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FORTBILDUNG
Herausforderung Autismus-Spektrum-Störung im Erwachsenenalter
Umgang und Unterstützung
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Verena Jaggi
Der Umgang mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) stellt auch im Erwachsenenalter eine besondere Herausforderung dar. Die Kernsymptome mit anhaltenden Defiziten in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmustern, Interessen und Aktivitäten und die oft vorkommenden Komorbiditäten können an sich belasten und das Wohlbefinden beeinträchtigen. Zudem kann die Diagnose und deren Folgen die soziale Integration und die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben erschweren. Gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die soziale Inklusion ermöglichen und angepasste Unterstützungsangebote zur Verfügung stellen, kommt eine wesentliche Rolle zu, wie auf individueller Ebene mit der Herausforderung Autismus umgegangen werden kann. Zunehmend steigt auch das Bewusstsein, dass einige autistische Merkmale je nach Kontext als Stärken und Ressourcen genutzt und gewinnbringend in das eigene Leben sowie gesamtgesellschaftlich eingebracht werden können.
von Verena Jaggi
Behandlung von ASS im Erwachsenenalter Aufgrund der sozialen Wahrnehmungsschwäche, welche die Orientierung in ungewohnten sozialen Situationen erschwert, und der sensorischen Sensibilität besteht ein hohes Risiko, dass Menschen mit ASS auch medizinisch-therapeutische Kontexte als angsteinflössend, unangenehm und überfordernd erleben. Mit der Gestaltung autismusfreundlicher Rahmenbedingungen kann wesentlich dazu beigetragen werden, dass sich Menschen mit ASS auf die Behandlung einlassen und davon profitieren können. Diese Rahmenbedingungen werden optimalerweise nicht nur im psychiatrisch-psychotherapeutischen Setting, sondern auch in der hausärztlichen Behandlung und anderen Behandlungs- und Unterstützungssettings wie Wohninstitutionen und arbeitsbezogenen Integrationsstellen beachtet. Die wichtigsten Gestaltungsmöglichkeiten werden in Kasten 1 benannt.
Psychotherapie bei ASS Gemäss aktuellen klinischen Leitlinien (1) ist übergeordnetes Therapieziel die Verbesserung der Lebensqualität und der Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit ASS. Es sollen Verbesserungen autistischer Kernsymptome erzielt werden. Neben der autistischen Kernsymptomatik sollen psychische und somatische komorbide Erkrankungen nach Diagnosestellung zeitnah behandelt werden. Erwachsene mit einer ASS stufen folgende Therapieziele als wichtig oder sehr wichtig ein: Stressbewältigung, soziale Kompetenz und Identitätsfindung (2). Die Akzeptanz der ASS bzw. die autistischen Merkmale in die eigene Identität zu integrieren, ist oft von besonderer
Wichtigkeit in der Psychotherapie im gesamten Verlauf. Aufgrund dessen können Betroffene Belastungsgrenzen neu definieren und adäquate Erwartungen an sich entwickeln. Es können dann (mit allfälliger Unterstützung) Bemühungen unternommen werden, das Umfeld gemäss den eigenen Bedürfnissen zu gestalten und sich passende Nischen zu suchen. Einige Betroffene, insbesondere spät (im Erwachsenenalter) diagnostizierte oder weibliche Personen, haben ein Muster zum Verbergen und Kompensieren der autismustypischen Merkmale entwickelt (3). Wenngleich dieses Muster der Funktionsfähigkeit im Alltag und der sozialen Akzeptanz zuträglich sein kann, sind viele Verläufe bekannt, die längerfristig in psychische Erschöpfung und Belastung münden (4). Somit muss individuell erarbeitet werden, inwieweit und in welchen Kontexten Anpassung oder Akzeptanz resp. Offenlegung