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FORTBILDUNG
Erleichterter Zugang zu Cannabisarzneimitteln
Was bedeutet das für Verschreibende und Medizinfachpersonen?
Seit August 2022 können Cannabisarzneimittel von Ärztinnen und Ärzten ohne Ausnahmebewilligung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) verschrieben werden. Allerdings ist neben dem nötigen Fachwissen die Kostenübernahme nach wie vor eines der Hauptprobleme, woran die neue Gesetzgebung leider kaum etwas zu ändern vermag. Dieser vereinfachte Zugang zu Medizinalcannabis lässt eine höhere Anzahl an Patientinnen und Patienten erwarten, die diese Therapieoption in Anspruch nehmen möchten. Verschreibende und Pflegefachpersonen sollten auf diese Änderung durch gezielten Wissenstransfer, Fortbildungen und interprofessionellem Austausch vorbereitet werden.
Foto: zVg
Bea Goldmann
von Bea Goldman
Was führte zur Gesetzesänderung? Die Motion Kessler (Margrit Kessler, St. Galler Intensivpflegefachfrau und ehemalige Nationalrätin) ebnete den Weg für das neue Medizinalcannabisgesetz. Bis August 2022 zählte Cannabis gemäss Betäubungsmittelgesetz zu den verbotenen Substanzen. Cannabis durfte für medizinische Zwecke von Ärztinnen und Ärzten mit einer Ausnahmebewilligung des BAG verschrieben werden (in der Regel als Formula Magistralis). Vor etwa 5 Jahren gab das BAG zirka 3000 solcher Ausnahmebewilligungen aus. Bei 12 000 Sonderbewilligungen im Jahr 2021 konnte man kaum noch von Ausnahmebewilligungen ausgehen, und eine Gesetzesänderung drängte sich auf, um der Realität besser zu entsprechen. Deshalb wurde ein interprofessionelles Fachgremium eingesetzt, das durch eine grossangelegte Stakeholderbefragung im Auftrag des BAG einen Handlungsbedarf belegen konnte, dem diese Gesetzesänderung nun auch grösstenteils Rechnung trägt. Ärztinnen und Ärzte können neu Cannabisarzneimittel mit einem Betäubungsmittelrezept verschreiben, ohne einen zusätzlichen Antrag beim BAG stellen zu müssen. Das bedeutet, dass Entscheidungsfreiheit (keine limitierten Indikationen mehr) und Therapieregime nun vollständig in den Händen der Ärzteschaft liegen. Die zuständige regulierende Behörde ist neu Swissmedic. Diese hat eine Meldepflicht zur verordneten Therapie und Therapieverlauf über das, im BAG verortete, digitale Meldesystem MeCanna, als obligatorisch eingeführt. Man erhofft sich davon, prospektive Daten generieren zu können, die langfristig für Forschungsfragen und für etwaige Gesetzesanpassungen wertvoll sein können.
Was sind Cannabinoide und welches Potenzial haben sie? Durch die bahnbrechende Entdeckung des Endocannabinoidsystems (ECS) in den 1990er-Jahren war es erstmals möglich, Einblick in die Wirkungsweise von Cannabis, besonders dessen Hauptwirkstoff THC (Tetrahydrocannabinol) zu erhalten (1–3). Dem folgte ein regelrechter, immer noch anhaltender Forschungsboom. Fankhauser und Eigenmann (4) beschreiben das Endocannabinoidsystem als «ein hochkomplexes körpereigenes Regulationssystem, das im Nervensystem und in vielen weiteren Organen wichtige biologische Funktionen ausübt. Das ECS ist daran beteiligt, das Gleichgewicht (Homöostase) des Organismus aufrecht zu erhalten. Es wird bei Bedarf (zum Beispiel bei Stress) aktiviert, l um zu entspannen l um zu ruhen l um sich anzupassen und zu vergessen (Erholung
von internem und externem Stress) l um zu schützen (Reduktion von Entzündungen und
übermässiger Aktivität von Neuronen) l um zu essen (Erhöhung von Hunger, Essen, Energie-
speicher) Die Aktivierung des ECS erfolgt durch die Aktivierung von Cannabinoid-Rezeptoren (CB) durch körpereigene Substanzen (sogenannte Endocannabinoide), durch von aussen zugeführte Cannabinoide wie THC oder Cannabinoid-Mimetika». Vincenzo die Marzo (5) fasst es so zusammen: «Das ECS ist lebenswichtig, es vernetzt Prozesse, die steuern, wie wir ausruhen, essen, vergessen und uns schützen.» Das ECS ist also ein körpereigenes System, das reguliert, stabilisiert und das Gleichgewicht aufrechterhält.
