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Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter
Die Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter stellt unter anderem wegen möglicher Komorbiditäten und zahlreicher Differenzialdiagnosen einen umfassenden Prozess dar. Sie wird idealerweise von einem multiprofessionellen Team von erfahrenen Spezialisten durchgeführt. Der nachfolgende Beitrag soll Allgemeinmediziner, Psychiater sowie Ärzte aller Fachrichtungen über die Kernsymptomatik, die zum Verdacht einer hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störung im Erwachsenenalter führen kann, sowie über weitere Entscheidungshilfen zur Vorstellung in einer Spezialstelle für Autismus-Diagnostik informieren.
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Gerrit Steinberg
von Gerrit Steinberg
Ä rzte aller Fachrichtungen sehen in ihrer Praxis Patienten mit komorbiden Symptomen einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) (einschliesslich Störungen der Sinnesorgane) und sollten deshalb Kenntnisse über ASS haben. Es werden nachfolgend standardisierte Screening- und Diagnostikinstrumente sowie das differenzialdiagnostische Vorgehen bei Erwachsenen vorgestellt. Bereits an dieser Stelle sei erwähnt, dass keine Tests oder Diagnostikinstrumente bzw. Biomarker existieren, auf deren Grundlage sich eine ASS im Erwachsenenalter diagnostizieren liesse. Die Diagnosestellung im Erwachsenenalter erfolgt gemäss Leitlinienempfehlung (1, 2) rein klinisch durch Experten im multiprofessionellen Konsensusverfahren (z. B. 4-Augen-Verfahren Medizin/Psychologie), dabei massgeblich abgestützt auf die sorgfältig erhobene Entwicklungsanamnese ab Schwangerschaft und Geburt. Komorbide körperliche und psychische Störungen von ASS spielen im diagnostischen Prozess eine Rolle, weshalb eine ärztliche Fachperson mit ASS-Expertise ins Diagnostikteam einbezogen sein sollte. In der Schweiz besteht seit längerer Zeit eine Unterversorgung für ASS einschliesslich Diagnostik. Auf diese wurde der Bundesrat bereits vor über 10 Jahren durch Fachpersonen hingewiesen (Postulat Claude Hêche) (3). Spürbare Verbesserungen lassen jedoch weiterhin auf sich warten. Je früher ASS auch im Erwachsenenalter erkannt wird, desto besser sind die Voraussetzungen für eine sinnvolle Versorgung und eine positive Lebensentwicklung.
Ein Verdacht auf das Vorliegen einer ASS kann bereits durch Fachleute in der Grundversorgung festgestellt werden. Erhärtet sich der Verdacht nach sorgfältiger klinischer Evaluation und gegebenenfalls Einsatz ausreichend valider Screeninginstrumente, sollte die Zuweisung an eine spezialisierte Fachstelle zur dezidierten Diagnostik und Differenzialdiagnostik erfolgen.
Das Screening für ASS, das oft über Arztpraxen, Therapeuten und Ausbildungseinrichtungen mittels entsprechender Fragebögen erfolgt, ist mit einer geringen Sensitivität verbunden (2). Unklar bleibt, wie viele in Wirklichkeit Betroffene durch das Screening unerfasst bleiben. Die Schwere der ASS-Symptomatik ist vor allem abhängig von erfolgreichen Adaptationsmöglichkeiten und hängt von kognitiven Voraussetzungen wie zum Beispiel dem nonverbalen Intelligenzquotienten (IQ) ab. Weibliche Betroffene sind insbesondere als hochfunktionelle Erwachsene oft nicht als solche auffällig und tragen zuvor langjährig andere Hauptdiagnosen (u. a. Depression, Persönlichkeitsstörung, schizophreniforme Erkrankung, ADHS) (4), bevor eine ASS erkannt wird (Tabelle 2). Weibliche Betroffene müssen zudem oft eine verhältnismässig höhere Ausprägung von Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten sowie eine auffälligere funktionale Anamnese aufweisen, um eine Diagnose zu erhalten. Oft zeichnet sich ein ASS-Symptomcluster erst dann ab, wenn soziale Anforderungen bisherige Kompensationsmechanismen überschreiten (5). Herausfordernd stellt sich geschlechterübergreifend die Einordnung von subsyndromalen und atypischen Symptomclustern dar, die ohne Diagnose als autistische
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Züge (BAP, Broader Autism Phenotype; im DSM-4 PDDNOS, pervasive developmental disorder, not other specified; im DSM-5 nicht mehr vorhanden) oder als atypischer Autismus (ICD-10 F84.1) klassifiziert werden.