der autismustypischen Merkmale zuträglicher für das langfristige Wohlbefinden sind. Bei der Integration der ASS in das Selbstbild können der Besuch einer Selbsthilfegruppe sowie Selbsthilfe mittels Medien betreffend Autismus neben der Psychotherapie eine wichtige Rolle spielen. Bei der Behandlung der autistischen Kernsymptome erbringt die aktuelle Evidenzlage (1) eine Empfehlung für das Training sozialer Interaktion mittels einer manualisierten, wissenschaftlich erprobten Gruppentherapie. Sollte diese nicht umsetzbar sein, können gewisse Fertigkeiten auch in der Einzeltherapie vermittelt werden. Inhalte solcher Gruppenprogramme (5) sind das Training der Wahrnehmung nonverbaler sozialer Signale, Training der Perspektivübernahmefähigkeit, Vermittlung sozialer Regeln sowie Übung von kompetentem Sozialverhalten. Damit können Betroffene bewusste Kompensationsstrategien erwerben, die sie vor allem in
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planbaren, vorhersehbaren Situationen anwenden können. Normalerweise erfordert Sozialkontakt dadurch nach wie vor Konzentration und die bewusste Nutzung von Regeln, wodurch er anstrengender und unflexibler bleibt. Weitere autismusspezifische psychotherapeutische Interventionen fokussieren auf die Verbesserung der Stress- und Emotionsregulation. Dabei geht es um das Training der Wahrnehmung von Gefühlen, um das Erkennen von Überlastungsgrenzen sowie um die Anwendung von spezifischen Regulationsskills und Reizschutzmassnahmen. Auch angepasste Achtsamkeitsund Meditationstechniken kommen zum Einsatz (6). Mittels kognitiver Verhaltenstherapie werden biografisch entstandene dysfunktionale Grundannahmen, die auch bei ASS häufig vorkommen, bearbeitet (7). Zudem können exekutive (Selbstregulations-)Fähigkeiten wie Priorisieren, Problemlösen, Umgang mit Veränderungen usw. gezielt trainiert werden. Die aktuelle empirische Evidenz für die Anwendung einzelpsychotherapeutischer Massnahmen ist noch nicht ausreichend, es gibt aber deutliche Hinweise darauf, dass sich autistische und komorbide affektive und angstbezogene Symptome bei ASS durch sie reduzieren lassen (8). Bei der Behandlung komorbider Diagnosen wie affektiver Störungen, Angststörungen, Essstörungen usw. im Fall von ASS als Basisdiagnose werden u. a. folgende Adaptionen empfohlen: höheres Ausmass von Klarheit und Strukturierung, langsameres Tempo, Gebrauch von Visualisierungen, Einbezug der speziellen Interessen, Anpassung des Kommunikationsstils, Fokus mehr auf Verhaltensänderung als kognitive Bearbeitung, verstärkter Einbezug des Umfelds und verstärkter Fokus auf die Entwicklung des emotionalen Bewusstseins (9). Kasten 2 gibt einen Überblick zur medikamentösen Therapie bei ASS.
Umgang mit ASS im Erwachsenenalter Studien zur Lebensqualität bei Erwachsenen mit ASS ergeben eine durchschnittlich reduzierte Lebensqualität gegenüber neurotypischen Menschen (10), gleichzeitig findet sich jedoch auch ein signifikanter Anteil von Autisten ohne reduzierte Lebensqualität (11, 12). Die Lebensqualität scheint durch das Vorhandensein von Gesundheitsproblemen und durch die Ausprägung autistischer Symptome beeinträchtigt zu werden, während die Einbindung in eine Beziehung oder in eine berufliche Tätigkeit (13) sowie das soziale Funktionsniveau (14) wesentliche Prädiktoren für Wohlbefinden darstellen. Neben den beschriebenen Behandlungsmassnahmen, die Autisten unterstützen können, ihre Lebensqualität und Teilhabemöglichkeiten zu verbessern, existieren unterdessen in der Schweiz vielfältige angepasste Unterstützungsangebote für die Bereiche Wohnen, Ausbildung und Beruf sowie soziale Beziehungen.