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Auf der Website der Schweizerischen Fachgesellschaft für Cannabis in der Medizin www.sgcm-sscm.ch finden sich Therapieempfehlungen Medizinalcannabis aus der und für die Praxis sowie eine nicht vollständige Auswahl an Magistralrezepturen, THC/CBD, THC only und CBD only. www.sgcm-sscm.ch
Die bekanntesten der über 140 Cannabinoide, die wissenschaftlich untersucht und in der Praxis eingesetzt werden, sind THC und CBD.
Einsatzgebiete von THC und CBD THC und CBD können zur symptomatischen Therapie einer Vielzahl von Erkrankungen eingesetzt werden. Die Behandlung liegt in der Verantwortung der behandelnden Ärztinnen und Ärzte, sie entscheiden, für welche Indikationen es eingesetzt werden soll. Die wissenschaftliche Evidenz ist sehr unterschiedlich. Die Schweizerische Gesellschaft für Cannabis in der Medizin hat einige Anwendungsempfehlungen erarbeitet:
THC l Spastik bzw. Muskelkrämpfe; z. B. bei Multipler Skle-
rose, amyotropher Lateralsklerose, Querschnittslähmung, Zerebralparese, Morbus Parkinson, Morbus Alzheimer u. a. l chronische Schmerzen; z. B. neuropathische l Schmerzen, Tumorschmerzen, Schmerzen bei Polyarthritis, Fibromyalgie, Migräne, Kopfschmerzen u. a. l Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit und Abmagerung (z. B. bei Krebserkrankung) l neurologische Erkrankungen; z. B.Tourette-Syndrom, Restless-Legs-Syndrom, Dyskinesien u. a. l Glaukom l Schlafstörungen
CBD l frühkindliche, therapieresistente Epilepsieformen
(Dravet-Syndrom, Lennox-Gastaut-Syndrom) l Angststörungen und Panikattacken l chronische Entzündungen und Schmerzen l Ver-/Anspannungen l depressive Verstimmungen l Linderung von Symptomen beim Entzug von ande-
ren Medikamenten.
Die Wirkung von Cannabispräparaten ist sehr individuell und dosisabhängig. Die Non-Responder-Rate für THChaltige Cannabispräparate beträgt zirka 30%. Gemäss aktuellem Wissensstand beziehungsweise der vorhandenen Literatur kann eine Cannabismedikation nicht als First-Line-Behandlung empfohlen werden. Jede Anwendung ist zum aktuellen Zeitpunkt als ein individueller Therapieversuch zu betrachten, wenn die Guideline-konforme Behandlung nicht wirksam ist oder aufgrund von Nebenwirkungen nicht toleriert wird. Andererseits könnte man diskutieren, ob die geringe
Toxizität eine First-Line-Behandlung im Sinne von «keinen Schaden zufügen» rechtfertigen würde.
Kontraindikationen Als absolute Kontraindikationen für medizinische Cannabispräparate gelten eine Allergie oder Überempfindlichkeit auf Cannabis, THC bzw. CBD oder herstellungsbedingte Begleitstoffe (z. B. Erdnussöl bei Sativaöl 1%, Sesamöl bei Epidyolex®). Bei THC ist zudem eine strenge Indikationsstellung angebracht bei: l schwerwiegenden kardiovaskulären Erkrankungen
(manifeste koronare Herzkrankheiten, Herzrhythmusstörungen, Angina pectoris, Herzinfarkt u. a.) l schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankungen (v. a. Psychosen und Panikattacken, auch in der Anamnese) l manifeste oder ehemalige Suchterkrankung l Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren Von einer Anwendung von THC oder CBD in der Schwangerschaft und Stillzeit wird abgeraten. Die medizinische Fachinformation ist bezüglich Kontraindikationen und Nebenwirkungen bei registrierten Präparaten zwingend zu konsultieren.