Ein klinischer Verdacht kann sich ergeben beispielsweise durch Auffälligkeiten in der Kontaktaufnahme oder im Verständnis für soziale Kontexte, wenn etwa Zwischentöne oder ironische Andeutungen nicht oder wortwörtlich verstanden werden und implizite Hinweise mit Aufforderungscharakter («draussen wird es jetzt auch schon früh dunkel») keine erwartete Handlung, Reaktion oder Nachfrage auslösen («wäre es gut, wenn wir mehr Licht hätten?», «ich werde wohl jetzt einmal…»). Nonverbal können die Kommunikation üblicherweise begleitenden Gesten fehlen wie Kopfdrehen, Nicken oder Stirnrunzeln. Direkter Blickkontakt wird von Betroffenen oft als zu intensiv empfunden. Deswegen haben sich manche Betroffene angewöhnt, zwischen die Augen des Gegenübers oder auf die Stirn knapp über den Augen zu schauen, damit sie nicht wegen vermeidendem Blickkontakt auffallen. Das kann wie normaler Blickkontakt wirken und unerfahrene Untersucher dazu verleiten, eine ASS auszuschliessen. Neben einer Erfassungsschwäche für Kontexte (z. B. was ist wichtig bei einem Bewerbungsgespräch), die mit eingeschränktem Überblick für Situationen und Handlungsabläufe verbunden sein kann, ist oft die Fähigkeit beeinträchtigt, einmal entstandene Kontakte, insbesondere mit Peers, aufrecht zu erhalten. Zusätzlich zu den vorgenannten Besonderheiten der Kommunikation und Interaktion (A-Kriterium gemäss DSM-5) treten gemäss B-Kriterium Auffälligkeiten wie unflexibles Festhalten an Routinen auf: beispielsweise beim Einkaufen jeweils gleiche Wegstrecke durch den Supermarkt, mehrere Wochen Zubereitung desselben Gerichts (z. B. Rührei mit Spinat) oder ritualhaftes Verhalten (z. B. wird das Ausflugsziel jeweils erst am Bahnhof gemäss oberstem Zug auf der Anzeigetafel entschieden). Stereotype Bewegungen (z. B. Fingerdrehen, Rumpfwippen) oder besondere Interessen können auftreten (z. B. Sammeln und Katalogisieren von Spielkarten [z. B. Magic]), hobbymässiges Studium antiker Sprachdialekte mit Reise in die entsprechenden Gebiete, Beschäftigung mit dem Thema Autismus-Spektrum, englische Kriminalromane) wie auch Über- bzw. Unterempfindlichkeiten der Reizwahrnehmung (Zugfahren aufgrund möglicher Kaugeräusche von Mitreisenden nicht möglich, Geruch eines Teppichbodens oder das Summen einer Leuchte verhindert Teilnahme an einer Sitzung, Hitze- oder Kälteempfindlichkeit).
Die Symptome schränken insgesamt das alltägliche Funktionieren ein. Der Verdacht kann sich erhärten, wenn sich während Lebensphasenübergängen (z. B. Schulwechsel, Ausbildungsbeginn, Berufsstart, Wohnort- oder Stellenwechsel) Schwierigkeiten beim Beginn oder der Aufrechterhaltung einer Ausbildung oder Berufstätigkeit zeigen. Auch vorangegangene oder aktuelle Kontakte mit psychiatrischen Diensten oder anderen Hilfssystemen können Mosaiksteine darstellen, die eine Verdachtsdiagnose erhärten.
