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KONGRESS AKTUELL
ECTRIMS
Neues zur Behandlung der MS und NMOSD
Für die Behandlung der Multiplen Sklerose empfehlen die Guidelines eine Stufentherapie. Doch zeigten Studien am Jahreskongress des European Committee for the Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS), dass die Behinderungsprogression über die Jahre auf tieferem Niveau verläuft, wenn die Behandlung mit einer hocheffektiven Therapie begonnen wird. Dies und Fragen zu Therapieaus- und Umstieg beleuchtete Prof. Gereon Nelles, Köln, in seiner PostECTRIMS-Kongresszusammenfassung.
D erzeit fusst die Strategie der Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) darauf, die Therapie auf die Krankheitsaktivität abzustimmen. Gemäss Leitlinie sind Substanzen der Wirksamkeitskategorie 1 (Beta-Interferone, Fumarate, Glatirameroide, Teriflunomid) indiziert, sofern kein wahrscheinlich hochaktiver Verlauf vorliegt. Substanzen der Wirksamkeitskategorie 2 (Cladribin, S1P-Rezeptor Modulatoren Fingolimod, Ozamimod, Ponesimod) und 3 (Alemtuzumab, CD20-Antikörper Ocrelizumab, Rituximab (off-label), Ofatumumab, Ublituximab und Natalizumab) sind bei therapienaiven Betroffenen empfohlen, wenn ein wahrscheinlich hochaktiver Verlauf vorliegt (1). Von einem hochaktiven Verlauf ist auszugehen, wenn ein Schub zu einem schweren alltagsrelevanten Defizit führt, sich der Patient von den ersten beiden Schüben schlecht erholt, eine hohe Schubfrequenz besteht, bei einer EDSS ≥ 3 im ersten Jahr oder bei einer Pyramidenbahnbeteiligung oder einem typischen MRT-Befund (≥ KM+-Läsionen, hohe T2-Läsionslast) (1). Das Befolgen dieser Strategie bedeute aber, dass man der Krankheitsentwicklung eigentlich immer etwas hinterherhinke, so Nelles. Ziel einer MS-Therapie sollte sein, die Patienten möglichst in einem frühen Stadium zu stabilisieren.
Früh stabilisieren Die wirksamsten Therapeutika zeigen laut eines systematischen Reviews eine jährliche Schubrate bis 0,28, das heisst 1 Schub in 3 bis 4 Jahren. Bei einem aktiven Krankheitsverlauf über 3 bis 4 Jahrzehnte bedeutet dies 7 bis 10 Schübe (2). Wenn man die Patienten im Stadium der «early MS» damit stabilisieren kann, komme man einer Heilung relativ nahe, so Nelles. Doch werfe dies die Frage auf, wie die The-
rapie im langen Krankheitsverlauf weitergehen kann, wenn bereits zu Beginn mit hocheffektiven Substanzen behandelt würde. Dazu wurde am ECTRIMS-Kongress eine italienische Registerstudie mit 4878 Patienten mit schubförmig remittierender MS präsentiert (3), in der der Krankheitsverlauf über 10 Jahre unter einer Behandlung mit hoch effektiven krankheitsmodifizierenden Medikamenten (S1P-Modulatoren, Natalizumab) von Beginn an (early intensive treatment) vs. einer erst verspätet eskalierenden Therapie mit hoch effektiven Substanzen (ESC) verglichen wurde. Es zeigte sich, dass die Behinderungsprogression, gemessen anhand der EDSS (Expanded Disability Status Scale), unter der intensiven Therapie über die Zeit auf signifikant tieferem Niveau verlief als unter der erst später eskalierten Therapie. Eine früh einsetzende intensive Therapie zeigt demnach Vorteile, so Nelles. Unter einer Langzeittherapie mit Natalizumab besteht ein Risiko für die Entwicklung einer virusbedingten (JC-Virus) progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML), was in diesem Fall zur Beendigung Therapie mit Natalizumab zwingt. Das Zeitfenster von 8 Wochen bis zur Anschlusstherapie sollte dabei nicht überschritten werden, weil die Krankheitsaktivität danach wieder zunehmen kann, so Nelles. Welche Optionen bestehen? Erhalten die Patienten im Anschluss eine Plattformtherapie, das heisst eine niedrigwirksame Therapie, beginnt die Krankheitsaktivität nach 12 bis 16 Monaten wieder zuzunehmen. Folgen im Anschluss an Natalizumab ähnlich hochwirksame Therapien wie z. B. Ocrelizumab, kann die Krankheitsaktivität tief gehalten werden (4), wie Nelles von einer am Kongress gezeigten Untersuchung berichtete. Das führe zur nächsten Frage, nämlich, ob die Immun-
therapie mit der Zeit beendet werden kann. Denn mit zunehmenden Behandlungsjahren steige auch das Infektrisiko an. Was nach Therapieende passiert, hängt gemäss einer italienischen Untersuchung von verschiedenen Faktoren ab: Ab einem Alter > 60 Jahren nimmt das Risiko für eine erneute Krankheitsreaktivierung ab, dies ebenso, je länger die Patienten mit einer krankheitsmodifizierenden Therapie behandelt wurden (10 Jahre) und je länger die Patienten vorher stabil waren (8 Jahre), wie Nelles berichtet. Die idealen Patienten für einen Stopp der Immuntherapie seien demnach ein bisschen älter, lange behandelt worden und seit langem stabil. Denn jüngere Patienten (18 Jahre), die nach 5-jähriger Krankheitsstabilität die Therapie abgesetzt haben, zeigten in einer anderen Studie eine Rückfallrate von etwa einem Viertel, was zu einem vorzeitigen Abbruch der Studie geführt hat.