Applikationsformen und Eindosierungsregime Bei der oralen Applikationsform trägt der First-Pass-Effekt dazu bei, dass dies die kostspieligste Option ist, da ein grosser Teil der Wirksubstanz durch die Leber abfiltriert und inaktiviert wird. Besonders aus Kostengründen und wegen eines schnelleren Wirkungseintritts wird derzeit dazu tendiert, Cannabislösungen sublingual zu verabreichen. Die Erfahrungen damit sind sehr gut, und interessanterweise zeigt sich in der Praxis der Schmerzbehandlung, vor allem bei Hochaltrigen oder moribunden Patienten, dass Microdosing (1–3 mg THC/Tag) schon effektiv sein können (6). Die Behandlung mit medizinischen Blüten, die in einigen Ländern bereits zugelassen ist, birgt etliche Stolpersteine und führt zu Fragen. Häufig wissen Patienten nicht richtig, wie sie die Cannabisblüten anwenden sollen, ob als Tee, als Kekse, geraucht oder durch «Basteln mit Öl». Dies und ein mangelnder Wirkeffekt führen oft dazu, dass ihre behandelnden Ärztinnen und Ärzte diese Option als nutzlos einstufen und davon abraten. Die Option Blütenverdampfen kann für eine bestimmte Patientengruppe sehr effizient sein, ist aber meist für ältere Menschen wegen des schnellen Wirkungseintritts eher mit Nebenwirkungen behaftet.
Wichtig zu wissen beim Verdampfen l Wirkungseintritt innert weniger Minuten l Maximale Wirkung innerhalb 5 Minuten (gut bei ein-
schiessender Spastik u/o Muskelkrämpfen, wenn eine Dauertherapie mit Lösungen nicht gewünscht oder nicht finanzierbar ist) l kontrollierte Therapie erschwert. Schnelles Anfluten der Cannabinoide, kein konstanter Wirkspiegel, schneller Wirkabfall nach 2 bis 3 Stunden l keine Freisetzung von Verbrennungsprodukten, da nur verdampft (bei zirka 180–200 Grad, der Lösungstemperatur für Cannabinoide). Beim Rauchen (Kiffen) werden dagegen toxische Verbrennungs-
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produkte freigesetzt. Cellulose verbrennt bei ca. 240 Grad l Handling aufwändig l kleiner Inhalator oder (medizinisch zugelassener) «Volcano» oder «Mighty» nötig, Kosten zirka 200 bis 500 Euro l Es können auch andere Pflanzen «inhaliert» werden, sofern die Verdampfungstemperatur bekannt ist In der Schweiz werden bereits Blüten zur inhalativen Therapie verschrieben und bieten so den Patienten grösstmögliche Sicherheit bezüglich der (medizinischen) Qualität (7). Bei der Eindosierung von medizinischen Cannabislösungen gilt «start low, go slow, stay low», das heisst, täglich in kleinen Schritten aufdosieren, bis die individuell wirksame Dosis erreicht ist (8). Nach 2 bis 3 Monaten kann eine «Therapiepause» gemacht werden. Zu einem späteren Zeitpunkt kann, falls nötig, wieder wie zu Beginn eindosiert werden. Oft ist dann eine geringere Dosis bereits ausreichend.
Interaktionen Wichtig sind in der Anwendung von Medizinalcannabis eine strenge Indikationsstellung, Monitorisierung und der Einbezug der Patienten und ihren Angehörigen, damit diese hinsichtlich möglicher Interaktionen gut beobachten können.
Wichtig zu wissen (9, 10): l Wirkungsverstärkung von Opiaten, sedierenden
Substanzen, Antidepressiva, Alkohol l Betablocker können die Herzfrequenzsteigerung
durch THC blockieren l THC kann die antiepileptische Wirkung der Benzo-
diazepine verstärken l THC kann augeninnendrucksenkende Medikamente
verstärken l THC kann die antipsychotische Wirkung von Neuro-
leptika reduzieren, eventuell kommt es zu einer besseren Ansprechbarkeit durch besseren Wachheitszustand l die Suchtentwicklung bei medizinisch indizierter Anwendung ist vernachlässigbar
Vorsicht: l NSAR und Aspirin können die THC-Wirkung beein-
trächtigen l in Kombination mit Amphetaminen, Adrenalin, Ko-
kain, Atropin ist ein Pulsanstieg möglich l unter CBD kann die INR kann schwerer einstellbar
sein
Nebenwirkungen Nebenwirkungen sind dosisabhängig und individuell unterschiedlich. International werden Benommenheit, Schwindel als häufigste Nebenwirkung angegeben. Daneben können Mundtrockenheit, Übelkeit, Kopfweh, Herzrasen, Zunahme des Appetits, gesteigerte Sinnesempfindungen bis Halluzinationen (individuell variabel), reduzierter oder erhöhter Antrieb, Einschränkung der Fahrtüchtigkeit (formelles Fahrverbot gilt bei Cannabis!), Euphorie oder Dysphorie, Angst, Panik bei stärkerer Überdosierung auftreten (11).