Fallbeispiel: Patientin mit ASS, primär nicht eindeutige Verdachtsmomente
Eine 24-jährige Frau mit Berufsziel Mediamatikerin, vordiagnostiziertes ADHS, erreicht unauffällige Werte in den Screeninginstrumenten, unterhält sich flüssig mit Blickkontakt, geht regelmässig in eine Akrobatikgruppe und spielt einmal im Jahr in einem kleinen Theaterprojekt mit. Nach einer grösseren Veranstaltung oder Feier benötige sie 2 bis 3 Tage zur Regeneration, könne das Haus dann schlecht verlassen. Sie habe während dieser Zeit bei unerwarteten Kontakten regelmässig Zusammenbrüche, auch mit Suizidäusserungen. Sie zertrete dann Gegenstände und kratze sich, wenn es sehr schlimm sei, die Oberschenkel auf. In ihrer Kindheit bestand sie auf sehr weichen Kleidungsstoffen, die nur mit einem bestimmten Waschmittel gewaschen werden durften. Aufgrund von Schwierigkeiten mit anderen Kindern (sie verhielt sich oft dominant, gab anderen wenig Raum), habe man einen Wechsel in eine Kleinklasse überlegt. Der schulpsychologische Dienst empfahl eine ADHS-Abklärung und ermittelte einen IQ von 138. Ein Cousin lebt mit Kanner-Autismus in einem Heim. Für einen Ausbildungsort habe sie sich bislang nicht entscheiden können. Zwischendurch sei sie immer wieder mit körperlichen und psychischen Beschwerden (Verdauungsprobleme, Kreislaufprobleme, Schmerzzustände, Schlafstörungen, Stimmungstiefs) konfrontiert.
Tabelle 1:
Differenzialdiagnosen und häufige Komorbiditäten von ASS bei Erwachsenen
Differenzialdiagnosen (4, 9)
Häufige Komorbiditäten (10, 11, 13)
ADHS ADHS
soziale Phobie
soziale Phobie
generalisierte Angststörung
generalisierte Angststörung
chronische depressive Störung
depressive Störung
schizophreniforme Störung
psychotische Störung
schizotype Störung
Zwangsstörung
(komplexe) posttraumatische
posttraumatische Belastungsstörung
Belastungsstörung
Zwangsstörung
suchtbezogene Störung
Persönlichkeitsstörung: somatisch:
● schizoid
● gastrointestinale Störungen
● Borderline
● rheumatologische Störungen
● ängstlich-vermeidend
● Autoimmunerkrankungen
● zwanghaft
● Migräne, Kopfschmerzen
● narzisstisch
● Schlafstörungen
● kombiniert
Bei der Frage nach geeigneten Screening- und Diagnostikinstrumenten ist gemäss Leitlinien aufgrund der Evidenzgrade derzeit kein Instrument uneingeschränkt zu empfehlen. Durch unauffällige Ergebnisse auf der Screeningebene (Instrumente wie AQ, EQ, MBAS, ASAS) kommt es vor, dass eine ASS-Diagnose frühzeitig fälschlicherweise ausgeschlossen wird (2).
Damit bleiben der betroffenen Person für unbestimmte, meist jahrelange Zeit adäquate Behandlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten verwehrt. Im Fall negativer Screeningergebnisse sollte daher das
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Tabelle 2:
Weggefallene Vordiganosen (%) bei ASS-Diagnosestellung (12)
Persönlichkeitsstörung Depressive Störung Angststörung Burnout/Fatigue Essstörung Mind. 1 Vordiagnose fiel weg
Frauen Männer Gesamt 21,9 7,1 14,7 13,3 5,3 11,0 12,6 4,7 8,7 7,8 2,2 5,1 5,0 0,6 2,8 47,0 27,3 37,5
Fallbeispiel: Abklärungsbefunde einer Patientin mit ASS (Auszüge)
Frau B., 23-jährige Pharmaziestudentin, wird zur Diagnostik durch den ambulanten Psychiater zugewiesen. Sie hat die Bachelorprüfung nicht bestanden, Multiple Choice- und mündliche Prüfungen waren schwierig. Seit Kindheit sind depressive Krisen bekannt sowie zahlreiche Therapeutenwechsel. Kommunikation mit ihr sei seit jeher schwierig. Sie merke nicht, wenn sich andere langweilen, und lasse sich nicht unterbrechen. Es bestehe wortwörtliches Verstehen. Sie bespreche den Tagesablauf mit ihrer Mutter, kommuniziere vor allem per E-Mail. In der Freizeit schreibe sie Fantasy-Geschichten (Mittelalter). Sie habe Schwierigkeiten, mit Kritik umzugehen, und habe in der Folge zweimal ein Praktikum von sich aus beendet. Hautausschläge werden seit Kindheit bei Belastung stärker.
