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Diagnostik der Autismus-Spektrum-Störung bei Kindern und Erwachsenen
Merkmale des Autismus sind anhaltende, in allen Situationen auftretende, ausgeprägte Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation in Kombination mit den Alltag beeinträchtigenden stereotypen und repetitiven Verhaltensweisen, die bereits seit der frühen Kindheit vorliegen. Um die Diagnose zu stellen, müssen zunächst viele andere psychische und Entwicklungsstörungen ausgeschlossen werden, da viele Auffälligkeiten, die mit Autismus in Verbindung gebracht werden, auch bei diesen Störungen vorkommen oder Varianten der kindlichen Entwicklung darstellen.
Foto: zVg
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Edgar Höhne Inge Kamp-Becker
von Edgar Höhne1 und Inge Kamp-Becker1
Einleitung und Symptomatik Die Autismus-Spektrum-Störung (im Folgenden abgekürzt Autismus) ist eine schwerwiegende, früh beginnende, lebenslange und kostenintensive neuronale Entwicklungsstörung, die durch ausgeprägte Beeinträchtigungen in der sozialen Kommunikation und Interaktion sowie durch stereotype und repetitive Verhaltensweisen und Interessen gekennzeichnet ist (1). Wesentlich ist, dass diese Symptomatik situationsübergreifend, anhaltend und von klinisch relevanter Intensität vorliegt. Die Prävalenz von Autismus liegt bei zirka 1% (2), jedoch ist die Anzahl an diagnostischen Untersuchungen bei Verdacht auf Autismus in den letzten Jahren stark gestiegen (3). Die Diagnosekriterien für Autismus wurden im Lauf der Zeit mehrfach revidiert und angepasst, um die Vielfalt und Komplexität der Störung besser abzubilden. Die aktuell gültigen Diagnosekriterien sind im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition (DSM-5) (4) und in der International Classification of Diseases, 11th Revision (ICD-11) (5) unter den «Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung» festgelegt. Dabei werden die früher getrennten Diagnosen «Frühkindlicher Autismus», «Asperger-Syndrom» und «atypischer Autismus» mittlerweile unter der Kategorie «Autismus-Spektrum-Störung» subsummiert. Die Kernsymptomatik des Autismus setzt sich laut DSM-5 aus den folgenden beiden Kernbereichen zusammen:
1 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJP) Universitätsklinikum Marburg
1. Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg (3 von 3 der folgenden Merkmale müssen erfüllt sein): l Defizite in der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit (z. B. fehlende wechselseitige Kommunikation oder kaum gemeinsame Freude an der Interaktion). l Defizite im nonverbalen sozialen Kommunikationsverhalten (z. B. Fehlen von Gestik, Mimik, Blickkontakt und deren Integration während einer sozialen Annäherung). l Defizite in der Aufnahme, Aufrechterhaltung und dem Verständnis von Beziehungen (z. B. Schwierigkeiten in den sozialen Annäherungen und beim Schliessen von Freundschaften, reduziertes Einfühlungsvermögen).
2. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die sich störend auf andere Aktivitäten/den Alltag auswirken (mindestens 2 von 4 der folgenden Merkmale müssen erfüllt sein). l Stereotype/repetitive Bewegungen, stereotyper/ repetitiver Gebrauch von Objekten (z. B. Aufreihen) oder der Sprache (z. B. Echolalie) l unflexibles Festhalten an Gleichbleibendem, Routinen, ritualisierten Mustern l hochgradig begrenzte und fixierte Interessen, die in ihrer Intensität und im Inhalt abnorm sind l Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an Umweltreizen.