Was getan werden kann: Bei gleicher Dosierung bleiben, 1 bis 2 Tage mehr ruhen, ausreichend essen und trinken. So können die Nebenwirkungen verschwinden. Falls das nicht der Fall ist, kann die Tagesdosis um 1 mg THC reduziert werden (12).
Wildwest, Goldgräberstimmung und Gefahren im Cannabismarkt Schweiz Das Potenzial von Cannabisarzneimitteln, die Lebensqualität vor allem im Kontext chronischer Erkrankungen massiv zu verbessern, haben Patientinnen und Patienten schon vor längerer Zeit entdeckt. Hunderte von Foren zeigen darüber einen regen Austausch. Der bislang erschwerte Zugang sowie die exorbitant hohen Kosten von Medizinalcannabis (Magistralrezepturen) führten allerdings dazu, dass sich Patientinnen und Patienten häufig notgedrungen illegal mit Cannabis versorgten und in vielen Fällen immer noch versorgen müssen. Die gesundheitlichen Konsequenzen daraus können gravierend sein. In den vergangenen Jahren führte der Bezug über die Illegalität/Schwarzmarkt die Patienten zu Produkten, die oft verunreinigt waren (Pestizide, Fungizide, Herbizide, Schwermetalle) und bei denen die Dosierung infolge fehlender Angaben zu Qualität, Inhaltsstoffen und Konzentration medizinisch wirksamer Bestandteile schwierig war. Dies weil cannabishaltige Tinkturen unter dem Chemikaliengesetz (günstig) hergestellt wurden und somit nicht für den medizinischen Gebrauch zugelassen waren. Die nötigen Anforderungen für die medizinische Inverkehrssetzung wurden somit nicht erfüllt, und oft konnte man auf den diversen Produktverpackungen auch lesen «Nicht einnehmen». Ganz davon abgesehen gab es viele Hersteller, welche die schweizerische Limite von 1% THC (relevant für das Betäubungsmittelgesetz, BtM) geringfügig unterschritten und Tinkturen verkauften, die bis zu 0,9% THC enthielten. Dadurch kam es gerade bei uninformierter Anwendung in etlichen Fällen zu gesundheitlichen Schäden. Es durfte auch nicht informiert werden, da es untersagt ist, unter dem Chemikaliengesetz hergestellte Cannabislösungen als Heilmittel/Medikament zu verkaufen und eine Beratung anzubieten. In der Realität geschah jedoch genau das. In grossem Stil wurden durch Hunderte von neuen CBD-Firmen und CBD-Shops im Pseudo-Apotheken-Outfit Cannabislösungen verkauft. Das zeigte sich daran, dass Patienten mit diesen Ölen in die Beratung kamen und aufgeklärt werden mussten. Folge davon waren vor allem bei älteren Personen schwindelbedingte Stürzen mit Oberschenkelfrakturen/ Schädelverletzungen, Kopfschmerzen, Übelkeit usw. Denn die Betroffenen realisierten nicht, dass ihr «Schlafoder Schmerzöl» THC enthielt (da nur deklariert THC < 1% war), und dies bei falscher Dosierung Nebenwirkungen mit Folgen haben kann. Diese Gesetzeslücke wurde ebenfalls korrigiert: Die unter dem Chemikaliengesetz hergestellten cannabishaltigen Lösungen müssen nun neu vergällt werden, um sie so für den medizinischen Gebrauch ungeniessbar zu machen (13), was aber nicht bedeutet, dass diese Lösungen nicht wirksam sein können. Sie erfüllen einfach die gesetzlichen, qualitativen und sicherheitstechnischen Voraussetzungen (GACP, GMP, GDP, genaue Inhaltsangaben) für den medizinischen Einsatz nicht.