Kindheitsanamnese (gemäss ADI-R) Nach komplikationsloser Schwangerschaft und Geburt zeigte sie ab dem 15. Lebensmonat eine rasche Sprachentwicklung. Von Gleichaltrigen wurde sie oft nicht verstanden und als kleine Professorin bezeichnet. Sie forderte jeden Tag dasselbe Frühstück und zeigte bei Routineänderungen Gereiztheit. Sie spielte gern mit Konstruktionssteinen, hatte nach dem Aufbau kein weiteres Spielinteresse. Händehalten lehnte sie als Kind ab (z. B. beim Überqueren der Strasse). Sie malte gern Landschaften, vergass die Zeit dabei. Der Kindergarten wurde reizüberflutend erlebt, ihr war unwohl im Kontakt zu anderen Kindern. Sie verstand die Spielart der anderen Kinder nicht, hatte über Jahre eine gute Freundin (Ankerfreundin). In der Schule gehörte sie zu den Klassenbesten, wurde von ihren Mitschülern gemobbt. Nach Schulschluss unterhielt sie sich mit den Lehrern. Schullager waren sehr herausfordernd. Während der Adoleszenz kam es immer öfter zu depressiven Krisen, weil sie sich vermehrt ihres Andersseins bewusst wurde («Wrong-planet-Syndrom»).
Testbefunde AQ: mit 24 Punkten unauffällig EQ: mit 22 Punkten unterhalb des Cut-offs (30), mögliche ASS MBAS: 101 Punkte (hoher Wert, formal unterhalb des Cut-offs) Reading the Mind in the Eyes Test: 21 Punkte, auffälliges Ergebnis MASC: 31 Punkte, unauffälliges Ergebnis MWT-B: 32 Punkte, Hinweise auf hohe Intelligenz Gesichter erkennen: einfache Gesichter unauffällig, komplexe Gesichter auffällig, Gesamtbefund auffällig TAS-26: Schwierigkeiten mit der Wahrnehmung und Äusserung eigener Gefühle, reduzierter extern orientierter Denkstil, Gesamtbefund mit Alexithymie vereinbar IKP: deutlich erhöhte T-Werte für schizoide, zwanghafte, Borderline und ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsakzentuierung WURS-k: 27 Punkte, damit unter Cut-off, unauffällig. Strukturierte Verhaltensbeobachtung (einzelne ADOS-IV-Aufgaben): auffällig
Diagnostische Beurteilung: Autismus-Spektrum-Störung (ASS) im Sinne AspergerSyndrom (ICD 10 F84.5/DSM-5 299.0).
klinische Augenmerk darauf gerichtet werden, ob die Betroffenen oder hinzugezogene Dritte spezifische Symptome aus dem aktuellen Erwachsenenleben oder aus der Kinder- und Jugendzeit berichten können. Dies kann auch schriftlich frei und formlos durch einen kürzeren Lebens- oder Situationsbericht erfolgen. Ebenso kann ein stationärer oder tagesklinischer Aufenthalt bei unklarer Ausgangslage zusätzliche Anhaltspunkte liefern. Anzumerken ist, dass das AMDP-System nicht geeignet ist, einen ASS-Verdacht zu erheben oder die Diagnose zu stellen, da zentrale Kernkriterien (Interaktion, Kommunikation, Routinebedürfnis, Rituale, Reizsensitivität) sich mit diesem System nicht erfassen lassen.