Wohnen Auf Autismus spezialisierte Wohncoachs können beim Training von Fertigkeiten im Haushalt, der Organisation des Auszugs, der Administration und der Tagesstrukturierung intensive praktische Hilfe bieten. Zur Förderung der Alltagsfertigkeiten kann eine Ergotherapie in Anspruch genommen werden. Insbesondere auch bei Vor-
Fallbeispiel
Der 29 Jahre alte Patient A. erhielt die Diagnose einer ASS im Jugendalter. Nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit wurde er durch die IV im Absolvieren einer Erstausbildung und im Berufseinstieg unterstützt. Im Hitzesommer litt Herr A. zunehmend unter Ruhestörung durch seine Nachbarn, gleichzeitig fiel am Arbeitsplatz eine vertrauensvolle Bezugsperson durch Umstrukturierung weg. Ein Tränenausbruch beim Arbeitsplatz, Schlafstörungen und Suizidgedanken liessen ihn erstmals psychotherapeutische Unterstützung suchen. Neben den genannten akuten Belastungsfaktoren wurden bei Herrn A. als zusätzliche Problembereiche die mangelnde Akzeptanz der Autismus-Spektrum-Störung (ASS), ein tiefer Selbstwert und unzureichende soziale Integration mit häufigem Erleben von Einsamkeit identifiziert. Inhalt der darauf folgenden Psychotherapie waren Psychoedukation bezüglich ASS, Verbesserung der Selbstakzeptanz und Bewältigung der Depression mit autismusangepasstem Vorgehen. Zudem wurde er medikamentös antidepressiv und mit Melatonin unterstützt. Durch die Wiederanmeldung bei der IV erhielt Herr A. ein Jobcoaching, mithilfe dessen seine Arbeitsstelle besser an seine Bedürfnisse angepasst werden konnte. Zusätzlich wurde Herr A. unterstützt, an einer Freizeitgruppe für Autisten teilzunehmen und ein Hobby im Gruppenkontext wiederaufzunehmen. Die dadurch gebotenen Gelegenheiten für soziale Interaktion verminderten die Einsamkeit bei Herrn A. und konnten psychotherapeutisch zum Training sozialer Kompetenzen genutzt werden.
Kasten 1:
Gestaltungsmöglichkeiten für autismusangepasstes Setting
● Setting reizarm gestalten: wenig Störgeräusche (tickende Uhren, surrende Ventilatoren, Verkehrslärm usw.), Vermeidung starker Gerüche (u. a. Chemikalien, Parfums), möglichst indirekte Lichtquellen sowie Reduktion visueller Stimuli (Dekoration, Farben und Muster), ruhiges und eher leises Sprechen, Vermeidung plötzlicher Bewegungen.
● Reduktion des Körperkontakts: Verzicht auf Händeschütteln, Anbieten von genügend Körperdistanz durch verschiedene unterschiedliche Sitzmöglichkeiten).
● Transparente und explizite Kommunikation von ungeschriebenen Regeln, Vorgehensweisen und Zielen: explizites Ansprechen von Regeln betreffend Terminvergabe, Wartezeit, Erklärung der Rolle von Patient und Behandler, Erklärung der Behandlungsrationale.
● Anbieten einer festen Struktur, Regelmässigkeit und Vorhersehbarkeit: regelmässige Sitzungen zu festem Zeitpunkt, Ankündigung der Themen im Voraus, allenfalls Ritualisierung des Sitzungsablaufs.
● Klare Sprache mit Vermeidung uneindeutiger Ausdrücke, Andeutungen, Ironie und Metaphern, da diese von Autisten nicht oder falsch verstanden werden können.
● Eher didaktischer Sprachstil als sokratische Gesprächsführung, da Erschliessen verdeckter Absichten oft als übermässig anstrengend erlebt wird.