Die Kombination von Symptomen aus den beiden Kernbereichen ist eine notwendige Voraussetzung für die Diagnose Autismus. Zudem müssen sich die berichteten und beobachtbaren Symptome bereits in der frü-
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hen Kindheit zeigen, situationsübergreifend auftreten und in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigung verursachen. Des Weiteren muss geprüft werden, ob die beschriebene Symptomatik nicht besser durch eine andere Störung erklärt werden kann, da die Symptomatik auch bei vielen anderen psychischen Störungen vorkommen kann. Im diagnostischen Prozess müssen daher neben dem strukturierten Erfassen der Kernsymptomatik auch eine Abklärung der Komorbiditäten sowie eine differenzialdiagnostische Abgrenzung erfolgen. Die Trennung zwischen Komorbidität und Differenzialdiagnose stellt hierbei eine grosse Herausforderung im diagnostischen Prozess dar (z. B. bei einer Intelligenzminderung, Sprachentwicklungsverzögerung und Aufmerksamkeitsstörungen). Die Diagnostik von Autismus sollte daher immer auf einer Kombination von verschiedenen Methoden und Informationsquellen basieren, die eine umfassende und multidisziplinäre Beurteilung ermöglichen.
Früherkennung von Autismus Die ersten Anzeichen von Autismus können bereits im ersten Lebensjahr auftreten, wie z. B. ein Mangel an Blickkontakt, Lächeln, sozialer Reziprozität und gemeinsamer Aufmerksamkeit. Die Diagnostik von Autismus vor dem 18. Lebensmonat gestaltet sich jedoch schwierig, da die Symptome unspezifisch sind und sich mit anderen Entwicklungsstörungen überlappen können (6). Die Diagnosestellung erfolgt dennoch oft erst verzögert im Alter von durchschnittlich 6 bis 7 Jahren (7). Belegt ist jedoch, dass ein früher Beginn mit in ihrer Evidenz nachgewiesenen Interventionen (siehe hierzu die AWMF-S3-Leitlinien zur Therapie [8]) bei jungen Kindern mit einem besseren Outcome verbunden ist (9). Es ist daher von grosser Bedeutung die Symptomatik früh zu erkennen, um eine optimale Förderung und Behandlung zu gewährleisten.
Komorbiditäten Etwa zwei Drittel aller Menschen mit Autismus weisen mindestens eine Begleiterkrankung (Komorbidität) auf (10). Bei Autismus können neben häufigen psychologischen Komorbiditäten (wie z. B. Intelligenzminderung, Aufmerksamkeitsstörungen, Angsterkrankungen und Depressionen) auch genetische (z. B. Fragiles X-Syndrom), neurologische (z. B. Epilepsie) und Stoffwechselerkrankungen (z. B. Phenylketonurie) komorbid vorliegen. Komorbiditäten können das Funktionsniveau und den Entwicklungsverlauf von Menschen mit Autismus erheblich beeinträchtigen und Interventionen behindern. Zudem erschweren sie die differenzialdiagnostische Abgrenzung zu anderen Störungen. Es ist daher von grosser Bedeutung, Komorbiditäten detailliert abzuklären und bei Bedarf (medikamentös) zu behandeln.
Differenzialdiagnosen Aufgrund einer hohen Symptomüberlappung mit anderen Störungsbildern hat die differenzialdiagnostische Einschätzung eine hohe Relevanz im diagnostischen Prozess. Grundsätzlich kommen alle anderen psychischen Störungen differenzialdiagnostisch in Frage. Die häufigsten Differenzialdiagnosen im Kindes- und Jugendalter sind: Intelligenzminderung/geistige Behinde-
rung ohne Autismus, Sprachentwicklungsstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, Bindungsstörungen, soziale Angsterkrankungen und die Störung des Sozialverhaltens. Im Erwachsenenalter sollte insbesondere eine differenzialdiagnostische Abklärung hinsichtlich Persönlichkeitsstörungen, Zwangsstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, affektiven Störungen, sozialer Phobie und Schizophrenie erfolgen. Da bei den genannten Störungen häufig einige Symptome vorkommen, die denen des Autismus ähnlich sind («autistic like traits») (11), hat die differenzialdiagnostische Abgrenzung hohe Relevanz für die weitere Behandlung.