Bei gegebenem Verdacht findet eine ausführliche Abklärung durch ein multidisziplinäres Diagnostikteam einer ASS-Spezialstelle für Erwachsene statt. Das Abklärungsteam besteht aus Fachpersonen aus Psychologie und Medizin (Facharzt bzw. Fachärztin Psychiatrie oder Neurologie). Die Abklärung erfolgt aufgrund des beträchtlichen Umfangs der Untersuchungen in mehreren Sitzungen und umfasst Explorationsgespräche, Testdiagnostik (u. a. soziale Kognitionstests), Psychometrie (Tabelle 3) und gegebenenfalls bei Bedarf (z. B. Anfallsanamnese, visuelle oder auditive Auffälligkeiten) medizinische Zusatzuntersuchungen (EEG, MRI, Seh-, Hör-, Labortests). Einen Goldstandard im Sinn einer festgelegten Testbatterie wie im Kindes- und Jugendalter (ADOS/ADI-R) gibt es bei Erwachsenen bislang nicht. Es stehen verschiedene Testverfahren zur Verfügung, die in Kombination unterstützend zur klinisch ausgerichteten Diagnostik angewendet werden können. In der Berner Autismus-Sprechstunde für Erwachsene werden neben den in Tabelle 3 genannten Screeningverfahren Testinstrumente zur Einschätzung der sozialen Kognition mittels Deutung kurzer Filmsequenzen (MASC), durch Benennung von Gefühlslagen anhand von Augenausschnitten (RMET) und zur Emotionserkennung bei ganzen Gesichtern (Test «Gesichter erkennen») eingesetzt. Zudem werden ein Persönlichkeitsinventar (IKP), ein Alexithymie-Fragebogen (TAS-26) und Kurztests zwecks Intelligenz-Screening (MWT-B, Raven Matrices) angewendet. Weitere eingesetzte Testverfahren sind ebenfalls in Tabelle 3 ersichtlich. Gemäss Leitlinien wird kein Testinstrument obligatorisch für die Diagnostik von ASS im Erwachsenenalter empfohlen (2). Gerade bei unklaren Fällen, beispielsweise guter Maskierung, ist eine strukturierte Verhaltensbeobachtung sinnvoll. Hierbei wird in der Berner Sprechstunde das ADOS-Modul IV mit ausgewählten Teilaufgaben verwendet. Im direkten Kontakt können unter anderem verbale und non-verbale Kommunikation, sozial-emotionale Reziprozität und stereotypes Verhalten evaluiert werden.
Kernstück des Abklärungsprozesses ist die Erhebung der Entwicklungsanamnese mit Fokus auf die frühe Kindheit, die idealerweise durch Beizug einer Drittperson, die die abzuklärende Person bereits im frühen Kindesalter erlebt hat, erhoben wird.
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Tabelle 3:
Beispiele für eingesetzte Fragebögen und Testverfahren
Screening-Fragebögen
AQ (Autismus-Quotient)1
EQ (Empathie-Quotient)2
RAADS (Ritvo Autism Asperger Diagnostic Scale)3
Fremdbeurteilungsbögen für die Kindheit
MBAS (Marburger Beurteilungsskale für das
(z.B. Elternteil)
Asperger-Syndrom)4
ASAS (Australische Einschätzungsskala für
Asperger-Syndrom)5
SRS (Skala zur Erfassung sozialer Reaktivität)6
Testverfahren soziale Kognition
RMET (Reading the Mind in the Eyes Test)7
MASC (Movie of the Assesment of Social Cognition)8
Gesichter erkennen (Faces Test)9
Alexithymiefragebögen
TAS-26 (Toronto-Alexithymia-Scale, 26 Items)10
BVAQ (Bermond-Vorst-Alexithymia-Questionnaire)11
Intelligenz-Screeningverfahren
MWT-B (Mehrfach-Wortschatz-Ingelligenztest)12
Entwicklungsanamnese
ADI-R (Autism Diagnostic Interview Revised)13
Strukturierte Verhaltensbeobachtung
ADOS (Autism Diagnostic Observation Schedule)14
Sprachpragmatik
FFS (Freiburger Fragebogen zur Sprachpragmatik)15
ADHS-Screening WURS-k16
Depressionsfragebogen BDI17
Inventar Persönlichkeitsakzentuierungen
IKP18
Hamburger Zwangs-Inventar
HZI19
Skalen zur sozialen Angststörung
SOZAS20
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5. Melfsen S et al.: Validierung der deutschen Version der Australian Scale of Asperger’s Syndrome (ASAS). Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother. 2005 Jan;33(1):27-34.