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Patienten haben sich organisiert Der wachsende Wissensstand der Patienten durch den regen Austausch im Bereich Cannabis als Medizin, die eingeschränkte Verfügbarkeit wegen der hohen Kosten von Medizinalcannabis als Therapieoption und der hohe Leidensdruck führte zur Gründung des Medical Cannabis Vereins Schweiz (Medcan). Dieser von Patienten initiierte und geführte Verein hat zum Ziel, den Austausch zwischen Betroffenen zu fördern, den Zugang und die Anwendung von Cannabisarzneimittel zu erleichtern sowie für das Thema gesellschaftlich und politisch zu sensibilisieren und voranzubringen. Zudem fordert der Verein, dass Gesundheitsfachpersonen umfassend zum Thema Cannabis als Arzneimittel aus- und weitergebildet werden. Der Verein Medcan ist deshalb auch aktiv im Vorstand der SGCM vertreten. Gründe der Patienten, Medcan beizutreten (gemäss Interview der Autorin mit Felix Iten, Vorstandsmitglied Medcan, Februar 2022): l Verzweifelte, hoffnungslose Patienten, die sich allein
gelassen fühlen, mit enormem Leidensdruck, denen gesagt wurde «man kann Ihnen nichts mehr bieten», «austherapiert, Sie müssen damit leben …», l Letzte Option, um Hilfe zu bekommen bei der Patientenvereinigung, da «sonst niemand Bescheid weiss» l Positive Fallbeispiele der Wirksamkeit von Cannabis bei vielen Beschwerden und bei verschiedenen Krebsarten, «inoffizielle» Informationen wie zum Beispiel hochdosiertes THC als Rektalapplikation bei Prostatakarzinom. Austausch und Hilfe in Forumsdiskussionen, Tipps aus Familie/Bekanntenkreis l Grosses Know How/Vernetzung/Solidarität vorhanden, meistens von Nicht-Medizinal Personen, die teilweise erstaunlich wirksame Präparate (illegal) herstellen l «leichterer» Zugang zu Cannabis als Medizin mit entsprechenden Risiken (z. B. fragliche Qualität, keine Standardisierung)
Welche Schnittmengen gibt es mit der Onkologie? Es gibt valide Gründe, die für den Einsatz von Medizinalcannabis bei onkologischen Patienten als Add-on-Therapie sprechen (14–16). Bei einer Chemotherapie kann es symptomatisch/adjuvant eingesetzt werden, beispielsweise bei Übelkeit, Brechreiz, Appetitlosigkeit, Schmerzen, Abmagerung, Diarrhö und Kopfschmerzen. Bei Tumor- oder Durchbruchschmerzen setzt der österreichische Arzt Dr. Kurt Blaas Medizinalcannabis ein.
Weiterführende Literatur:
● Cannabis. Ein Handbuch für Wissenschaft und Praxis, Cannabis Andreas S. Ziegler (Herausgeber) 2022
● Cannabis in der Medizin, Geschichte, Praxis, Perspektiven. Fankhauser & Eigenmann, 2020, Nachtschatten Verlag
● Handbook of Cannabis. R. Pertwee , 2014 ● Cannabis – Was man weisss und was man wissen sollte. P. Cremer Schaeffer ● Handbuch Cannabismedizin.