● Arbeitstempo verlangsamen zugunsten höherer Genauigkeit. ● Bei verminderter Imagination reale Beispiele nutzen, Denkanstösse mittels
Arbeitsblätter und Auswahlmöglichkeiten bieten. ● Stützung exekutiver Funktionen durch klare Struktur, gemeinsamer Priorisie-
rung, Nutzung von Erinnerungshilfen usw. ● Nutzung von schriftlichen Kommunikationsformen neben Gespräch, da sich
viele Menschen mit ASS besser schriftlich als mündlich ausdrücken können bzw. es schätzen, Gedanken/Fragen im Nachhinein in die Behandlung einbringen zu können.
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Kasten 2:
Überblick über die medikamentöse Therapie bei ASS
● Es besteht keine kausale medikamentöse Therapie für die Kernsymptomatik. ● Komorbide Störungen wie Depression, Angst usw. werden entsprechend der
jeweiligen Richtlinien behandelt. ● Bei komorbider ADHS-Symptomatik ist die Verabreichung von Stimulanzien
empfohlen. ● Gegen Einzelsymptome wie Irritabilität, aggressives Verhalten und emotionale
Dysregulation empfiehlt sich die Gabe von atypischen Antipsychotika (insbesondere Risperidon und Aripiprazol). ● Bei Schlafstörungen ist mit Melatonin-Präparaten häufig eine gute Wirksamkeit zu erreichen.
Quelle: Hirota T et al.: Autism spectrum disorder: A review. JAMA 2023;329(2):157-168.
handensein von psychiatrischen Komorbiditäten kann der Einsatz einer ambulanten psychiatrischen Pflege indiziert sein. Bei Bezug einer Hilflosenentschädigung durch die Invalidenversicherung (IV) kann eine Assistenzperson eingestellt werden, welcher bestimmte praktische Aufgaben wie Begleitung beim Einkaufen oder Haushaltstätigkeiten übertragen werden können. Bei stärkerem Unterstützungsbedarf stehen begleitete und betreute Wohnformen, zum Teil auch autismusspezifisch, für den Übergang oder auch längerfristig zur Verfügung.
Ausbildung und Beruf Eine Untersuchung betreffend Ausbildungssituation bei Menschen mit Autismus in der Schweiz (15) ergibt, dass der Anteil an Personen, die im Alter von 20 Jahren einen Abschluss auf der Sekundarstufe II erreicht haben oder einen solchen Abschluss noch erreichen können, nur bei knapp 50% liegt. Im Vergleich dazu liegt die übliche Quote gemäss Bundesamt für Statistik (2018) bei 70%. Ein grosser Anteil der Betroffenen findet nach der obligatorischen Schulzeit keinen Anschluss, und es kommt zu Abbrüchen in der beruflichen Grundausbildung oder der allgemeinbildenden Schule. Mit Einstieg in die Berufsausbildung zeigen sich unter anderem Schwierigkeiten in den sozialen Interaktionen wie Unverständnis, Isolation und Mobbing, Kommunikationsprobleme mit Lehrpersonen oder betrieblichen Verantwortlichen, Reizüberflutung in der Schule, im Betrieb oder auf dem Arbeitsweg, Schwierigkeiten, mit wechselnden Settings und Abläufen umzugehen sowie Angst vor Stigmatisierung und mangelndes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Bei Studenten mit ASS werden Barrieren, Lehrpersonen und Mitstudenten anzusprechen, Reizempfindlichkeit und Stressregulation, ausserdem Schwierigkeiten im Bereich exekutiver Funktionen wie Priorisierung, Einhalten von Fristen und Umgang mit Veränderung als relevanteste Problembereiche genannt (16). Ein wichtiges Instrument, um behinderungsbedingte Nachteile in der Ausbildung auszugleichen, ist der gesetzlich verankerte Nachteilsausgleich (Art. 8 Abs. 2 BV). Es handelt sich um Modifikationen des Lern-/Ausbildungsprozesses und/oder der Prüfungen. Dabei dürfen eigentliche Lernziele der Ausbildung nicht verfälscht werden. Für die Gewährung sind in der Berufsbildung