6. Bölte S et al.: Skala zur Erfassung sozialer Reaktivität–Dimensionale Autismus-Diagnostik (SRS). Bern: Huber 2007. 7. Baron-Cohen S et al.: The «Reading the Mind in the Eyes» Test revised version: a study with normal adults, and adults with Asperger syndrome or
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Dies können sowohl Eltern, Grosseltern als auch zum Beispiel Lehrpersonen, Nachbarn sowie um mehrere Jahre ältere Geschwister sein. Oft benötigt die abzuklärende Person etwas Zeit für die Zustimmung zum Beizug einer Drittperson. Bereits mit der zuweisenden Fachperson kann daher überlegt werden, wer hierfür aus dem Umfeld in Frage käme. Die Erhebung der Entwicklungsanamnese umfasst unter anderem Spiel-, Gruppen- und Essverhalten in den ersten 5 Le-
bensjahren, Entwicklung von Sprache und Motorik, Reaktion auf Veränderungen und Regelabweichungen. Sollte sich keine Drittperson rekrutieren lassen, so können Kindergarten- oder Schulberichte bzw. Bild- und Filmmaterial aus dem Familienarchiv herangezogen werden, ebenso Berichte des schulpsychologischen Dienstes oder der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die manchmal bereits involviert waren.
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Merkpunkte:
● Die Diagnosestellung von ASS im Erwachsenenalter erfolgt interdisziplinär. ● Eine standardisierte Testbatterie gibt es nicht. Es handelt sich um eine klinische
Diagnose. ● ASS-Kernsymptome müssen seit der Kindheit bestehen, können aber aufgrund
von Maskierung verdeckt sein, sodass die Diagnosestellung erst im Erwachsenenalter erfolgt. ● Um Differenzialdiagnosen und Komorbiditäten gegenseitig abzugrenzen, ist eine sorgfältige Anamnese, insbesondere die Entwicklungsanamnese inkl. früher Kindheit, für die Diagnosestellung entscheidend.
Erst die Entwicklungsanamnese, die beispielsweise orientiert am semistrukturierten Interview ADI-R (6), siehe Abschnitt zur Diagnostik im Kindesalter, durchgeführt werden kann, ermöglicht eine stichhaltige differenzialdiagnostische Erörterung.
Die klinische Präsentation anderer Diagnosen (u. a. Persönlichkeitsstörungen, chronische Depression, komplexe posttraumatische Belastungsstörung, ADHS, Zwangsstörungen, schizophreniforme Erkrankungen usw.) ist im Querschnitt oft deckungsgleich mit ASS. Erst die Entwicklungsanamnese lässt eine Unterscheidung zu. So kann beispielsweise die Symptomatik von Borderline-Persönlichkeitsstörungen und ASS stark überlappen und es kann sein, dass eine Patientin jahrelang als «Borderline-Patientin» behandelt wird, obwohl ihre Symptome (selbstverletzendes Verhalten inkl. Rasierklingen schlucken, dissoziative Anspannungszustände, Suizidversuche, verändertes Körpergefühl, verminderte Schmerzsensitivität) bei genauerer Evaluation jeweils in Folge von Reizüberflutung, erhöhtem Anforderungsdruck, unklarer Kommunikation, Änderungen erwarteter Abläufe oder Gruppenkommunikation auftreten (7). Ein wichtiger Aspekt bei der Abgrenzung zur Zwangsstörung ist die Unterscheidung von ich-syntonem Erleben bei autistischen, zwanghaft anmutenden Stereotypien, oft mit strukturgebendem Charakter oder perfektionistisch ausgerichtet im Sinn von sogenannten «Just-right-Phänomenen». Im Gegensatz dazu ist das Erleben bei Zwangsstörungen ich-dyston mit in der Regel hohem Leidendruck. Im Rahmen autistischer Stressreaktionen kann sich auch ein psychotisch-paranoides Syndrom entwickeln, beispielsweise vor oder nach Beginn einer erstmaligen Abschlussarbeit im Studium, das als paranoide Schizophrenie fehldiagnostiziert wird. Im Gegensatz zu schizophreniformen Erkrankungen sind die autistisch bedingten psychotischen Reaktionen oft realitätsnäher in ihren Inhalten und vor allem sind sie nach Abklingen der Belastung relativ rasch rückläufig (8).