Neuromyelitis optica Bei einer 33-jährigen Lehrerin wurde 2013 eine Sehnervenentzündung (Neuritis nervi optici, NNO) diagnostiziert. Sie sprach schlecht auf Kortison an, die Rückbildung der Entzündung nahm 6 Monate in Anspruch und erfolgte unvollständig. 2 Jahre später entzündete sich der Sehnerv (NNO) am anderen Auge. Sie sprach diesmal rasch auf die Kortisonbehandlung an, die Rückbildung war jedoch unvollständig. Das Magnetresonanztomogramm (MRT) des Gehirns zeigte keine Entzündung. Vieles deutete darauf hin (T2-Läsion im Bereich der Halswirbel), dass es sich dabei um eine Neuromyelitis-optica-Spektrumerkrankung handeln könnte. Bei einer solchen Symptomkonstellation sollte man an eine NMOSD denken, riet Nelles. Für die Diagnose NMOSD mit Aquaporin-4Antikörpern braucht es gemäss KonsensusEmpfehlungen einerseits ein klinisches Kernsymptom bei akutem Schub. Dazu zählen Sehnervenentzündung, langstreckige Myelitis, Area-postrema-Syndrom (Schluckauf, Übelkeit/Erbrechen), Hirnstamm-Syndrom, symptomatische Narkolepsie, symptomatische zerebrale Symptome/NMOSE MRT-Befunde. Andererseits werden ein positiver Aquaporin4-IgG-Test sowie der Ausschluss alternativer Erklärungen gefordert. Für die Therapie stehen Eculizumab, Inebilizumab, Rituximab oder Satralizumab zur Verfügung (5). Demgegen-
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über steht die NMOSD ohne Aquaporin-4-Antikörper, auch als MOGAD bezeichnet. Deren Kernsymptome sind (mind. 2) eine isolierte NNO, isolierte longitudinale extensive transversale Myelitis (LETM) oder Area-postrema-Syndrom. Nach Bestätigung unterstützender MRKriterien) und nach Ausschluss alternativer Erklärungen wird die MOGAD mit Immunsuppressiva wie beispielsweise Azathioprin, Methotrexat, Mycophenolat, Rituximab oder Tocilizumab behandelt (5). NMO und MOGAD unterscheiden sich wesent-
lich in der Krankheitsprogression, wobei eine
frühzeitige Therapie mit hochwirksamen
monoklonalen Antikörpern vor allem bei Pati-
enten mit NMO AP+ wichtig sei, so Nelles
abschliessend.
l
Valérie Herzog
Quelle: «Neues zu Immuntherapie und NMOSD», Post ECTRIMS 2023, NeuroLive
Referenzen: 1. Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose,
Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen. S2k-Leitlinie 2023
(Version 7.1). awmf.org. Letzter Abruf: 9.1.24 2. Giovannoni G et al.: A systematic review and mixed
treatment comparison of pharmaceutical interventions for multiple sclerosis. Neurol Ther. 2020 Dec;9(2):359-374. 3. Iaffaldano P et al.: Ten-year comparison of disability trajectories in multiple sclerosis patients treated with early intensive and escalation approach: a study from the Italian MS Register. OP070/1474, presented at ECTRIMS 11-13 October, Milan, Italy. 4. Mancinelli CR et al.: Long-term efficacy of ocrelizumab in RRMS patients after natalizumab discontinuation. P1550/996, presented at ECTRIMS 11-13 October, Milan, Italy. 5. Wingerchuk DM et al.: International consensus diagnostic criteria for neuromyelitis optica spectrum disorders. Neurology. 2015;85(2):177-189.
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