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Foto: zVg
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FORTBILDUNG
Etwas Medizingeschichte zum Thema Cannabis
Hanf (Cannabis sativa) zählt zu den ältesten genutzten Kulturpflanzen der Menschheit. Schon in vorchristlicher Zeit hat sich der homo sapiens die vielfältigen Eigenschaften der Pflanze zunutze zu machen gewusst, sei es zur Fasergewinnung, für die Zubereitung von Nahrungsmitteln oder als Heilmittel zur Linderung von Schmerzen. Die Tatsache, dass Hanffasern das Papier für Gutenbergs Bibel lieferten, dass aus den gleichen Fasern die Segel von Christoph Columbus’ «Santa Maria» gewoben wurden und dass letztlich der Einsatz von Hanf in der arabischen Medizin oder bei Hildegard von Bingen als Heilpflanze dokumentiert ist, unterstreicht die kulturhistorische Bedeutung der heute so umstrittenen Pflanze.
Claude Vaney Manfred Fankhauser
von Claude Vaney1 und Manfred Fankhauser2
D ie Anfänge der medizinischen Verwendung der Hanfpflanze reichen über China, Indien, Ägypten und Assyrien weit in die vorchristliche Zeit zurück, wobei die erste schriftliche Angabe zur medizinischen Nutzung auf ein 4700 Jahre altes chinesisches Lehrbuch der Botanik und Heilkunst zurückgeht. Später genoss Cannabis auch im Europa des frühen Mittelalters als Heilmittel ein hohes Ansehen, und Hanf wurde beispielsweise gegen Husten und Gelbsucht eingesetzt. Detailliert wird auf die Wirkung von Hanf durch die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098 bis 1179) in ihrer Heilmittel- und Naturlehre «Physika» eingegangen, wo sie die Vorzüge der Substanz gegen Magenschmerzen hervorhebt, aber einschränkend – in weiser Voraussicht – bemerkt, dass nur solche, die «gesund im Hirn sind» davon profitieren. In den folgenden Jahren wurde Hanf noch in den meisten Kräuter- und Arzneibüchern erwähnt, und dies, obschon im Jahr 1484 Papst Innozenz VII. Cannabis verbot, weil er in dieser Pflanze ein unheiliges Sakrament der Satansmesse sah. Das Interesse an Cannabis und an Kräuterbüchern überhaupt, nahm im Zuge der Aufklärung ab. Erst nach der Veröffentlichung einer umfassenden Studie über die medizinische Anwendung der Pflanze im Jahr 1839 durch den in Kalkutta stationierten irischen Arzt William O’Shaughnessy fand Cannabis als «indischer Hanf» wieder Eingang in den europäischen Arzneischatz. In seiner Arbeit liefert er viele Beispiele für den Einsatz von Hanf bei Krampfzuständen, wie sie bei Tollwut, Cholera und Tetanus auftreten können. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Cannabis unter anderem bei Migräne, Neuralgien, epilepsieähnlichen Krämpfen und Schlafstörungen eingesetzt. Marihuana war, bis es im Jahr 1898 durch Aspirin und eine breite Palette neuer synthetischer Medikamente abgelöst wurde, das in Amerika am häufigsten eingesetzte Schmerzmittel. In Europa, aber auch in der Schweiz waren zwischen 1850 und 1950 über 100 Cannabismedikamente erhältlich. Dosierungsschwierigkeiten, paradoxe Wirkungen und die Entwicklung wirksamerer, intravenös applizierbarer Medikamente führten dann zu einer Abnahme von Cannabisverschreibungen. Aufgrund von Problemen bei der Qualitätskontrolle und politischem Druck in einer Welt zunehmenden Drogenmissbrauchs wurde Cannabis 1961 mit der Erklärung der Vereinten Nationen, dass Cannabis keine medizinische Wirkung besitze, aus den modernen westlichen Arzneibüchern verbannt. Glücklicherweise blieb es den Wissenschaftlern erlaubt, die Cannabis-Pflanze weiter zu erforschen. So gelang es bereits
1 Facharzt Neurologie FMH, Visp 2 Apotheker FPH, Langnau
wenige Jahre später, nämlich 1964, den israelischen Wissen-
schaftlern Yechiel Gaoni und Raphael Mechoulam, die che-
mische Struktur des Hauptcannabinoids, des psychoaktiven
Tetrahydrocannabinol (THC), aufzudecken. Dies nachdem
Mechoulam bereits 1963 dasselbe mit dem nicht psychoak-
tiven Cannabidiol (CBD) gelungen war. Die Entdeckung des
körpereigenen Endocannabinoidsystems und das Auffinden
der Cannabinoidrezeptoren zu Beginn der 1990er-Jahre war
dann ein weiterer Meilenstein in der Cannabisforschung, die
dadurch gewaltig intensiviert wurde. Im Zuge dieser neuen
Erkenntnisse haben verschiedenste Länder Anstrengungen
unternommen, Cannabispräparate oder Cannabinoide (THC
bzw. Dronabinol, CBD, Nabilon, Nabiximols) verkehrsfähig
zu machen. In den letzten Jahren war es vor allem das
Cannabisextrakt enthaltende Fertigarzneimittel Nabiximols
(Sativex®), das sich, nebst den Individualrezepturen (v. a. Dro-
nabinol), etablieren konnte.
Weltweit ist eine starke Tendenz zu erkennen, dass der Zu-
gang für die medizinische Verwendung von Cannabis libera-
lisiert wird, so auch in Deutschland, wo seit 2017 das
Verschreiben von THC-haltigen Hanfblüten möglich ist.
Grosse Hoffnungen werden zudem in das medizinische Po-
tenzial des nicht psychoaktiven CBD gesetzt, insbesondere
zur Behandlung von Epilepsie. Ein neuerlicher Schritt in diese
Richtung war die Zulassung des CBD-haltigen Medikaments
Epidyolex® zur Behandlung schwerer Epilepsieformen durch
die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA im Juni 2018.
Abschliessend zu diesem kurzen Rückblick sei erwähnt, dass
im November 2018 eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe der
WHO erneut die Risiken von Cannabis, THC und CBD detail-
liert untersucht hat. Sie kam zum Schluss, dass die aktuelle
Einstufung (Cannabis mit Heroin in derselben Gruppe!) nicht
mehr gerechtfertigt sei, und anerkannte gleichzeitig den me-
dizinischen Nutzen von Cannabis. Gemäss den Empfehlun-
gen der WHO sollen Cannabisblüten und Haschisch aus der
Liste der gefährlichsten Drogen, der Tabelle IV der Single
Convention, gestrichen werden und nur noch in der Liste der
weniger gefährlichen Drogen in der Tabelle I verbleiben.
CBD-Präparate sollen, solange der THC-Gehalt 0,2% nicht
übersteigt, gänzlich aus der Single Convention entfernt wer-
den. Der bekannte Cannabiswirkstoff THC soll in den Tabellen
der internationalen Drogenübereinkommen so verschoben
werden, dass seine medizinische Anwendung erleichtert
wird, nicht jedoch die Freizeitanwendung.
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Korrespondenzadresse: Dr. med. Claude Vaney, Facharzt Neurologie FMH
Torstrasse 6 3930 Visp
E-Mail: claudevaney@gmail.com
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
5/2023