https://praxis-suchtmedizin.ch/index.php/de/cannabis
Das zum Teil ungünstige Nebenwirkungsprofil neurologischer Analgetika kann in vielen Fällen therapielimitierend sein und die Behandlungsoptionen einschränken. (17). In der Praxis zeigte sich Medizinalcannabis (Tagesdosis 3–6mg THC) nach chemotherapiebedingten Nervenschädigungen und -schmerzen, beim oft unterbehandelten Burning-Hand-and-Feet-Syndrom (18), trotz insuffizienter klinischer Evidenz als eine erfolgversprechende Option, wie Real-World-Daten am Zentrum für Integrative Medizin am Kantonsspital St. Gallen (2009–2016) zeigen. Dies bei adäquater Einstellung, sublingual angewendet, praktisch ohne Nebenwirkungen. Der Einsatz von Medizinalcannabis kann helfen, die Lebensqualität vor, während und nach der Chemotherapie/Bestrahlung zu verbessern (19, 20) und den Bedarf an Opiaten (21, 22) wie auch von Antidepressiva (22) zu senken. Es kann durch innere Distanzierung und rationaleren Zugang (THC bedingt) die Verarbeitung und Bewältigung der Situation erleichtern, den Schlaf besser initialisieren und die Schlafdauer und -tiefe verbessern, die Muskelentspannung fördern, den Appetit steigern, die Übelkeit und die Angst reduzieren. Im Vergleich zum potenziellen Benefit ist die Toxizität gering, das Nebenwirkungsprofil günstig, womit ein Therapieversuch zu rechtfertigen ist (20). Dr. Ethan B. Russo sieht cannabisbasierte Medikamente sogar als First-Line-Therapie in der Behandlung in der Behandlung von Spastik und von Chemotherapie-assoziierter Übelkeit und Erbrechen. Er erwartet, dass Cannabis schnell an Bedeutung in der Behandlung von therapieresistenter Epilepsie gewinnen wird (23). Bei therapiebedingten Hautproblemen (schmerzende Stellen, Rötungen) durch Bestrahlung kann zum Beispiel eine CBD-Creme 20% helfen, Schmerzen oder Entzündungen zu reduzieren, was am Cannabis-Kongress 2022 in Basel zu erfahren war (24, 25). Auch im Sterbeprozess kann Medizinalcannabis, rechtzeitig eingesetzt, Leiden reduzieren, so etwa bei Muskelkrämpfen, Spastik, Atemnot, Schlaflosigkeit, Angst. Am Basler Kongress beschrieb eine Pädiaterin das hilfreiche Potenzial von Medizinalcannabis bei sterbenden Kindern (26). Spanische Teams beschrieben den kausalen Einsatz (als Add-on) von CBD bei bestimmten Mammakarzinomen (Hemmung von Frühmetastasierung) und Hirntumoren. Vielversprechende Erkenntnisse aus diesen Pilotstudien und weiterführende Forschung geben Anlass zur Hoffnung (27–29). Was in der Medizinalcannabis-Beratung von onkologischen Patienten oft geäussert wird, ist die Angst, darüber mit den Onkologen zu sprechen. Betroffene verschweigen die Einnahme von Cannabis gegenüber den Onkologen aus Angst, keine Therapie mehr zu erhalten bzw. nicht mehr betreut zu werden, weil ihre Behandler dagegen sind oder äussern, dass sie nur etwas einsetzen, was sie kennen. Ganz davon abgesehen kann die Einnahme von Cannabis ein Ausschlusskriterium für onkologische Studien sein, worauf die Betroffenen ihre ganze Hoffnung setzen. Es gibt in der Literatur jedoch Hinweise, dass Cannabis einen Einfluss auf die Wirksamkeit von Therapeutika haben kann, im Sinn einer Wirkungsverstärkung oder aber je nach Rezeptormechanismus des Tumors auch kontraindiziert sein kann (2, 9). In jedem Falls lohnt es sich, einen erfahrenen Cannabis-Pharmazeuten beizuziehen, um eine seriöse Abklä-
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rung vorzunehmen. Das führt zu einer grösseren Therapiesicherheit und beruhigt Betroffene.
Cannabisforschung Obwohl die Anzahl der medizinischen Cannabispublikationen in den letzten Jahren explodiert, gibt es immer noch enormen Forschungsbedarf. Eine der grossen Herausforderungen ist, dass Forschungsfragen anders gedacht werden müssen. Mechanistisches, binäres Denken führt, wie in der Vergangenheit gesehen, kaum zum Erfolg. Davon abgesehen ist das Interesse der Industrie, in die Cannabisforschung zu investieren eher gering, auch begründet durch die minime Chance auf einen potenziellen Blockbuster und Patentierbarkeit einer Pflanze. Forschungsarbeiten kranken zudem an unpassenden Designs, nicht standardisierten Lösungen, inhomogenen oder zu kleinen Populationen, unterschiedlichen Applikationsformen und nicht angepassten Dosierungen (1, 2). Dies führt zu einer Nichtvergleichbarkeit der Daten und steht oft in krassem Gegensatz zu den wachsenden, häufig vielversprechenden Real World-Daten, die bisher aber nicht systematisch erfasst wurden. Diese Situation soll sich nun mit dem MeCanna (30) Erfassungstool des BAG zumindest datentechnisch verbessern.