Diagnostisches Vorgehen Das hier formulierte Vorgehen basiert auf den AWMF-S3-Leitlinien zur Diagnostik der Autismus-Spektrum-Störungen (12). Nachdem der Verdacht auf Autismus durch Bezugspersonen, Fachpersonal, Erzieher oder der Person selbst geäussert wurde, sollte zunächst eine Vorstellung in einer (kinder- und jugend-)psychiatrischen/sozialpädiatrischen Ambulanz oder Praxis erfolgen. Dort sollte eine erste Einschätzung der Symptomatik durch eine Anamnese, klinische Beobachtung und/oder Screening-Fragebögen durchgeführt werden. Anschliessend sollte bei Kindern zunächst eine mehrdimensionale Entwicklungs-, Sprach- und Intelligenzdiagnostik durchgeführt werden. Zudem sollte bei allen Personen eine körperliche und neurologische Untersuchung erfolgen. Wenn sich der Verdacht auf Autismus erhärtet, sollte eine umfassende Abklärung der Diagnose Autismus mittels autismusspezifischer standardisierter Verfahren in einer Spezialambulanz für Autismus-Spektrum-Störungen erfolgen. Nach einer Abklärung der Komorbiditäten sowie der differenzialdiagnostischen Abgrenzung sollten anschliessend eine multiaxiale Diagnosestellung und das Formulieren von individuellen und klar definierten Behandlungsempfehlungen erfolgen. Um dem Umfeld und den Betroffenen eine angemessene Rückmeldung und Beratung zu geben, ist es wichtig, den diagnostischen Prozess partizipativ und transparent zu gestalten.
Diagnostische Methoden Die Diagnostik von Autismus bei Kindern und Erwachsenen basiert auf einer Kombination von diagnostischen Methoden, die verschiedene Informationsquellen berücksichtigen. Die Symptomatik wird dabei stets in Abhängigkeit vom Alter und vom Sprach- und Entwicklungsniveau erfasst. So liegt der Symptomfokus bei sprachentwicklungsverzögerten Kindern vermehrt auf der nonverbalen sozialen Kommunikation und Interaktion (z. B. Einschränkungen in den Bereichen Gestik, Mimik, Blickkontakt, Deuten, Geben und beim Zeigen), wohingegen sich der Symptomfokus bei Jugendlichen und Erwachsenen mit fliessender Sprache, neben dem Erfassen nonverbaler Symptome, zunehmend abstrakter darstellt (wie z. B. über soziale Einsichtsfähigkeit, Einfühlungsvermögen). Auch die Art der Symptomerhebung unterscheidet sich: Bei non-verbalen Kindern erfolgt dies primär über spielerische Aktivitäten, bei fliessend sprechenden Jugendlichen und Erwachsenen hingegen über eine halb-strukturierte Gesprächssituation. Zu den wichtigsten Methoden, die bei allen Altersgruppen angewendet werden sollten, gehören:
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l Die Anamnese, die die Entwicklungsgeschichte, die familiäre und medizinische Vorgeschichte, die aktuellen Symptome und Schwierigkeiten, die Stärken und Ressourcen sowie die Erwartungen und Bedürfnisse der Person und der Familie erfasst. Neben dem Erfassen aktueller Probleme gilt es dabei, insbesondere Informationen über Schwangerschaft, Geburt, Meilensteine der frühkindlichen Entwicklung (Motorik, Sprache, Sauberkeitsentwicklung), soziales Umfeld, Kindergartenbesuch, Bildungsgang und aktuelle Lebenssituation sowie die medizinische Vorgeschichte zu eruieren. Die Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte und der frühen Symptome ist bei erwachsenen Personen eine grosse Herausforderung und sollte durch die Befragung von Angehörigen und die Einsichtnahme in alte Dokumente ergänzt werden, da die diagnostische Abgrenzung zu anderen Störungen ohne diese kaum möglich ist.