Teil des Diagnostikprozesses ist zudem die Frage, ob noch psychiatrische oder somatische Komorbiditäten mit Überlappungen zum ASS-Symptomcluster bestehen, mitunter in Form einer oder mehrerer Vordiagnosen (Tabelle 1). Dazu findet vorab eine Überprüfung einer leitliniengerechten Diagnosestellung der ASS statt, insbesondere mit Augenmerk auf differenzialdiagnostische Abgrenzungen wie beispielsweise zu Persönlichkeitsstörungen. Nach Abschluss der Diagnostik findet eine Aufklärung der Betroffenen mit Informationsweitergabe, idealerweise im Beisein eines Angehörigen oder einer Bezugsperson, statt. Zudem erfolgt eine ausführliche Berichtsdokumentation mit Angaben zu Therapie- und Unterstützungsbedarf auf dem Boden eines Stärke-Schwächen-Profils unter Berücksichtigung der körperlichen und psychiatrischen Komorbiditäten. l
Korrespondenzadresse: Dr. med. Gerrit Steinberg Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD) AG
Universitätspoliklinik Murtenstrasse 21 3008 Bern
E-Mail: gerrit.steinberg@upd.ch
Referenzen: 1. NICE Clinical Guideline, June 2012, Grossbritannien. https://www.
nice.org.uk/guidance/cg142/. Letzter Abruf: 12.10.23. 2. AWMF (2016). https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-018.
Letzter Abruf: 12.10.23. 3. Autismus und andere schwere Entwicklungsstörungen. Übersicht,
Bilanz und Aussicht (2012). https://www.parlament.ch/de/ ratsbetrieb/suche-curia-vista/. Letzter Abruf: 19.11.23 4. Fusar-Poli L et al.: Missed diagnoses and misdiagnoses of adults with autism spectrum disorder. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. 2022 Mar;272(2):187-198. 5. Falkai P et al.: American Psychiatric Association. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen. DSM-5. Deutsche Ausgabe. Göttingen: Hogrefe 2015. 6. Lord C et al.: Autism Diagnostic Interview – Revised: A revised version of a diagnostic interview for caregivers of individuals with possible pervasive developmental disorders. J Autism Dev Disord. 1994;24(5), 659-685. 7. van Elst LT: Hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen. Fortschr Neurol Psychiatr. 2019;87:381-397. 8. van Elst LT: Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter, 3. Auflage, Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2021. 9. Lehnhardt FG et al.: The investigation and differential diagnosis of Asperger`s syndrome in adults. Dtsch Arztebl Int 2013;110(45): 755763. 10. Lai MC et al.: Prevalence of co-occurring mental health diagnoses in the autism population: a systematic review and meta-analysis. Lancet Psychiatry 2019;6(10), 819-829. 11. Hofvander B et al.: Psychiatric and psychosocial problems in adults with normal-intelligence autism spectrum disorders. BMC psychiatry 2009;(9.1): 1-9. 12. Kentrou V et al.: Stability of co-occurring psychiatric diagnoses in autistic men and women. Research in autism spectrum disorders 2021;(82):101736. 13. Camm-Crosbie L et al.: «People like me don’t get support»: Autistic adults’ experiences of support and treatment for mental health difficulties, self-injury and suicidality. Autism. 2019 Aug;23(6):14311441.
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