromfield R: Doing Therapy with children and Adolescents with Asperger Syndrome. 2010, Wiley.
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