l Die fremdanamnestischen Befunde (z. B. durch Berichte aus dem Kindergarten, der Schule oder von früheren Behandlungen), die eine umfassende und erweiterte Erfassung des Verhaltens und Entwicklungsgeschichte ermöglichen.
l Die Screening-Instrumente, die der schnellen und einfachen Identifikation von Personen mit einem erhöhten Risiko für Autismus dienen. Sie sind nicht für eine Diagnosestellung geeignet, sondern dienen als Hinweis für eine weiterführende Abklärung. Bei den vorliegenden Screening-Verfahren ist jedoch zu beachten, dass deren Spezifität im klinischen Kontext gering ist; daher ist der Nutzen begrenzt. Es liegen verschiedene Screening-Verfahren für unterschiedliche Alters- und Zielgruppen vor, die sich in ihrem Umfang, ihrer Validität und ihrer Anwendung unterscheiden. Im deutschsprachigen Raum ist z. B. der Fragebogen zur sozialen Kommunikation (FSK) (13) weit verbreitet. Er wurde für Kinder und Jugendliche zwischen 4 und 18 Jahren entwickelt und umfasst 40 binäre Items (Dauer ca. 10 min), die komplementär zum ADOS-2 und ADI-R konstruiert wurden und von den Eltern oder Bezugspersonen ausgefüllt werden.
l Die klinische Beobachtung, die das (Spiel-)Verhalten, die Kommunikation und die Interaktion in verschiedenen Situationen und Kontexten beurteilt.
l Die körperliche und neurologische Untersuchung, die mögliche organische Ursachen oder Begleiterkrankungen ausschliessen oder identifizieren kann, wie z. B. genetische Syndrome, Epilepsie, Schwerhörigkeit oder Sehstörungen. Insbesondere bei Kindern mit Entwicklungsverzögerungen ist eine neuropädiatrische Abklärung für eine valide diagnostische Einschätzung sinnvoll.
l Die autismusspezfischen standardisierten Untersuchungen, die die Symptome und Merkmale von Autismus quantifizieren und vergleichen können. Hierfür hat sich die Kombination aus dem Diagnostischen Interview für Autismus (ADI-R) (14) und der Diagnostischen Beobachtungsskala für Autismus (ADOS-2) (15) als international anerkannter Goldstandard bewährt. Die beiden empirisch fundierten Verfahren basieren auf den diagnostischen Kriterien des ICD-10 und DSM-4-TR/DSM-5 und erlauben eine umfassende und valide Erfassung der Symptomatik von Autismus. Die Auswertung beider Instrumente
erfolgt über einen diagnostischen Algorithmus, der eine Auswahl von Items verrechnet. Jedoch ist die Spezifität im klinischen Kontext ebenfalls nicht uneingeschränkt, d. h. dass auch viele Personen mit anderen psychischen Störungen, die mit «autism like traits» verbunden sind, auffällige Werte in diesen Verfahren aufweisen (16, 17). – Das ADI-R ist ein 93 Items umfassendes struktu-
riertes Elterninterview, das anamnestische Informationen zur frühkindlichen Entwicklung, zum Spracherwerb, zu den aktuellen sozial-kommunikativen Fähigkeiten sowie zu spezifischen Interessen und Aktivitäten der Betroffenen erhebt. Dabei müssen die Bezugspersonen eine Vielzahl von Verhaltensbeispielen aus dem Lebensalltag geben, damit der Interviewer differenziert einschätzen kann, ob die Beispiele Auffälligkeiten im Sinn von Autismus implizieren oder nicht. – Das ADOS-2 ist eine strukturierte Beobachtungsskala, die das Kommunikations-, Interaktionsund Spielverhalten in einer standardisierten Situation erfasst. Das Verfahren besteht aus 5 Modulen, die je nach Alter und Sprachniveau der zu testenden Person ausgewählt werden. Die Module enthalten verschiedene Aktivitäten, die gezielt Situationen schaffen, in denen autismusspezifische Symptome auftreten können. Abhängig von den Modulen umfasst die Beobachtung 29 bis 42 Items, die unmittelbar nach der Untersuchung anhand einer detaillierten Vorlage kodiert werden. Die valide Durchführung des ADOS-2 erfordert eine spezifische Schulung, Inter-Rater-Erfassungen sowie eine vielfältige Erfahrung mit Autismus und relevanten Differenzialdiagnosen (18). l Die Abklärung bzw. Abgrenzung von möglichen psychischen Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen ist ein essenzieller Bestandteil der Diagnostik. Diese sollte durch entsprechende diagnostische Verfahren störungsspezifisch zu den Diagnosen erfolgen, die sich aus der Anamnese, der Verhaltensbeobachtung usw. ergeben haben. l Aus allen erhobenen Informationen werden individuelle, klar definierte und überprüfbare Behandlungsziele erarbeitet und entsprechende Behandlungsempfehlungen formuliert. Im weiteren Verlauf sollte das Erreichen dieser Ziele regelmässig diagnostisch überprüft und ggf. weitere Behandlungsempfehlungen ausgesprochen werden.