Die Rolle der Pflegefachpersonen Pflegefachpersonen waren bislang in ihrer klinischen Praxis unregelmässig mit der Anwendung von Cannabisarzneimitteln konfrontiert. Es kommt zwar je nach Setting immer wieder zu Betreuungssituationen, in denen sich Patienten mit chronischen Erkrankungen mit Cannabis selbst therapieren, im Behandlungsplan wird das aber oftmals ausgeklammert. Ein Grund dafür ist, dass auch Ärzte häufig über wenig Wissen zum Anwendungsgebiet sowie zur Indikation und Dosierung von Cannabisarzneimittel verfügen. Zudem finden sich bei Gesundheitsfachpersonen mitunter Vorbehalte betreffend Anwendung der Substanz. Mit der eingangs erwähnten Gesetzesänderung und der verstärkten Forderung von Patientenseite ist davon auszugehen, dass die Verschreibungsrate von Cannabisarzneimitteln in den nächsten Jahren deutlich zunehmen wird. Die Rolle der Pflegefachpersonen wird in diesem Kontext zunehmend wichtiger – vor allem in der Beratung von Patienten und ihren Angehörigen können sie eine Schlüsselposition einnehmen. Aspekte der pflegerischen Beratung können unter anderem Fragen rund um die Indikation, Dosierung und Einnahmeform von Cannabisarzneimittel sein. Ferner können Pflegefachpersonen Verantwortung beim Monitoring der Cannabistherapie übernehmen, um beispielsweise unerwünschte Arzneimittelwirkunge zu erfassen, um diesen frühzeitig entgegentreten zu können. In mehreren Schweizer Hospizen (St.Gallen, Brugg, Luzern) und mobilen Palliativdiensten wird zum Lebensende vermehrt Medizinisches Cannabis erfolgreich zur Verbesserung der Lebensqualität eingesetzt. Dies lässt auf ein steigendes Bedürfnis aber auch grössere Akzeptanz aller Beteiligten schliessen. Eine strukturierte interprofessionelle Abstimmung ist hier unerlässlich, sodass das Potenzial der Therapie ausgeschöpft werden kann und gleichzeitig auch die Verschreibenden entlastet werden könnten. Grundlage dafür ist allerdings eine fundierte Fortbildung. Vor-
Merkpunkte:
● Interprofessionalität ist wichtig. ● Gute Patienteninformation (auch für Angehörige) dient der Angstreduktion. ● Das Suchtpotenzial ist vernachlässigbar. ● Therapietreue einfordern und überwachen. ● Frühzeitiges Abklären bezüglich Indikationen/Interaktionen. ● Dosierungsregime «Start low, go slow, stay low». ● Cannabis hat im Vergleich zur geringen Toxizität ein enormes Nutzenpotenzial,
auch zur Verbesserung der Lebensqualität der verbleibenden Zeit.
standsmitglieder der Schweizerischen Gesellschaft für Cannabis in der Medizin haben gemeinsam mit Vertreterinnen des Departements Gesundheit der OST-Ostschweizer Fachhochschule eine interprofessionelle Fortbildung entwickelt, die gezieltes Wissen zum Thema Cannabis als Arzneimittel vermittelt
Fazit Die Therapie mit Cannabisarzneimittel ist vielversprechend. Bei zahlreichen Erkrankungen und Symptomen konnte bereits eine Wirksamkeit zur Linderung nachgewiesen werden. Trotz unzureichender Evidenz sollte nicht nur Palliativpatienten mit therapierefraktären Symptomen eine potenziell hilfreiche Therapieoption mit Medizinal-Cannabis erhalten. Zu berücksichtigen ist der Umstand, dass es sich um kein «Wundermittel» handelt, das bei jedem Patienten hilft. Durch die Änderung der Gesetzeslage und durch die zunehmende Forderung von Patientenseite wird die Therapie mit Cannabisarzneimittel in den nächsten Jahren markant zunehmen. Vertieftes Wissen und interprofessionelle Kooperationsbereitschaft aller beteiligten Gesundheitsfachpersonen ist daher notwendig l
Korrespondenzadresse: Bea Goldman MSc
Medical Cannabis Nurse RN Intensive Care ALS Care Expertin
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