das kantonale Berufsbildungsamt und in den Gymnasien, Fachmittel- und Hochschulen die entsprechende Bildungsinstitution zuständig, bei welchen ein Antrag auf spezifische Massnahmen mit Beilage eines Arztzeugnisses gestellt werden können. Häufige Nachteilsausgleichsmassnahmen bei Autismus-Spektrum-Störungen sind: Studienzeitverlängerung, Verlängerung der Prüfungszeit, individuelle Pausen, die nicht an die Prüfungszeit angerechnet werden, Reservation eines geeigneten Sitzplatzes, Rückzugsmöglichkeiten in den Pausen, separater ruhiger Raum für Prüfungen, schriftliche, statt mündliche Prüfungen und technische Hilfsmittel wie Kopfhörer zur Reizabschirmung. Als junge Erwachsene mit einer gesundheitlichen Einschränkung, die sich in der Regel auf die Berufswahl oder Ausbildungsfähigkeit auswirkt, haben Betroffene auch Anspruch auf Unterstützung durch die IV in der erstmaligen beruflichen Ausbildung. Die Massnahmen beinhalten die Unterstützung bei der Berufswahl unter Berücksichtigung individueller Fähigkeiten, Interessen und Neigungen sowie gesundheitlichen Einschränkungen beispielsweise mittels Berufsberatung. Sehr oft wird zudem ein Coaching von auf ASS spezialisierten Anbietern angemeldet. Ausbildungs- und Jobcoaching bietet vielfältige Möglichkeiten, bedarfsorientiert und individuell angepasst bei der Suche und dem Absolvieren einer Ausbildung bzw. im Beruf zu unterstützen. Dies beispielsweise durch Hilfe beim Schreiben der Bewerbung, Hilfe bei der Erstellung eines Überblicks über Ausbildungs- und Stellenangebote, Vorbereitung von Bewerbungsgesprächen, Beratung zur Umsetzung des Nachteilsausgleichs, Vermittlung zwischen Lehrern bzw. Arbeitgebern und Betroffenen, Hilfe bei der Umsetzung individueller Anpassungen am Arbeitsplatz. Viele autismustypische Merkmale können in Arbeitskontexten bedeutsame Ressourcen darstellen. Dazu zählen Spezialinteressewissen, Loyalität, Verlässlichkeit, Sachorientierung, Genauigkeit, Ehrlichkeit, ungewöhnliche Perspektiveneinnahme und wenig Abneigung gegenüber Routinetätigkeiten. Firmen wie Specialisterne und in der Schweiz Auticon und twofold haben sich zur Aufgabe gemacht, Autisten an Betriebe, die dieses Profil bei Mitarbeitern suchen, zu vermitteln. Leider zeigen die Resultate einer deutschen Untersuchung eine noch unzureichende berufliche Integration bei hochfunktionalen Autisten. Trotz guter Bildungserfolge (50% allg. Hochschulreife, 39% abgeschlossenes Hochschulstudium) ist die Beschäftigungsrate tief (58% nicht berufstätig) (17). Individuelle Merkmale bei Menschen mit ASS, welche die Berufsausübung erschweren können, sind Einschränkungen der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, der sozialen Kompetenz, der Stresstoleranz und Reiztoleranz, was bei der Berufswahl, der Gestaltung des Arbeitsplatzes und der Bestimmung eines zumutbaren Arbeitspensums berücksichtigt werden muss. Bei Bedarf für eine Ausbildung im geschützten Rahmen existieren auch autismusspezifische Angebote, wie beispielsweise die von Autismuslink im Kanton Bern. Für Menschen auf dem gesamten autistischen Spektrum werden bei deutlicher Einschränkung der funktionellen Leistungsfähigkeit Renten und Teilrenten ausgesprochen. Oft ist es für Betroffene notwendig, mehr Erholungszeit zur Verfügung zu haben, da die Erschöpfbarkeit infolge sozialer Wahrnehmungsschwäche und Reizempfindlichkeit er-
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höht ist. Betroffene benötigen genügend Zeit, um den Alltag mit eigenen Routinen, Ritualen und Interessen zu gestalten, um sich ausreichend entspannen zu können. Für die gesellschaftliche Teilhabe in der Freizeit müssen Autisten meist mehr Energie und Zeit investieren, was ebenfalls berücksichtigt werden muss.