Herausforderungen in der Diagnostik Die Diagnostik von Autismus ist mit Herausforderungen und Schwierigkeiten verbunden, die eine hohe fachliche Kompetenz und Erfahrung erfordern. So besteht eine erhebliche Heterogenität im Phänotyp von Autismus, insbesondere bezüglich der Ausprägung der Symptomatik, der sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten sowie der begleitenden komorbiden Störungen. Zudem besteht eine hohe Symptomüberlappung zu vielen anderen Störungsbildern. In Ermangelung spezifischer Biomarker basiert die Diagnostik bis dato auf beobachtbarem Verhalten, auf anamnestischen Angaben der Bezugspersonen (u. a. über die frühkindliche Entwicklung) und auf der Interpretation von
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erhobenen Testergebnissen (z. B. in einer standardisier-
ten Verhaltensbeobachtung sowie einer Intelligenz-
und Entwicklungsdiagnostik) durch spezifisch
ausgebildetes Fachpersonal in einem multidisziplinären
Setting. Trotz einer Batterie standardisierter Untersu-
chungsverfahren ist die durchschnittliche Güte (Validi-
tät und Reliabilität) der diagnostischen Einschätzung
von Autismus in der klinischen Praxis noch ungenügend
(19), was sich beispielsweise in einer geringen Stabilität
der Diagnose über die Lebensspanne widerspiegelt. So
zeigt die Datenanalyse einer grossen deutschen Kran-
kenkasse eine 5-Jahres Stabilität der Autismus-Diagnose
von nur 11 bis 33% (20). Es bedarf also dringend einer
Verbesserung bzw. Objektivierung der (Früh-)Erken-
nung von Autismus, um gezielte, individuelle Behand-
lungsstrategien entwickeln zu können.
l
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Dipl.-Psych. Inge Kamp-Becker Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik
und Psychotherapie (KJP) Universitätsklinikum Marburg
Schützenstrasse 49 35039 Marburg
E-Mail: inge.kamp-becker@med.uni-marburg.de
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Merkpunkte:
● Autismus ist eine tiefgreifende neuronale Entwicklungsstörung, die sich in über die Lebensspanne anhaltenden und situationsübergreifenden Defiziten in der sozialen Kommunikation und Interaktion, sowie in stereotyp/repetitiven Verhaltensweisen ausdrückt.
● Der Goldstandard einer autismusspezifischen Diagnostik besteht aus einer Kombination von standardisierter Verhaltensbeobachtung (ADOS-2) und standardisiertem Interview (ADI-R).
● Autismus zeigt eine hohe Symptomüberlappung mit anderen Störungsbildern, weshalb eine ausführliche und multidisziplinäre Differenzialdiagnostik unabdingbar ist.
● Die Durchführung einer autismusspezifischen Diagnostik sollte dabei immer von spezifisch ausgebildetem Fachpersonal durchgeführt werden.
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