Freundschaften und Beziehungen
Kanner (18) beschrieb in seinen frühen Studien, dass
Autisten das Alleinsein bevorzugen. Aktuelle Studien er-
geben stattdessen, dass sich die meisten Menschen mit
ASS soziale Verbundenheit wünschen, auch wenn häu-
fig Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion auftreten
(19). Dazu gehören beispielsweise die verminderte Fä-
higkeit, soziale Signale zu lesen, verminderte sozi-
al-emotionale Reziprozität, verminderter emotionaler
Ausdruck, reduzierter Blickkontakt, Defizite im Bereich
der kognitiven Empathie bzw. Perspektivenübernahme,
Schwierigkeiten, Gesichter wiederzuerkennen, Gesprä-
che in reizintensiven Umgebungen zu verfolgen bzw.
herauszufiltern. Studien ergeben, dass autistische Men-
schen weniger Freundschaften haben und die Freund-
schaftsqualität reduziert ist. Gleichwohl scheinen sich
die meisten Autisten freundschaftlichen Kontakt zu
wünschen und auch vermehrt unter Einsamkeit zu lei-
den (20). Eine Studie aus Deutschland ergibt zudem bei
93% der Betroffenen mit hochfunktionalem Autismus
einen Partnerschaftswunsch und bei 73% Partner-
schaftserfahrungen. Individuen mit ASS waren signifi-
kant zufriedener mit einem autistischen statt mit einem
neurotypischen Partner oder Partnerin (21).
Zur Erleichterung sozialer Kontaktaufnahme haben sich
Freizeitgruppen/spezielle Freizeitangebote für Men-
schen mit ASS bewährt. Im Rahmen der oben erwähn-
ten sozialen Kompetenztrainings für Menschen mit ASS
können zudem die sozialen und kommunikativen Fä-
higkeiten bei Menschen mit Autismus gezielt trainiert
werden.
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Korrespondenzadresse: Lic. phil. Verena Jaggi
Eidg. anerkannte Psychotherapeutin Fachpsychologin für Psychotherapie FSP
Postgasse 44 3011 Bern
E-Mail: verena.jaggi@hin.ch
Referenzen: 1. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen
Fachgesellschaften e. V. Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Teil 2: Therapie; 2021 2. Gawronski A et al.: Erwartungen an eine Psychotherapie von hochfunktionalen erwachsenen Personen mit einer AutismusSpektrum-Störung. Fortschr Neurol Psychiatr 2011;79(11):647-654. 3. Holliday Willey L: Pretending to be normal. Living with Asperger’s syndrome. Jessica Kingsley Publishers 2014.
Merkpunkte:
● Die Gestaltung eines autismusangepassten Settings ist wesentlich, damit Autisten sich auf eine Behandlung einlassen und davon profitieren können.
● Die Behandlung hat zum Ziel, die Lebensqualität und Integration der Betroffenen zu verbessern.
● Psychotherapie bei ASS dient der Psychoedukation und Akzeptanz der Diagnose, Verbesserung der autistischen Kernsymptomatik und der Behandlung von Komorbiditäten mit Adaptation der Vorgehensweise an die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit ASS.
● Autisten benötigen im Wohn-, Ausbildungs- und Arbeitssetting häufig verschiedene autismusspezifische Unterstützungsmassnahmen. Diese sollen gut koordiniert genutzt werden und darauf abzielen, für die Betroffenen passende Nischen zu finden und zu gestalten.
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